Eugen Richter
1838-1906







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Eugen Richter gegen das persönliche Regiment Wilhelms II.
 


Reichstag, 18. Mai 1897

 
 
 
Präsident: Das Wort hat der Herr Abgeordnete Richter.

Richter, Abgeordneter: Der Herr Staatssekretär von Boetticher hat in seiner langen Ministerlaufbahn so viel vertreten, einander auch Widersprechendes, Unhaltbares, daß ich mich gar nicht wundere, daß dieser verehrte Dauerminister auch die Vorlage zu vertheidigen übernimmt. Es kommt ihm dabei die ganze Gewandtheit zu statten, die er sich in so langer Zeit gewissermaßen als Sprechminister der Regierung erworben hat. So gut angebracht auch in gewissen Fällen der heitere Ton, die kavaliere Art, seine Bonhommie sein mag, — heute ist sie deplacirt.

(Sehr richtig! links.)

Diese Sache hat eine politische Bedeutung, die über den Inhalt des Antrags selbst noch weit hinausgeht

(sehr richtig! links),

und die wir deshalb nicht in dieser leichten Tonart zu besprechen gewillt sein können. Befremden muß es, daß der Herr Reichskanzler selbst nicht anwesend ist

(sehr richtig!),

und daß man es nicht einmal angezeigt hält, einen Grund anzuführen, warum er vielleicht äußerlich verhindert ist; denn an ihn müssen wir uns — und das wollen wir uns von keiner Seite verdunkeln lassen — in erster Linie halten: er ist der uns verantwortliche Reichskanzler, seine Zusage als Reichskanzler hat die Mehrheit damals bestimmt, von einem Antrag zurückzutreten, seiner Zusage hat sie vertraut.

Der Herr Abgeordnete Dr. Lieber meinte, er wolle persönlich niemandem einen Vorwurf machen, weder dem Herrn Reichskanzler noch dem Herrn Staatssekretär von Boetticher noch sonst jemandem. Ich bin ganz anderer Ansicht: ich mache allen diesen Herren persönlich die schärfsten Vorwürfe.

(Beifall links.)

Wo sollten wir bleiben, wenn wir in Sachen, wo das persönliche Vertrauen in die Wagschale geworfen wird, nachher die Personen außer Betracht lassen, wenn sie den Voraussetzungen zuwider gehandelt haben, wenn wir fingiren wollen, anzunehmen bei denjenigen, die die Zusage gegeben haben, sie hätten in gutem Glauben gehandelt, daß es nicht anders verstanden werden könnte. Ich weiß auch nicht, ob das die Herren Minister gerade als schmeichelhaft ansehen, daß sie sich nicht bewußt gewesen sind, wie ihre Zusage anfgefaßt wurde. Denn wahrlich für das Begriffsvermögen der Herren Minister würde eine solche Supposition kein besonders gutes Zeugnis geben.

Wir verdanken dieser Diskussion, daß sie Klarheit in die Situation geschaffen hat, daß sie auch das Märchen zerstört hat, das draußen kolpotirt wurde, und von dem mir sogar der Herr Abgeordnete Singer angekränkelt schien, von einer schwarzen Seele und von einer weißen Seele in dieser Regierung.

(Zuruf bei den Sozialdemokraten und große Heiterkeit.)

Das ist die Legende, als ob die Herren von der schwarzen Seele in der Regierung, von der Recke, Schönstedt und Andere, überstimmt hätten im Ministerium die Herren von weißer Seele, den Herrn Reichskanzler, den Herrn Staatssekretär von Boetticher, und wie diese ultraliberalen Herren Minister noch alle heißen mögen.

(Große Heiterkeit.)

Ja, meine Herren, man ist sogar so weit gegangen, und man kann es in der Zentrumspresse lesen, daß nun die überstimmten Minister sich rächen würden, sie fügten sich nur aus Bosheit, um den Sturm gegen dieses Gesetz in der Oeffentlichkeit zu entfachen, einen Sturm, der, wie einst das Unterrichtsgesetz den Grafen von Zedlitz, dem Wunsche des Herrn Miquel gemäß, wegfegte, auch dazu beitragen würde, sie der unbequemen Kollegen, der Herren von der Recke u. s. w., zu entledigen. Nein, es ist heute klargestellt: die Herren Minister sind alle gleichwerthig in der Regierung, wir haben ein ganz homogenes reaktionäres Ministerium.

