Eugen
Richter gegen das Sozialistengesetz (1.
Version)
Reichstag, 23. Mai 1878
Präsident:
Der Herr Abgeordnete Richter (Hagen) hat
das
Wort.
Abgeordneter
Richter (Hagen): Der Herr Minister hat es mit
einer gewissen Emphase ...
(Rufe:
Tribüne!)
— ich bin sehr
gern bereit, auf die Tribüne zu gehen,
ich
habe aber bisher noch immer die Erfahrung
gemacht, daß ich von diesem Platz aus
besser verstanden bin als von der
Tribüne.
Meine Herren,
der Herr Minister hat es mit einer gewissen
Emphase konstatiren zu müssen geglaubt
nach der Rede des Herrn von Bennigsen,
daß die Gefahren der Sozialdemokratie
auch auf liberaler Seite nicht
unterschätzt würden. Der Herr
Minister scheint in der That dieser Bewegung
und
der Stellung der einzelnen Parteien dazu erst
seit der kurzen Zeit der Amtsführung
genauer gefolgt zu sein, sonst
müßte er wissen, daß zu
keiner Zeit von
liberaler Seite die Gefahren der
Sozialdemokratie unterschätzt worden
sind,
(sehr wahr!
links)
daß sie
die Gefahr früher erkannt hat als die
Regierungen,
namentlich sein Amtsvorgänger Graf
Eulenburg I.
(Große
Heiterkeit.)
Als die
Sozialdemokratie begann, war es meine Partei,
die
Fortschrittspartei, die auf das entschiedenste
und nachdrücklichste den
Anfängen dieser Bewegung entgegentrat.
Seit jener Zeit ist sie die bestgehaßte
Partei von Seiten der Sozialdemokratie, und
wir geben uns alle Mühe, die
bestgehaßte
Partei diesen Herren gegenüber zu
bleiben. Mit vollem Recht hat man zu jener
Zeit den Gegensatz zu Ferdinand Lassalle und
seiner sozialistischen Agitation nicht
schärfer personifiziren zu können
geglaubt, als indem man ihm die Person von
Schulze-Delitzsch unmittelbar als den
entschiedensten Gegner gegenüberstellte.
(Sehr richtig!)
Meine Herren,
wo war damals aber die Regierung?
(Hört,
hört!)
Als ich dem
Grafen zu Eulenburg im Jahr 1876 im
preußischen
Abgeordnetenhaus entgegenhielt, wie er sich
zur Zeit, als die sozialistische
Bewegung ihren Anfang nahm, in einer gewissen
wohlwollenden Neutralität, um es
milde auszudrücken, der Sozialdemokratie
gegenüber verhalten habe, da wußte
der
Herr Minister mir nichts anderes zu erwidern,
als wörtlich Folgendes:
Man habe die
sozialdemokratische
Bewegung eine Zeitlang gehen lassen, damit die
Welt sähe, was es damit für eine
Bewandtniß habe;
(Heiterkeit)
erst seit 1
1/2 Jahren sei die
Frucht zum Pflücken reif.
Meine Herren,
wir sind nie im Zweifel gewesen, was es mit
der Sozialdemokratie für eine
Bewandtniß habe. Wir haben das unsrige
zu jeder
Zeit gethan, damit die Saat nicht aufgehe und
die Frucht nicht reif werde. Wir
stehen im entschiedensten Gegensatz zu jenen
Zielen und zu dem Programm der
Sozialdemokraten, wie er entschiedener
überhaupt gar nicht bestehen kann. Was
will die Sozialdemokratie? Sie will die
ausschließliche Produktion durch den
Staat, den ausschließlichen
Staatsbetrieb. Wir sind der Meinung,
umgekehrt,
daß, wenn man, wie es die
Sozialdemokratie will, das eigene Interesse,
die
Selbstverantwortlichkeit des Einzelnen auf ein
Minimum reduzirt in der
Volkswirthschaft, wenn man diese Faktoren
ausschließt, matt setzt in der
Produktion, damit die Produktion und die
Kulturentwickelung auf ein Minimum
zurückgedrängt würde.
