Vizepräsident
Dr. v. Frege-Weltzien: Das Wort hat
der Herr
Abgeordnete Richter. Richter,
Abgeordneter: Ich muß es mit
dem Herrn Abgeordneten
Lieber als Fortschritt anerkennen, daß
der Bundesrath sich diesmal an der
Berathung eines Initiativantrags betheiligt.
Es ist damit die schlechte Praxis
durchbrochen worden, welche im letzten
Abschnitt der Regierung des Fürsten
Bismarck eingeführt worden ist, sich an
solchen Verhandlungen nicht zu
betheiligen. Diese Enthaltsamkeit entspricht
meines Erachtens nicht dem
natürlichen Verhältniß
zwischen Bundesrath und Reichstag, der
gemeinsamen
Ausgabe, welche beiden Faktoren in der
Fortbildung der Gesetzgebung obliegen.
(Sehr richtig!
links.)
Ich nehme an,
daß die verehrten Herren am
Bundesrathstisch
auch weiterhin nicht nur körperlich
anwesend sind, sondern sich auch an der
Debatte betheiligen. Indessen, die Herren sind
aus der bisherigen Praxis allzu
sehr ins Gegentheil verfallen. Der Herr
Reichskanzler hat sich an der
Diskussion betheiligt durch eine
Erklärung, noch bevor der Herr
Antragsteller
seinen Antrag begründet hat. Das finde
ich auch nicht ganz richtig. Meine
Herren, ich befand mich beim Beginn der
Sitzung in den Wandelgängen, und als
die Sturmglocke ertönte und es
hieß, der Herr Reichskanzler würde
sofort das
Wort ergreifen, da nahm man so wenig an,
daß der Herr Reichskanzler zu Beginn
dieser Debatte das Wort ergreifen würde,
daß es allgemein hieß: aha, er
würde
vor der Tagesordnung eine Erklärung
abgeben wegen des Verhaltens gegenüber
dem
Präsidenten Krüger.
(Große,
anhaltende Heiterkeit.)
Nun, meine
Herren, es ist anders gekommen! Ich
unterscheide
sehr scharf zwischen der formellen Seite bei
diesen Erörterungen und dem
materiellen Inhalt des Antrags selbst. Was die
formellen Einwendungen anbetrifft,
so halte ich die gänzlich für
unberechtigt und stehe in dieser Beziehung auf
dem Standpunkt des Zentrums. Bei der
materiellen Seite der Sache ist dies nicht
in dem Maß der Fall. Was die
Einwendungen betrifft wegen der Erweiterung
der
Zuständigkeit des Reichs, so kann man
sagen: rechter Hand, linker Hand, alles
vertauscht. Früher die Zentrumspartei
eifrig gegen jede Erweiterung der
Zuständigkeit des Reichs und die
Nationalliberalen mit uns in mancher Beziehung
für die Erweiterung der
Zuständigkeit. Jetzt ergreift das Zentrum
die Initiative
zu einer erheblichen Erweiterung der
Zuständigkeit; die nationalliberale
Partei, wenn ich den Herrn Abgeordneten
Bassermann recht verstanden habe, lehnt
nicht gerade grundsätzlich dies ab,
erweist sich doch aber schwierig und hat
eigentlich nur die frommen Wünsche
für die Landesgesetzgebung. Vielleicht
können die Herren ein Kompromiß mit
einander schließen: das Zentrum
unterstützt
uns bei der Wiedereinbringnng des Antrags
Büsing, und auf unserer Seite
läßt man
die formellen Einwendungen gegen die
Erweiterung der Zuständigkeit in
kirchenpolitischen Sachen fallen.
Es ist nicht richtig, daß eine solche
Gesetzgebung,
abgesehen vom Inhalt, ich meine in der
Ausdehnung, wie sie hier beantragt wird,
zum Einheitsstaat führt. Nein, ich bin
nicht Unitarier, ich bin entschieden
Gegner des Einheitsstaates; aber ich halte
solche grundsätzliche Bestimmungen
an sich mit dem föderativen Prinzip
durchaus vereinbar. Wir haben den
Standpunkt zusammen mit der bundesstaatlichen
konstitutionellen Fraktion, die
das föderative Prinzip im Jahre 1867 im
konstituirenden Reichstag besonders auf
ihre Fahne geschrieben hat, damals
bethätigt in der Unterstützung von
Anträgen,
gewisse Artikel der preußischen
Verfassungsurkunde über kirchenpolitische
Dinge
in die Reichsverfassung aufzunehmen.