(Sehr richtig! links.)

Davor sollte doch niemand, der sehen kann, die Augen verschließen. Wir hier haben gar keine Ursache, uns über die Herren Minister so besonders zu ereifern. Wir haben ihnen auch in vorigen Jahre nicht vertraut; deshalb können wir auch nicht enttäuscht sein. Der Herr Abgeordnete Haußmann hat damals im vollen Einklang mit uns erklärt, daß wir der Zusage, wie sie damals aufgestellt wurde, kein Vertrauen schenken konnten. Wir waren der Meinung und haben auch so gestimmt, der Reichstag mußte die Gelegenheit bei dem Einführungsgesetz wahrnehmen, seine Absicht durchsetzen; und wenn auch die Herren Konservativen gegen das bürgerliche Gesetzbuch gestimmt hätten, so wäre das bürgerliche Gesetzbuch auch ohne sie zu Stande gekommen.

Allerdings muß ich zugeben, daß für diejenigen, die damals der Erklärung der Regierung vertrauten, sich mildernde Umstände anführen lassen. Wer vertrauensselig angelegt ist, oder wer, wie der Herr Abgeordnete Rickert gestern im preußischen Abgeordnetenhause schilderte, ein unschuldiges Gemüth besitzt

(Heiterkeit),

oder wer im parlamentarischen Umgang mit Ministern noch nicht klug geworden ist

(Heiterkeit),

der konnte sich unter diesen Umständen allerdings veranlaßt fühlen, sein Vertrauen zu schenken, — so bedingungslos, so ohne jede Begleitung von Zweifeln wurde damals diese Erklärung abgegeben. Heute sagte der Herr Staatssekretär von Boetticher: wir haben doch keine autokratische Regierung, was kann denn die Zusage des Herrn Fürsten von Hohenlohe anderes bedeuten, als: mit Vorbehalt der preußischen Minister. Nun, gerade derselbe Herr Minister von Boetticher hat damals in jeder Weise das Vertrauen, was die Worte des Herrn Reichskanzlers selbst noch nicht hervorrufen wollten, seinerseits durch seine Aeußerung zu verstärken gesucht.

(Sehr richtig! links.)

Er hat gerade gesagt: nach dem Meinungsaustausch, der unter den verbündeten Regierungen vorhergegangen war

(hört! hört! links),

also man hatte sich schon verständigt. Es handelte sich also gar nicht mehr um die autokratische Diktatur. Herr von Boetticher sagte: auch von dem Standpunkt der Herren, die die schleunige Beseitigung des Verbots erheischen, liege kein Grund zur Besorgniß vor. Er suchte uns, der linken Seite, vorzustellen, daß, wenn wir der Regierung vertrauten, wir noch viel rascher als durch das bürgerliche Gesetzbuch, das erst im Jahre 1900 in Kraft treten würde, zur Erreichung unseres Zieles gelangen würden. Heute hat sich der Herr Staatssekretär in derselben Rede widersprochen. Einmal sagte er: der Herr Reichskanzler konnte ja gar nicht wissen, wie seine preußischen Kollegen darüber denken, und ob sie andere Bestimmungen des Vereinsgesetzes bei Aufhebung des Verbots herbeiführen wollten, und zweimal hat er in derselben Rede versichert, es sei ein alter Herzenswunsch der preußischen Minister, sie seien sich längst darüber schlüssig geworden, daß sie solche Verschärfungen des Vereinsrechts in Preußen durchsetzen wollten. Ja, als ich bei der ersten Berathung des Reichshaushaltsetats am 1. Dezember meine Verwunderung darüber aussprach, warum man in der Thronrede eine Vereinsnovelle angekündigt habe, warum man nicht schlankweg das Verbot aufhebe, da machte der Herr Staatssekretär, der in meiner Nähe stand, einen beschwichtigenden Zuruf. Der Wortlaut wird ja in den stenographischen Berichten in solchen Fällen nicht erwähnt; was er aber gesagt hat, geht aus meiner nachfolgenden Bemerkung hervor, indem ich sagte: Ja, wenn Sie nur das beabsichtigen — also die schlanke Aufhebung des Koalitionsverbots —, verehrtester Herr Minister, da hätten Sie doch die Novelle längst einbringen können! Also in jener Situation noch wurden wir in der Annahme bestärkt, daß es sich im preußischen Landtage einfach um eine Aufhebung des Koalitionsverbotes handle. Hier gilt nun einmal nicht das Wort, man soll auch am Kanzlerwort nicht drehen und nicht deuteln; hier gilt umgekehrt der Spruch: bei den Diplomaten ist die Sprache erfunden, um die wahren Gedanken zu verbergen.

