Eugen Richter
1838-1906







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Eugen Richter für umfassende Religionsfreiheit
 


Reichstag, 5. Dezember 1900

 
 
 
Vizepräsident Dr. v. Frege-Weltzien: Das Wort hat der Herr Abgeordnete Richter.

Richter, Abgeordneter: Ich muß es mit dem Herrn Abgeordneten Lieber als Fortschritt anerkennen, daß der Bundesrath sich diesmal an der Berathung eines Initiativantrags betheiligt. Es ist damit die schlechte Praxis durchbrochen worden, welche im letzten Abschnitt der Regierung des Fürsten Bismarck eingeführt worden ist, sich an solchen Verhandlungen nicht zu betheiligen. Diese Enthaltsamkeit entspricht meines Erachtens nicht dem natürlichen Verhältniß zwischen Bundesrath und Reichstag, der gemeinsamen Ausgabe, welche beiden Faktoren in der Fortbildung der Gesetzgebung obliegen.

(Sehr richtig! links.)

Ich nehme an, daß die verehrten Herren am Bundesrathstisch auch weiterhin nicht nur körperlich anwesend sind, sondern sich auch an der Debatte betheiligen. Indessen, die Herren sind aus der bisherigen Praxis allzu sehr ins Gegentheil verfallen. Der Herr Reichskanzler hat sich an der Diskussion betheiligt durch eine Erklärung, noch bevor der Herr Antragsteller seinen Antrag begründet hat. Das finde ich auch nicht ganz richtig. Meine Herren, ich befand mich beim Beginn der Sitzung in den Wandelgängen, und als die Sturmglocke ertönte und es hieß, der Herr Reichskanzler würde sofort das Wort ergreifen, da nahm man so wenig an, daß der Herr Reichskanzler zu Beginn dieser Debatte das Wort ergreifen würde, daß es allgemein hieß: aha, er würde vor der Tagesordnung eine Erklärung abgeben wegen des Verhaltens gegenüber dem Präsidenten Krüger.

(Große, anhaltende Heiterkeit.)

Nun, meine Herren, es ist anders gekommen! Ich unterscheide sehr scharf zwischen der formellen Seite bei diesen Erörterungen und dem materiellen Inhalt des Antrags selbst. Was die formellen Einwendungen anbetrifft, so halte ich die gänzlich für unberechtigt und stehe in dieser Beziehung auf dem Standpunkt des Zentrums. Bei der materiellen Seite der Sache ist dies nicht in dem Maß der Fall. Was die Einwendungen betrifft wegen der Erweiterung der Zuständigkeit des Reichs, so kann man sagen: rechter Hand, linker Hand, alles vertauscht. Früher die Zentrumspartei eifrig gegen jede Erweiterung der Zuständigkeit des Reichs und die Nationalliberalen mit uns in mancher Beziehung für die Erweiterung der Zuständigkeit. Jetzt ergreift das Zentrum die Initiative zu einer erheblichen Erweiterung der Zuständigkeit; die nationalliberale Partei, wenn ich den Herrn Abgeordneten Bassermann recht verstanden habe, lehnt nicht gerade grundsätzlich dies ab, erweist sich doch aber schwierig und hat eigentlich nur die frommen Wünsche für die Landesgesetzgebung. Vielleicht können die Herren ein Kompromiß mit einander schließen: das Zentrum unterstützt uns bei der Wiedereinbringnng des Antrags Büsing, und auf unserer Seite läßt man die formellen Einwendungen gegen die Erweiterung der Zuständigkeit in kirchenpolitischen Sachen fallen.

Es ist nicht richtig, daß eine solche Gesetzgebung, abgesehen vom Inhalt, ich meine in der Ausdehnung, wie sie hier beantragt wird, zum Einheitsstaat führt. Nein, ich bin nicht Unitarier, ich bin entschieden Gegner des Einheitsstaates; aber ich halte solche grundsätzliche Bestimmungen an sich mit dem föderativen Prinzip durchaus vereinbar. Wir haben den Standpunkt zusammen mit der bundesstaatlichen konstitutionellen Fraktion, die das föderative Prinzip im Jahre 1867 im konstituirenden Reichstag besonders auf ihre Fahne geschrieben hat, damals bethätigt in der Unterstützung von Anträgen, gewisse Artikel der preußischen Verfassungsurkunde über kirchenpolitische Dinge in die Reichsverfassung aufzunehmen.