Meine Herren, man kann sich meines
Erachtens auf die Kolonien in dieser Frage
wenig berufen; denn die Regelung der
Dinge in den Kolonien greift in die Autonomie
der Einzelstaaten nicht ein, weil
diese ja direkt nur der Reichsgewalt
unterstellt sind. Es ist aber auch
unrichtig, zu sagen: wenn das Reich solche
Bestimmungen trifft, so geht damit
die Kirchenhoheit der Einzelstaaten verloren.
Das ist so wenig richtig, als
wenn man aus der wirthschaftspolizeilichen
Gesetzgebung des Reiches folgern
wollte: die Polizeihoheit der Einzelstaaten
ist damit aufgehoben. Das Jesuitengesetz,
das Expatriirungsgesetz haben — das
läßt sich nicht leugnen — sehr
tiefe
Einschnitte in kirchenrechtliche Fragen
gethan; und wenn man auch formell,
vielleicht unter Bezugnahme auf das
Freizügigkeitsgesetz, dies rechtfertigen
kann, so ist hier doch thatsächlich ein
großer Eingriff in kirchenpolitische
Dinge vollzogen worden.
Aber, meine Herren, das beste Argument
für die
Zulässigkeit giebt das Reichsgesetz von
1869, noch mehr, als der Herr
Abgeordnete Lieber das angezogen hat.
Wir
sind stolz darauf, daß dies Gesetz der
Initiative der Fortschrittspartei,
namentlich des Abgeordneten Moritz Wiggers aus
Mecklenburg, seine Entstehung
verdankt, und ein konsequentes, wiederholtes
Beantragen in dieser Richtung von
1867 ab hat 1869 einen Erfolg gehabt. Dies
Gesetz nimmt ein Stück aus dem Art.
12 der preußischen Verfassung in das
Reichsrecht hinüber, — ein Stück aus
demselben Art. 12, den im übrigen der
Antrag des Zentrums in die
Reichsgesetzgebung übertragen will.
Wenn man von einem Eingriff in Autonomie
sprechen will, so ist der Eingriff der
Bestimmung des Gesetzes von 1869 viel
stärker, als irgend einer gedacht werden
kann; denn dies Gesetz ordnet die
Gleichstellung in allen bürgerlichen und
politischen Rechten an, und nicht
bloß, soweit es sich um bürgerliche
und politische Rechte aus der
Reichsgesetzgebung handelt, sondern auch,
soweit es sich um solche Rechte aus
der Landesgesetzgebung handelt. Also ein
praktisches Beispiel: bis zu diesem
Gesetz konnten in Preußen Juden nicht in
den Kreistag gewählt werden; das ist
durch dies Gesetz erst beseitigt worden, — ein
Beispiel, daß ein solches Gesetz
selbst in die Kreisordnung eines Einzelstaates
eingriff.
Meine Herren, was nun
die Frage betrifft, wie weit ein solcher
Antrag mit der Verfassung zu
vereinbaren ist, so bin ich in dieser
Beziehung immer für die strengste
Auffassung. Ich bin allerdings der Meinung,
daß man ausdrücklich sagen
muß: die
Verfassung wird dadurch abgeändert, sei
es in demselben Gesetz, sei es durch
ein besonderes Gesetz, welchem die
Verfassungsveränderung vorhergehen
muß. So
haben wir es nach meiner Erinnerung auch in
den meisten Fällen gehalten, und
manchmal ist aus der Initiative des Reichstags
eine solche Verfassungsänderung
ausdrücklich zum Ausdruck gekommen, wo
die Regierung das nicht gethan hat. Ich komme dann
zu der materiellen Seite des Antrages, und da
mache ich einen scharfen Unterschied zwischen
dem ersten Abschnitt und dem
zweiten Abschnitt. Dem ersten Abschnitt, der
die individuelle Religionsfreiheit
anbetrifft, stehen wir durchaus freundlich
gegenüber. Dem ersten Paragraphen,
der aus Art. 12 der preußischen
Verfassung herübergenommen wird,
würden wir
ohne weiteres zustimmen. Was die folgenden
Paragraphen des ersten Abschnitts
anbetrifft, so sind dieselben von geringerer
Bedeutung, sind uns in den
Einzelheiten nicht völlig klar. Ich
glaube, es ist auch falsch, jetzt darauf
einzugehen. Haben die Bestimmungen über
den Austritt, wie es scheint, den
Zweck, die Formalität zu vereinfachen,
die in dem preußischen Gesetz
beispielsweise noch vorhanden ist, so
würden wir das als einen Fortschritt
ansehen. Ich würde vom Standpunkt des
Zentrums versuchen, den ersten
Paragraphen zum Gesetz zu erheben, und ich
zweifle gar nicht, daß Sie, wenn
nicht in diesem Jahre, doch alsbald ebenso
Erfolg damit erzielen würden, wie
dies seiner Zeit der Fall gewesen ist bei dem
Paragraphen, der die Gleichstellung
in den bürgerlichen und politischen
Rechten durch das Gesetz von 1869 erzielte.