(Sehr richtig! links.)

Allerdings, da haben Sie, auf der rechten Seite, ganz recht: Herr Freiherr von Stumm hatte hier ein anderes Programm entwickelt. Nun sagt Herr von Kardorff: warum haben Sie denn nicht darauf reagirt, warum haben Sie denn nicht dagegen protestirt? Ist denn der Herr von Stumm auch verantwortlicher Minister, daß man fragen müßte, wie seine Rede mit den Ansichten des Herrn Reichskanzlers zu vereinbaren wäre?

(Sehr gut! links.)

Es soll allerdings Leute in Deutschland geben, die den Freiherrn von Stumm für den unverantwortlichen Mitregenten halten.

(Sehr wahr! links.)

Andere nennen ihn den Scharfmacher. Er mag es ja sein, nach einer anderen Richtung hin. Ich verehre ihn als Hellseher: er prophezeit lange im voraus, was die Minister demnächst zu wollen haben.

(Heiterkeit.)

Ich bin allerdings der Meinung, daß wir mehr als auf manches Ministerwort lauschen müssen auf das, was Herr Freiherr von Stumm für die Regierung als Programm aufstellt. Meine Herren, wir haben neulich gelesen, Herr Freiherr von Stumm ist parlamentsmüde geworden, er will ein Mandat nicht mehr annehmen. Mich hat diese Nachricht mehr erschüttert, als wenn selbst Herr Staatsminister von Boetticher seinen Abschied nähme.

(Große Heiterkeit.)

Vielleicht ist der Triumph, den er jetzt erlebt — er ist ja leider heute nicht anwesend —, wie pünktlich die Regierung sein Programm vollzieht, geeignet, ihn wieder zu erfrischen und ihn dem Parlament zu erhalten.

(Heiterkeit. — Zuruf von den Sozialdemokraten.)

— Ja, das allerdings wäre der Triumph der Geschicklichkeit, wenn er nicht einmal anwesend zu sein brauchte und seine Instruktion von der Regierung doch ausgeführt würde.

(Heiterkeit.)

Ich bedaure, daß ich dem Herrn Reichskanzler gegenüber mich nicht auch der persönlichen Ausführungen entschlagen kann. Der Herr Reichskanzler hat gestern von seiner politischen Vergangenheit gesprochen. Ja, was sollen wir uns an die Vergangenheit halten, antiquarische  Untersuchungen anstellen, wo die Gegenwart so deutlich spricht?

(Sehr richtig! links.)

Und diese Vergangenheit! Ist das nicht derselbe Herr Reichskanzler, der debutirt hat, indem er hier die Umsturzvorlage einbrachte, jene Umsturzvorlage, die so kläglich gescheitert ist, und zu der sich nachher keine Partei mehr bekennen wollte? Die Umsturzvorlage und diese Novelle sind ganz ebenbürtige Geschwister von denselben Eltern. Ich bin weit entfernt, auch nur einen Vergleich mit Strohredakteuren anstellen zu wollen; aber der Gedanke ist doch richtig: Minister, die nach ihrer Vergangenheit in der öffentlichen Meinung noch etwas zu verlieren haben, sind die allergefährlichsten, wenn es gilt, eine reaktionäre Politik einzuleiten. Sie decken mit ihrem Namen die Einleitung einer solchen Politik, die nachher dann von anderer Seite fortgesetzt wird.

(Sehr richtig! links.)

Uns wäre es viel lieber, dieser Gesetzentwurf trüge seine richtige Etikette von einem richtigen Puttkamer oder von einem richtigen Eulenburg, dann würde man sofort von außen erkennen, was der böse Trank enthält, der hier dargereicht werden soll.