(Sehr richtig!)
Darum, meine
Herren, stehen wir so außerordentlich
kühl,
nüchtern gegenüber, auch wenn es
sich nur um eine Ausdehnung des
gegenwärtigen
wirthschaftlichen Staatsbetriebs handelt,
beispielsweise in der
Reichseisenbahnfrage, beispielsweise in der
Frage des Tabakmonopols. Der Herr
Reichskanzler freilich, wenn er den angeblich
übermäßigen
Geschäftsgewinn der
Tabakhändler dem Staat zuwenden will, der
steht, ohne sich vielleicht dessen
klar bewußt zu sein, der sozialistischen
Anschauungsweise weit näher.
(Sehr richtig!
Heiterkeit.)
Der
sozialistische Staat hat die Vernichtung der
persönlichen
und politischen Freiheit zur Vorbedingung.
(Widerspruch bei
den Sozialisten.)
— Jawohl!
Krasser Despotismus einer Majorität oder
einzelner
weniger Leute, die dem Einzelnen vorschreibt,
was er zu arbeiten hat, was er
dafür für einen Lohn empfängt
und was er dafür zu konsumiren hat; das
ist der
sozialistische Staat.
(Widerspruch.)
Es ist ja
alles, was die Sozialisten wollen, gedruckt zu
lesen; über ihre Tendenz ist ja nur die
Polizei im Unklaren.
(Große
Heiterkeit.)
Uns, meine
Herren, werden Sie stets in der Opposition
finden, wenn es darauf ankommt, diese
persönliche, politische und
wirthschaftliche
Freiheit des Einzelnen zu beschränken,
während die Sozialisten, wenn es sich
nicht gerade um die Freiheit des Arbeitnehmers
handelt, das habe ich schon
einmal zu bemerken Gelegenheit gehabt, weit
mehr mit den andern Parteien des
Hauses zusammenstimmen, wie mit uns. Meine
Herren, wir sind der Meinung, daß
Kulturentwicklung, wirthschaftliche
Entwicklung in erster Reihe beruht auf dem
Verhalten des einzelnen und dem freien
Zusammenwirken des einzelnen in der
bürgerlichen Gesellschaft, in der
Volkswirthschaft. Auf jener Seite wirft man
die ganze Verantwortlichkeit der Zustände
auf den Staat, glaubt, daß der Staat,
wie ein sozialdemokratischer Schriftsteller
sich ausdrückt, der sozialistische
Staat die Allmacht, Weisheit und Güte
repräsentiren werde, die man in der
heutigen Weltordnung dem Herrgott zuschreibt.
Wir hören auch hier sehr oft von
anderen Parteien, daß man der
Verantwortung des Staates mehr zuweist, als
der
Staat verantworten kann. Wenn hier die
Regierung und sei es selbst eine
Regierung, gegenüber der wir uns in
Opposition befinden, verantwortlich gemacht
wird, beispielsweise für das
Darniederliegen des Gewerbes, dann sind wir
jedesmal eingetreten für diese Regierung
und die einzelnen Männer von ihr,
indem wir ausführten, es darf eine
Regierung, und möge sie sein, welche sie
wolle, nicht für mehr verantwortlich
gemacht werden, als überhaupt der Staat
verantwortlich gemacht werden kann. Freilich
fängt man in bedenklicher Weise
jetzt seitens der Regierung selbst an, die
Verantwortung übernehmen zu wollen
für die wirthschaftliche Gestaltung der
Verhältnisse, man sucht den Glauben zu
erwecken in der Regierungspresse, als ob es
bloß eines neuen wirthschaftlichen
Programms, anderer Maßnahmen der
Regierung bedürfe, um die
gegenwärtigen
wirthschaftlichen Nothstände zu
beseitigen. Solche Anschauungen über die
Verantwortung des Staats, wie sie bei den
Sozialdemokraten in größter
Ausdehnung vorhanden sind, findet man bei
keiner Partei weniger als bei uns.