Was nun den zweiten Abschnitt anbetrifft, so
hat der Abgeordnete Lieber die
Erwartung ausgesprochen, daß sich daraus
keine gegenseitigen Rekriminationen in
konfessioneller Hinsicht ergeben würden,
keine religiösen und konfessionellen
Gegensätze hier in den Verhandlungen zum
Ausdruck kämen. Aber, meine Herren,
dieser zweite Abschnitt zieht alle nur irgend
denkbaren kirchenpolitischen
Streitfragen aus den Einzelstaaten vor den
Reichstag
(sehr richtig!
links),
und die
Erfahrung zeigt, daß, wo dies der Fall
ist, auch die
Verhandlungen sehr leicht einen derartigen
Charakter annehmen, wie ihn der
Abgeordnete Lieber vermeiden wollte. Meine
Herren, Sie haben dies auch gleich
erfahren in der Rede des Herrn Abgeordneten v.
Vollmar, die eine Kritik
katholischer Lehren und katholischer
Einrichtungen enthielt. Ich kann das nicht
einmal tadeln, denn es ist gewissermaßen
provozirt worden durch die Art, wie in
der Zentrumspresse dieser Antrag als ein
sogenannter „Toleranzantrag“ gefeiert
wurde
(sehr richtig!
links);
und wenn nun
seitens des Zentrums, wie es wahrscheinlich
ist, aus diese kritischen Ausführungen
gegen katholische Lehre und
Einrichtungen eine Erwiderung erfolgt, so
haben wir sehr bald die heiße
Temperatur in diesem Saale, deren ich mich
erinnere aus den Verhandlungen des
preußischen
Abgeordnetenhauses in den siebziger Jahren.
(Sehr richtig!
links.)
Meine Herren,
wir erkennen in diesem zweiten Abschnitt keine
Toleranz, sondern Intoleranz
(sehr richtig!
links),
aus dem
Grunde, weil alle Freiheiten verlangt werden
nur für
die anerkannten Kirchen, und man alles
übrige durchaus lassen will, wie es ist.
Unter „anerkannte“ Kirchen sind, soviel ich
das verstehe, die römisch-katholische,
vielleicht auch die altkatholische Kirche, die
evangelische Kirche und die jüdische
Religionsgemeinschaft verstanden.
(Zuruf .)
— In
Preußen auch die Altkatholiken, anderswo
wohl nicht;
daraus würden schon verschiedene
Rechtszustände entstehen. — Was aber alle
die
Abzweigungen aus diesen
Religionsgemeinschaften, was alle sonstigen
religiösen Vereinigungen
anbetrifft, so bleibt alles, wie es ist; sie
bleiben in derselben
Rechtlosigkeit, die für sie vorhanden
ist. Vielfach genießen sie ja nicht
einmal die Vereinsfreiheit in vollem Umfange.
Der Herr Abgeordnete v. Vollmar
hat mit Recht darauf hingewiesen: was wollen
alle Ihre Beschwerden aus Bayern,
Braunschweig und Sachsen sagen gegenüber
der Klage der Dissidenten in Preußen,
daß ihre Kinder zwangsweise angehalten
werden, dem Religionsunterricht einer
Konfession beizuwohnen, die die Eltern
verabscheuen!
(Sehr richtig!
links.)