Der Herr Reichskanzler hat sich zu entschuldigen gesucht damit, daß man dem preußischen Landtag ein Lösegeld zahlen müsse für die Aufhebung des Koalitionsverbots in solchen Verschärfungen. Nun, meine Herren, ich bin der Meinung, wenn die Regierung schlankweg vor den Landtag getreten wäre und gesagt hätte: hier handelt es sich um die Erfüllung eines gegebenen Worts; was sonst noch im Vereinsrecht geändert werden kann, das steht auf einer anderen Seite, darüber kann man bei einer anderen Gelegenheit sprechen, hier bitten wir unser Wort uns einlösen zu helfen, dann würden Sie noch Autorität genug besessen haben im Landtag und auch in dem von Ihnen so gefürchteten Herrenhause, einen solchen Paragraphen durchzusetzen.

(Heiterkeit.)

Wie aber hat die Regierung gehandelt? Sechs Monate lang hat man die Frage hin und her gezogen, man hat im Landtag von Seiten der Regierung alle möglichen Fragen aufgeworfen, die man mit der Revision dieser Vereinsgesetze in Verbindung bringen wollte; die Regierung hat ja geradezu den Preis dieses Lösegeldes gesteigert in den Augen der Konservativen des Landtags. Heute haben wir noch gehört vom Herrn Staatssekretär von Boetticher, das Herrenhaus werde vielleicht noch viel mehr verlangen, als wir geboten haben. Heißt das eine Aufhebung des Verbots erleichtern? Sie, die Minister, haben durch ihr Verhalten ja geradezu die konservativen Parteien provozirt zur Forderung der Verschärfung.

(Sehr wahr! links.)

Und noch mehr! In den vertraulichen Vorbesprechungen — das ist doch jetzt zugegeben — hat die Regierung einen Entwurf vorgelegt, der noch weiter ging bis zu Präventivverboten gegen Versammlungen und Vereine. Solche Vorschläge macht die Regierung, die selbst den Freikonservativen, und das will viel sagen, als eine zu übertriebene Forderung des Lösegeldes erscheinen.

Ich kann es nicht anders bezeichnen: es liegt hier eine Brüskirung des Reichstags vor, wie ich sie überhaupt in meiner parlamentarischen Vergangenheit noch nicht erlebt habe. Sie sagen: das ist keine Kriegserklärung. Nun, wenn man derartig schroff entgegenhandelt, so brüsk, so mag man das eine Kriegserklärung nennen oder nicht, thatsächlich wird es als Kriegserklärung empfunden. Wenn man jemandem einen Faustschlag ins Gesicht giebt und fügt hinzu mit freundlicher Miene: darum wollen wir keine Händel anfangen

(Heiterkeit),

dann faßt es derjenige, der den Schlag empfängt, doch anders auf. Verstecken Sie doch nicht die Sache hinter allerlei formale Einwendungen und Kompetenzfragen. Darauf muß hingewiesen werden: Sie handeln materiell schnurstracks in entgegengesetzter Richtung, wie es gerade im vorigen Jahre der Reichstag verlangt hat. Ich muß doch daran erinnern, daß damals aus der Initiative des Reichstags ein vollständiges Reichsvereinsgesetz hervorgegangen war, und daß dieses Gesetz in der zweiten Lesung hier von einer großen Mehrheit angenommen wurde, und man es nur zurückstellte, um zunächst diese eine Frage des Koalitionsverbots praktisch zu lösen. Der Reichstag hat in jenem Gesetz keine Verschärfungen verlangt, sondern umgekehrt, weittragende Aufhebungen von bestehenden Beschränkungen. Die Regierung hat darauf nicht eingehen wollen. Gut, das war ihr Recht; aber nun gehen Sie so weit angesichts der Forderung, in diesem Initiativgesetz Beschränkungen aufzuheben, umgekehrt, Beschränkungen neu einzuführen. Man kann ja gar nicht mehr einer Mehrheit einer Volksvertretung im Reiche zuwiderhandeln, als es hier versucht wird.

(Sehr wahr! links.)