Meine Herren, man kann sich meines Erachtens auf die Kolonien in dieser Frage wenig berufen; denn die Regelung der Dinge in den Kolonien greift in die Autonomie der Einzelstaaten nicht ein, weil diese ja direkt nur der Reichsgewalt unterstellt sind. Es ist aber auch unrichtig, zu sagen: wenn das Reich solche Bestimmungen trifft, so geht damit die Kirchenhoheit der Einzelstaaten verloren. Das ist so wenig richtig, als wenn man aus der wirthschaftspolizeilichen Gesetzgebung des Reiches folgern wollte: die Polizeihoheit der Einzelstaaten ist damit aufgehoben. Das Jesuitengesetz, das Expatriirungsgesetz haben — das läßt sich nicht leugnen — sehr tiefe Einschnitte in kirchenrechtliche Fragen gethan; und wenn man auch formell, vielleicht unter Bezugnahme auf das Freizügigkeitsgesetz, dies rechtfertigen kann, so ist hier doch thatsächlich ein großer Eingriff in kirchenpolitische Dinge vollzogen worden.

Aber, meine Herren, das beste Argument für die Zulässigkeit giebt das Reichsgesetz von 1869, noch mehr, als der Herr Abgeordnete Lieber das angezogen hat.  Wir sind stolz darauf, daß dies Gesetz der Initiative der Fortschrittspartei, namentlich des Abgeordneten Moritz Wiggers aus Mecklenburg, seine Entstehung verdankt, und ein konsequentes, wiederholtes Beantragen in dieser Richtung von 1867 ab hat 1869 einen Erfolg gehabt. Dies Gesetz nimmt ein Stück aus dem Art. 12 der preußischen Verfassung in das Reichsrecht hinüber, — ein Stück aus demselben Art. 12, den im übrigen der Antrag des Zentrums in die Reichsgesetzgebung übertragen will.

Wenn man von einem Eingriff in Autonomie sprechen will, so ist der Eingriff der Bestimmung des Gesetzes von 1869 viel stärker, als irgend einer gedacht werden kann; denn dies Gesetz ordnet die Gleichstellung in allen bürgerlichen und politischen Rechten an, und nicht bloß, soweit es sich um bürgerliche und politische Rechte aus der Reichsgesetzgebung handelt, sondern auch, soweit es sich um solche Rechte aus der Landesgesetzgebung handelt. Also ein praktisches Beispiel: bis zu diesem Gesetz konnten in Preußen Juden nicht in den Kreistag gewählt werden; das ist durch dies Gesetz erst beseitigt worden, — ein Beispiel, daß ein solches Gesetz selbst in die Kreisordnung eines Einzelstaates eingriff.

Meine Herren, was nun die Frage betrifft, wie weit ein solcher Antrag mit der Verfassung zu vereinbaren ist, so bin ich in dieser Beziehung immer für die strengste Auffassung. Ich bin allerdings der Meinung, daß man ausdrücklich sagen muß: die Verfassung wird dadurch abgeändert, sei es in demselben Gesetz, sei es durch ein besonderes Gesetz, welchem die Verfassungsveränderung vorhergehen muß. So haben wir es nach meiner Erinnerung auch in den meisten Fällen gehalten, und manchmal ist aus der Initiative des Reichstags eine solche Verfassungsänderung ausdrücklich zum Ausdruck gekommen, wo die Regierung das nicht gethan hat.