Und nicht nur
das; die Behörde nimmt sich sogar das
Recht
heraus, die Kinder mal abwechselnd dem
katholischen oder evangelischen
Religionsunterricht, je nachdem sie glaubt,
daß es richtig sei, zuzuweisen.
Meine Herren, die Geschichte der
Freireligiösen, der Dissidenten ist eine
wahre
Leidensgeschichte
(sehr richtig!
links);
und wenn man
keinen Titel des Gesetzes findet, den man
gegen
sie gebrauchen kann, so sagt man — und das
spreche ich aus den Wahrnehmungen
der Praxis heraus —: gewiß, es besteht
Religionsfreiheit, aber ihr habt ja
überhaupt keine Religion, Und deshalb
kann auch die Religionsfreiheit für euch
nicht gelten. Man konstruirt dabei von
Obrigkeits wegen einen Normalbegriff von
Religion und sagt: alle Bestimmungen von
Religionsfreiheit finden aus diejenigen
keine Anwendung, deren Bestrebungen sich nicht
unter diesen Normalbegriff von
Religion bringen lassen. Wir, meine Herren,
wir sind der Meinung, daß, je mehr
man die Freiheiten der anerkannten
Religionsgemeinschasten erweitert, dadurch
um so mehr herabgesetzt und herabgedrückt
werden alle diejenigen
Gemeinschaften, die nicht zu den anerkannten
gehören. Dieselben stehen dann
gegenüber den Religionsgemeinschaften,
die schon durch ihre große Ausdehnung
ein starkes soziales Uebergewicht haben; das
fällt oft mehr ins Gewicht als
alle rechtlichen Befugnisse, und der Mangel
aller rechtlichen Befugnisse drückt
sie dann noch mehr herunter. Meine Herren, da
ist dann von einem freien Kampfe
der Geister thatsächlich nicht mehr die
Rede.
(Sehr richtig!
links.)
Wir wollen
nicht bloß den freien Austritt aus einer
anerkannten
Kirche, sondern wollen auch, daß der
Ausgetretene sich einer Gemeinschaft
anschließen und darin diejenigen
Ansichten bethätigen kann, die seinem
eigenen
Glauben, seiner eigenen Ueberzeugung
entsprechen. Unser Programm geht dahin:
gleiches Recht für alle Bekenntnisse,
nicht bloß für die Bekenntnisse der
anerkannten
Religionsgemeinschaften.
(Sehr gut!
links.)
Wir wollen
nicht, daß die Erlangung von Rechten
abhängig
wird von einer Anerkennung, d. h. von einer
Konzession der Obrigkeit, von einer
Abstempelung des Bekenntnisses, welches einer
Religionsgemeinschaft unterliegt.
Wir verlangen die volle Vereinsfreiheit; denn
die polizeilichen Beschränkungen
des Vereinswesens sind auch ein
Hinderniß für alle kleinen
Gemeinschaften. Wir
verlangen, daß die juristische
Persönlichkeit erworben werden kann
für alle
Gemeinschaften, die gewisse
Normativbedingungen erfüllen,
Normativbedingungen,
die durch den Geist der Toleranz diktirt sein
müssen.
(Sehr richtig!
links.)
Wir verlangen,
daß in solchen Korporationen dem
wirklichen
Korporationswillen Geltung verschafft wird,
und daß das einzelne
Korporationsmitglied
auch einen Rechtsschutz gegen den
Korporationswillen unter Umständen
erlangen
kann. Wir wollen keinerlei staatliche
Zuwendungen für irgend eine
Religionsgemeinschaft — denn das ist auch mit
der Gleichberechtigung nicht
verträglich — und keine starke Hand des
Staates, es sei denn diejenige, die
allen Vereinigungen zu theil wird, die
sittliche Bestrebungen verfolgen. Wir
wollen, daß die religiösen
Gemeinschaften ihre Thätigkeit nicht
erstrecken auf
solche Gebiete, die ihrer Natur nach in der
öffentlichen Fürsorge, dem
bürgerlichen Gemeinwesen vorbehalten sein
müssen. Nur, meine Herren, in dem
Maße, wie Sie diese Vorbedingungen
erfüllen, wie die Gleichberechtigung
aller
Bekenntnisse zur Wahrheit wird, in dem
Maße sind wir geneigt, weitgehende
Freiheiten in der geschilderten Art
gleichmäßig allen Bekenntnissen
zukommen zu
lassen.