Und, meine Herren, das ist besonders häßlich, das Ausspielen des Landtags gegen den Reichstag

(sehr richtig!)

in Fragen der Zuständigkeit der Reichsgesetzgebung, das Ausspielen der Dreiklassenwahl gegen das Reichswahlrecht! Mit Recht hat auch ein nationalliberaler Abgeordneter gestern hervorgehoben, wie sehr dies gegen den Einheitsgedanken, gegen den Reichsgedanken verstößt. Wir haben ja manches erdulden müssen von dem Fürsten Bismarck; aber ich erinnere mich nicht, daß er jemals in dieser Weise in Fragen, die in die Zuständigkeit des Reichs fielen, es unternommen hätte, die Partikulargesetzgebung gegen die Reichsgesetzgebung zu Felde zu führen. Daran mußte ihn schon verhindern die Furcht, ein schlechtes Beispiel zu geben allen anderen Regierungen im Ansturm der Partikulargesetzgebung gegen den Willen der Reichsfaktoren.

Und dann, meine Herren, was ist das für ein Reichstag, gegen den Sie derart handeln? Ist das ein Reichstag mit liberaler Mehrheit? — Die Liberalen sind ja immer besonders schlecht behandelt worden. Nein, ein Reichstag, der so viel Gesetze mit der Regierung zu Stande bringt, die uns hier auf der Linken durchaus zuwider sind, und die wir für verderblich erachten. Und dieser Reichstag, läßt er es etwa an Geldbewilligungen fehlen? Ist nicht in dieser Wahlperiode der Militäretat fortgesetzt erhöht worden, ist nicht der Marineetat fortgesetzt erhöht worden, der Kolonialetat erhöht worden? Hatte er jetzt nicht die Absicht, fast alle die geforderten Besoldungsverbesserungen zu bewilligen und sogar für die höchsten Reichsbeamten nicht einmal von ihnen selbst geforderte Zulagen zu machen? Und derart wird ein solcher Reichstag behandelt! Allerdings, er hat die zwei Kreuzer nicht bewilligt, weil er meinte, wenn sieben Kreuzer im Bau seien, würde es keine Eile haben, noch den Bau von zwei neuen Kreuzern in Angriff zu nehmen. Aber, meine Herren, richtet sich denn diese Politik bloß gegen die berühmten vaterlandslosen Gesellen, die jene Kreuzer nicht bewilligt haben? Nein, sie richtet sich ebenso und vielleicht noch in höherem Maße gegen die gutherzigen Nationalliberalen; sie haben doch auch der Zusage des Reichskanzlers vertraut. Herr von Bennigsen hat damals die Zweifel, die hier auf der Linken erhoben wurden, zu beschwichtigen versucht. Die nationalliberale Partei wird ja noch schärfer brüskirt als wir. Man hat sie vorher vertraulich gefragt, ob sie mit jenen Verschlechterungen des Vereinsgesetzes  einverstanden sei. Sie hat das in dieser vertraulichen Konferenz abgelehnt, und trotzdem, obwohl die nationalliberale Partei im Abgeordnetenhause ausschlaggebend ist, macht man diese Vorlage, als ob auch diese Nationalliberalen vaterlandslose Gesellen wären.

(Große .Heiterkeit.)

Ja, wer ist denn heutzutage noch vaterlandsliebend? Niemand mehr, der überhaupt noch eine selbstständige Meinung hat!

(Stürmischer Beifall links.)

Der Herr Staatssekretär von Boetticher sucht uns zu beruhigen, wir möchten keine weiteren politischen Konsequenzen daran knüpfen und, was uns berechtigte, Folgerungen darüber hinaus zu machen. Ja, Herr Staatssekretär, dann sagen Sie uns doch: wie denken Sie denn nun, daß die Sache weitergehen soll? Entweder wird der Gesetzentwurf im Abgeordnetenhause abgelehnt oder er wird angenommen, und wird er abgelehnt, dann haben Sie sich selber persönlich einen Kladderadatsch zugezogen.

(Große Heiterkeit. Zuruf vom Regierungstisch.)

— Freilich Herr Minister von Boetticher, man kann ja auch so abgehärtet sein wie Sie.

(Stürmischer Beifall links und Händeklatschen.)

Es giebt ja ein Gefühl politischer Wurstigkeit, das hoch erhaben ist über alles das, was selbstständige Politiker empfinden.

(Große Heiterkeit und lebhafter Beifall.)