Ich komme dann zu der materiellen Seite des Antrages, und da mache ich einen scharfen Unterschied zwischen dem ersten Abschnitt und dem zweiten Abschnitt. Dem ersten Abschnitt, der die individuelle Religionsfreiheit anbetrifft, stehen wir durchaus freundlich gegenüber. Dem ersten Paragraphen, der aus Art. 12 der preußischen Verfassung herübergenommen wird, würden wir ohne weiteres zustimmen. Was die folgenden Paragraphen des ersten Abschnitts anbetrifft, so sind dieselben von geringerer Bedeutung, sind uns in den Einzelheiten nicht völlig klar. Ich glaube, es ist auch falsch, jetzt darauf einzugehen. Haben die Bestimmungen über den Austritt, wie es scheint, den Zweck, die Formalität zu vereinfachen, die in dem preußischen Gesetz beispielsweise noch vorhanden ist, so würden wir das als einen Fortschritt ansehen. Ich würde vom Standpunkt des Zentrums versuchen, den ersten Paragraphen zum Gesetz zu erheben, und ich zweifle gar nicht, daß Sie, wenn nicht in diesem Jahre, doch alsbald ebenso Erfolg damit erzielen würden, wie dies seiner Zeit der Fall gewesen ist bei dem Paragraphen, der die Gleichstellung in den bürgerlichen und politischen Rechten durch das Gesetz von 1869 erzielte. Was nun den zweiten Abschnitt anbetrifft, so hat der Abgeordnete Lieber die Erwartung ausgesprochen, daß sich daraus keine gegenseitigen Rekriminationen in konfessioneller Hinsicht ergeben würden, keine religiösen und konfessionellen Gegensätze hier in den Verhandlungen zum Ausdruck kämen. Aber, meine Herren, dieser zweite Abschnitt zieht alle nur irgend denkbaren kirchenpolitischen Streitfragen aus den Einzelstaaten vor den Reichstag

(sehr richtig! links),

und die Erfahrung zeigt, daß, wo dies der Fall ist, auch die Verhandlungen sehr leicht einen derartigen Charakter annehmen, wie ihn der Abgeordnete Lieber vermeiden wollte. Meine Herren, Sie haben dies auch gleich erfahren in der Rede des Herrn Abgeordneten v. Vollmar, die eine Kritik katholischer Lehren und katholischer Einrichtungen enthielt. Ich kann das nicht einmal tadeln, denn es ist gewissermaßen provozirt worden durch die Art, wie in der Zentrumspresse dieser Antrag als ein sogenannter „Toleranzantrag“ gefeiert wurde

(sehr richtig! links);

und wenn nun seitens des Zentrums, wie es wahrscheinlich ist, aus diese kritischen Ausführungen gegen katholische Lehre und Einrichtungen eine Erwiderung erfolgt, so haben wir sehr bald die heiße Temperatur in diesem Saale, deren ich mich erinnere aus den Verhandlungen des preußischen Abgeordnetenhauses in den siebziger Jahren.

(Sehr richtig! links.)

Meine Herren, wir erkennen in diesem zweiten Abschnitt keine Toleranz, sondern Intoleranz

(sehr richtig! links),

aus dem Grunde, weil alle Freiheiten verlangt werden nur für die anerkannten Kirchen, und man alles übrige durchaus lassen will, wie es ist. Unter „anerkannte“ Kirchen sind, soviel ich das verstehe, die römisch-katholische, vielleicht auch die altkatholische Kirche, die evangelische Kirche und die jüdische Religionsgemeinschaft verstanden.

(Zuruf .)

— In Preußen auch die Altkatholiken, anderswo wohl nicht; daraus würden schon verschiedene Rechtszustände entstehen. — Was aber alle die Abzweigungen aus diesen Religionsgemeinschaften, was alle sonstigen religiösen Vereinigungen anbetrifft, so bleibt alles, wie es ist; sie bleiben in derselben Rechtlosigkeit, die für sie vorhanden ist. Vielfach genießen sie ja nicht einmal die Vereinsfreiheit in vollem Umfange. Der Herr Abgeordnete v. Vollmar hat mit Recht darauf hingewiesen: was wollen alle Ihre Beschwerden aus Bayern, Braunschweig und Sachsen sagen gegenüber der Klage der Dissidenten in Preußen, daß ihre Kinder zwangsweise angehalten werden, dem Religionsunterricht einer Konfession beizuwohnen, die die Eltern verabscheuen!

(Sehr richtig! links.)