— Oder der Entwurf wird angenommen, und es gelingt noch, einen Fetzen aus der Vorlage durchzubringen in die Gesetzessammlung. Nun, dann haben Sie alle diejenigen Parteien, die das nicht wollen, im Abgeordnetenhaus und Reichstag um so schärfer zurückgestoßen. Und glauben Sie denn, daß wirklich alle so gutmüthig sind, daß das weiter keine parlamentarischen Folgen für das fernere Verhältniß haben wird? Allerdings, die Tage dieses Reichstags und Landtags sind gezählt; im nächsten Jahr kommen die allgemeinen Neuwahlen. Sind Sie nun denn der Meinung, daß Sie damit Ihre Wahlaussichten verbessern, sei es zum Reichstag oder zum Landtag?

(Heiterkeit und Bravo! links.)

Nein, meine Herren, die Vorlage hat wenigstens das eine Verdienst, daß sie selbst dem Vertrauensseligsten die Binde von den Augen reißt, daß selbst der mattherzigste Philister aufgerüttelt werden muß über diese Art der Regiererei in Deutschland.

(Lebhafter Beifall links.)

Ein nationalliberales Berliner Blatt nannte zuerst diese Vorlage ein Sturmanzeichen, die Einleitung einer Gewaltpolitik, die uns bevorsteht. Dasselbe Blatt sagt auch dieses Gesetz wird bewirken, daß die Schanzen des Vereins- und Versammlungsrechts, auf denen das Bürgerthum vertheidigen kann seine verfassungsmüßigen Rechte, vorher niedergerissen werden, ehe der Ansturm darauf kommt. Ich bin weit entfernt, zu glauben, daß Sie, die gegenwärtigen Minister, eine solche Gewaltpolitik durchzuführen beabsichtigen, ich schenke der Erklärung des Herrn Staatssekretärs von Boetticher für ihn und für seine Kollegen vollen Glauben. Aber, meine Herren, wer kommt nach Ihnen? Sind Sie denn nicht ephemere Existenzen?

(Große Heiterkeit.)

Wenn Sie morgens wach werden, und die Sonne scheint politisch und parlamentarisch noch so hell, so wissen Sie nicht, ob Sie an demselben Abend noch erleben werden, in Ihren Ministersesseln zu sitzen.

(Große Heiterkeit.)

Meine Herren, ich gönne dem Herrn Reichskanzler ein langes Leben; aber ich sehe die Füße derjenigen schon vor der Thür stehen, die ihn dann hinausgeleiten werden, und der Herr Staatssekretär von Boetticher, so dauerhaft er sich erwiesen hat

(große Heiterkeit),

unter den Stürmen, die diese Politik entfesseln wird, wird selbst er nicht so fest kleben, daß er nicht auch losgelöst wird. Denn alles in der Politik zieht seine Konsequenzen auch für diejenigen, die eine solche Politik eingeleitet haben, wenn sie sie nicht weiter führen wollen. Haben Sie sie eingeleitet, haben die Mohren Ihre Schuldigkeit gethan, dann können Sie gehen, was wollen Sie denn auch noch weiter? Sie haben nach rechts schon früher den Halt verloren und nach links verderben Sie durch solche Vorlagen sich alles. Wer kann denn überhaupt sich noch dafür interessiren, daß Sie im Amt sind.

(Sehr gut! und Heiterkeit links.)

Die nachfolgenden Ausführungen kehre ich deshalb nicht gegen Sie; wir müssen schon jetzt rechnen mit denjenigen, die nach Ihnen kommen.

(Sehr gut! und lebhafter Beifall links.)

Wenn dann sich Minister finden, die eine Gewaltpolitik einleiten, gewiß, sie haben dann auf den Beifall der rechten Seite zu rechnen; sie haben besonders zu rechnen auf den Beifall des Junkerthums. In diesem Junkerthum wittert man schon Morgenluft

(große Heiterkeit links)

und begrüßt die Novelle als den Anfang von Thaten, besonders in demjenigen Junkerthum, das, je mehr es drunter und drüber geht, um so mehr Beute glaubt für sich machen zu können

(sehr gut! links),

das nichts mehr zu verlieren hat, weil es wirthschaftlich schon halb bankerott ist und deshalb auch nicht vor dem politischen Hazardspiel zurückzuschrecken braucht.

(Sehr richtig! und lebhafter Beifall links.)

Aber, meine Herren, was hat solches Junkerthum für eine Bedeutung für die Kraft einer Regierung? Solches Junkerthum ist ja überhaupt nicht selbstständig, es will nur gestützt sein, hat aber nicht die Kraft, selbst eine Regierung zu stützen, es bedeutet nur so viel, als die Regierung es bedeuten lassen will. Eben weil eine solche Politik keine Stütze hat, so wird sie auf den Weg der äußeren Machtmittel mit Nothwendigkeit getrieben. Entrolle ich etwa damit heute ein neues, überraschendes Bild? Haben wir nicht bei der Debatte des Marineetats gerade von Seiten des Herrn von Bennigsen beachtenswerthe Andeutungen gehört? Dieser bedeutungsvolle Theil seiner Rede verdient hervorgehoben zu werden wegen des Schlaglichts, das er auf die politische Situation wirft. Herr von Bennigsen sagte damals, daß es gefährliche Meinungen gäbe, man könne nicht mehr auskommen mit parlamentarischen Verfassungszuständen. In Europa aber, so sagte er, ist ein absolutistisch-diktatorisches Regiment unmöglich, eine Regierung nicht dauerhaft und haltbar ohne Verfassungen, in denen der Volksvertretung sehr wesentlich weitgehende Rechte eingeräumt sind; und werden diese Rechte nicht auch ehrlich respektirt, so sind die Regierungen auf die Dauer in Europa nicht möglich. Er exemplifizirte dann auf die Zustände in Frankreich, auf den Imperialismus Napoleons, der unter den ersten unglücklichen Schlachten kraftlos und widerstandslos zusammenbrach.

Man hat freilich einmal gesagt: Macht geht vor Recht. Es hat vor 30 Jahren schon einmal in Preußen ein verfassungswidriges budgetloses Regiment bestanden. Soll denn nun die Geschichte den Beweis führen, daß, was unter außergewöhnlichen Verhältnissen, unter außergewöhnlichen Umständen einmal durchgeführt werden konnte, das nun eine dauerhafte Grundlage des Reichs werden kann, eine Wiederholung verträgt? Damals ist die innere Politik herausgehauen worden von der Tapferkeit unserer Armee bei Königgrätz und die Entwicklung der Politik zur deutschen Einheit hat zuletzt die Versöhnung gebracht mit der Regierung. Aber auch hier hat die Einführung der zweijährigen Dienstzeit im Jahre 1893 dargethan, daß der König Unrecht hatte, als er es ablehnte, den Konflikt im September 1862 auszugleichen, als ihm die Minister selbst den Kompromiß auf der Grundlage der zweijährigen Dienstzeit anriethen. Aber wenn selbst Moral und Recht nichts bedeuteten gegenüber einer höheren Staatsraison, wo kann man sich in dieser Situation auf eine höhere Staatsraison berufen? Etwa im Namen des Kampfs gegen die Sozialdemokratie? Heißt es die Sozialdemokratie wirksam bekämpfen, daß, anstatt daß man alle bürgerlichen Parteien in eine Politik zusammenfaßt, man solche Gesetze vorbringt, die die bürgerlichen Parteien unter sich spalten, die sie in dieselbe Kampfeslinie nothgedrungen für die politischen Freiheiten und Rechte mit den Sozialdemokraten zusammenbringen? Und ist das eine Einleitung eines wirksamen Kampfes gegen die Sozialdemokratie, wenn man etwa glauben sollte, jemals sich über Recht und Verfassung hinwegsetzen zu können, einen Staatsstreich zu begehen, die Revolution von oben zu inszeniren und dadurch jeden Gewaltakt von unten im voraus zu legalisiren? Wo ist denn sonst noch eine Staatsraison? Etwa weil man einen Reichstag braucht für angemessene Erweiterung der Flotte? Liegt etwa in der Zahl der Schiffe mehr oder weniger die Frage der Wehrkraft Deutschlands? Nein, sie entscheidet nur über die Grenzen der Phantasie einer Weltpolitik, geeignet, die Kräfte Deutschlands zu zersplittern und durch überseeische Händel uns den Frieden in Europa zu gefährden.