Und nicht nur das; die Behörde nimmt sich sogar das Recht heraus, die Kinder mal abwechselnd dem katholischen oder evangelischen Religionsunterricht, je nachdem sie glaubt, daß es richtig sei, zuzuweisen. Meine Herren, die Geschichte der Freireligiösen, der Dissidenten ist eine wahre Leidensgeschichte

(sehr richtig! links);

und wenn man keinen Titel des Gesetzes findet, den man gegen sie gebrauchen kann, so sagt man — und das spreche ich aus den Wahrnehmungen der Praxis heraus —: gewiß, es besteht Religionsfreiheit, aber ihr habt ja überhaupt keine Religion, Und deshalb kann auch die Religionsfreiheit für euch nicht gelten. Man konstruirt dabei von Obrigkeits wegen einen Normalbegriff von Religion und sagt: alle Bestimmungen von Religionsfreiheit finden aus diejenigen keine Anwendung, deren Bestrebungen sich nicht unter diesen Normalbegriff von Religion bringen lassen. Wir, meine Herren, wir sind der Meinung, daß, je mehr man die Freiheiten der anerkannten Religionsgemeinschasten erweitert, dadurch um so mehr herabgesetzt und herabgedrückt werden alle diejenigen Gemeinschaften, die nicht zu den anerkannten gehören. Dieselben stehen dann gegenüber den Religionsgemeinschaften, die schon durch ihre große Ausdehnung ein starkes soziales Uebergewicht haben; das fällt oft mehr ins Gewicht als alle rechtlichen Befugnisse, und der Mangel aller rechtlichen Befugnisse drückt sie dann noch mehr herunter. Meine Herren, da ist dann von einem freien Kampfe der Geister thatsächlich nicht mehr die Rede.

(Sehr richtig! links.) 

Wir wollen nicht bloß den freien Austritt aus einer anerkannten Kirche, sondern wollen auch, daß der Ausgetretene sich einer Gemeinschaft anschließen und darin diejenigen Ansichten bethätigen kann, die seinem eigenen Glauben, seiner eigenen Ueberzeugung entsprechen. Unser Programm geht dahin: gleiches Recht für alle Bekenntnisse, nicht bloß für die Bekenntnisse der anerkannten Religionsgemeinschaften.

(Sehr gut! links.)

Wir wollen nicht, daß die Erlangung von Rechten abhängig wird von einer Anerkennung, d. h. von einer Konzession der Obrigkeit, von einer Abstempelung des Bekenntnisses, welches einer Religionsgemeinschaft unterliegt. Wir verlangen die volle Vereinsfreiheit; denn die polizeilichen Beschränkungen des Vereinswesens sind auch ein Hinderniß für alle kleinen Gemeinschaften. Wir verlangen, daß die juristische Persönlichkeit erworben werden kann für alle Gemeinschaften, die gewisse Normativbedingungen erfüllen, Normativbedingungen, die durch den Geist der Toleranz diktirt sein müssen.

(Sehr richtig! links.)

Wir verlangen, daß in solchen Korporationen dem wirklichen Korporationswillen Geltung verschafft wird, und daß das einzelne Korporationsmitglied auch einen Rechtsschutz gegen den Korporationswillen unter Umständen erlangen kann. Wir wollen keinerlei staatliche Zuwendungen für irgend eine Religionsgemeinschaft — denn das ist auch mit der Gleichberechtigung nicht verträglich — und keine starke Hand des Staates, es sei denn diejenige, die allen Vereinigungen zu theil wird, die sittliche Bestrebungen verfolgen. Wir wollen, daß die religiösen Gemeinschaften ihre Thätigkeit nicht erstrecken auf solche Gebiete, die ihrer Natur nach in der öffentlichen Fürsorge, dem bürgerlichen Gemeinwesen vorbehalten sein müssen. Nur, meine Herren, in dem Maße, wie Sie diese Vorbedingungen erfüllen, wie die Gleichberechtigung aller Bekenntnisse zur Wahrheit wird, in dem Maße sind wir geneigt, weitgehende Freiheiten in der geschilderten Art gleichmäßig allen Bekenntnissen zukommen zu lassen.

(Bravo! links.)