Meine Herren, der Reichskanzler Fürst Bismarck selbst hat, als er jenes budgetlose Regiment inszenirte, niemals die Gefährlichkeit der Situation unterschätzt und alle Vorkehrungen getroffen für den Fall eines ungünstigen Ausgangs in Bezug auf seine Privatverhältnisse.

Herr von Kardorff warf die Frage auf nach Personen nach Art des Fürsten Bismarck. Nun, wo sind denn heute die Personen, die eine solche Politik, wie sie nothwendig in der Konsequenz solcher Vorlagen und solcher Verhandlungen des Reichstags sich entwickeln muß, durchführen können? Wo ist denn heute ein einheitlicher, zielbewußter Wille, der nicht von plötzlichen Impulsen getragen wird, sondern der mit Umsicht und Einsicht stetig ein Ziel zu verfolgen weiß?

(Sehr gut! links.)

Und wo ist denn eine Garnitur von neuen Ministern

(Heiterkeit links),

die sich hinter den Herren hier könnte aufführen lassen? So weit Sie blicken, nichts als geschmeidige Höflinge, die sich jeder Ansicht von oben anschließen! Avancirte Büreaukraten oder schneidige Husarenpolitiker

(sehr gut! links),

das ist es, was sich einer solchen Politik zur Verfügung stellen kann.

(Lebhafte Zustimmung links.)

Handlanger, aber im gewöhnlichen Sinne des Worts!

(Stürmisches Bravo links. — Händeklatschen.)

Wir leben auch heute in einem Bundesstaat und nicht mehr bloß im Einheitsstaat Preußen. Daran wollen wir uns doch auch erinnern, daß das Deutsche Reich als solches keine angestammte Dynastie hat, und daß das Kaiserthum in Deutschland nicht älter ist als der Reichstag.

(Sehr gut! links. Glocke des Präsidenten.) 

Präsident: Ich muß den Herrn Redner einen Augenblick unterbrechen. Es wird mir eben mitgetheilt, daß zweimal durch Klatschen Beifall bezeugt worden ist, und zwar hier auf dieser Tribüne. Wenn das noch einmal stattfindet, so werde ich diese Tribüne räumen lassen.

(Bravo!)

Richter, Abgeordneter: Der Herr Abgeordnete von Kardorff hat — und das war mir bemerkenswerth — gesprochen von der Abnahme der monarchischen, der nationalen Gesinnung in Deutschland; er hat den Rückgang datirt — das war noch bemerkenswerther — von dem Tode Kaiser Friedrichs lll. Meine Herren, ich bin kein Republikaner, ich bin kein Illusionspolitiker, ich rechne mit den praktischen, gegebenen Verhältnissen. Ich bin der Meinung, daß gerade in Deutschland das monarchische System Anwartschaft auf eine längere Dauer in der Zukunft hat als in irgend einem Staate Europas, weil die Monarchie hier eng mit dem Werden und Wachsen des Staatswesens selbst verbunden ist, deshalb, weil der Glanz von wirklich bedeutenden, verdienstvollen Monarchen der Vergangenheit noch fällt auf ihre Nachkommen in der Gegenwart. Aber um so mehr bedaure ich, daß Herr von Kardorff recht hat, daß in der That die monarchische Gesinnung seit 10 Jahren sich nicht nur nicht vermehrt hat, sondern daß von dem Kapital dieser Gesinnung gezehrt wird

(sehr richtig! links)

in einer Weise, wie ich es vor 10 Jahren nicht für möglich gehalten hätte

(lebhafte Zustimmung links),

nicht etwa infolge der Agitation der Sozialdemokratie, nein, infolge von Vorgängen, die sich der parlamentarischen Erörterung entziehen

(sehr gut! links),

Vorgängen, welche die Kritik herausfordern nicht bloß im Bürgerthum, sondern auch tief im Beamtenthum bis in das Offizierskorps hinein. Deutschland ist ein monarchisch konstitutionelles Land; aber nach dem Programm: sic volo, sic jubeo — regis voluntas suprema lex mag man vielleicht in Rußland noch eine Zeit regieren können, das deutsche Volk läßt sich auf die Dauer nicht danach regieren.

(Lebhaftes andauerndes Bravo links.)