Meine Herren,
der Herr Abgeordnete Jörg hat die
sozialistische Bewegung bezeichnet als einen
Schatten, der das moderne
Kulturleben begleitet. Ich weise das
zurück. Meine Herren, das ist der
Schatten
des untergehenden Polizeistaats, der noch in
unser Kulturleben hineinfällt; der
Polizeistaat hat die Menschen erzogen in dem
Wahn, daß es nur auf den Staat und
die Staatsgewalt ankomme, um die
größte Glückseligkeit auf der
Welt
hervorzubringen. Daher ist in den Köpfen
jener Leute die Meinung entstanden,
daß es nur darauf ankomme, des
Staatsruders sich zu bemächtigen, seine
Leute in
die Leitung des Staates einzusetzen, und jene
geträumte Glückseligkeit sei sofort
zu erreichen, die angeblich jetzt aus
bösem Willen von denen, die den Staat
leiten, ihnen vorenthalten wird.
Die
Sozialdemokratie, meine Herren, ist
indeß nach meiner
Ueberzeugung weniger gefährlich in den
utopischen Zielen, die sie anstrebt, als
in den Mitteln, die sie anwendet, um zu diesen
Zielen zu gelangen.
(Sehr richtig!
links.)
Jene Aufregung
des Klassenhasses, die Erweckung des
Klassenbewußtseins,
wie sie selbst sagt, das Aufreizen der
besitzlosen gegen die mehr besitzenden,
der einzelnen Volksklassen gegen einander,
darin liegt die große Gefahr, die
Schädigung der wirthschaftlichen und
bürgerlichen Gesellschaft. Wir sind immer
der Meinung gewesen, daß gerade nach der
Seite der Sozialdemokratie in freiem
Zusammenwirken entgegen zu treten, Aufgabe
aller dazu berufenen Kräfte in der
bürgerlichen Gesellschaft weit mehr ist,
als Aufgabe der Polizei.
Es ist auch
auf die Wirksamkeit der Kirche Bezug genommen.
Nun, meine Herren, der Herr Abgeordnete
Jörg wird selbst das Wirken der
Hofprediger in Berlin damit nicht in
Verbindung bringen wollen. Wir möchten in
der That wünschen, daß die Herren
davon wenigstens die Hand lassen und sich
daraus beschränken, was sie verstehen,
sie verstehen ja selbst ihren Beruf
wenig. Meine Herren, ich verkenne die Wirkung
der Kirche auf dem Gebiete der
Erhaltung des Friedens unter den einzelnen
Volksklassen durchaus nicht, aber
über die Grenzen der einzelnen
Konfessionen und Religionsparteien hinaus gibt
es ein gemeinsames Band, einen gemeinsamen
Bund, der alle vereinigen muß in
humanen Bestrebungen. Das hat mein Freund
Schulze schon zu einer Zeit
ausgesprochen, als zum letzten Mal wohl die
Frage so ausführlich
parlamentarisch erörtert wurde, wie sie
heute erörtert wird, bei jener Debatte
über die Koalitionsfreiheit im
preußischen Abgeordnetenhause im Jahre
1865. Er
sagte damals:
Die soziale
Frage ist keine
spezifische Frage, die man mit irgend einem
spezifischen Mittel gleich den
Wunderpillen eines Quacksalbers zu
lösen vermag. ..... Wir, meine Herren,
dagegen bescheiden uns, daß das, was
der Einzelne in dieser großen Frage
thun
kann, unendlich wenig ins Gewicht
fällt; wir bescheiden uns, daß
wir zu
verharren haben in unserer dauernden und
ruhigen Thätigkeit für die Sache;
wir
wissen, daß die sozialen Aufgaben und
die politischen Aufgaben für uns
dasselbe
sind, und daß sie in ihren Endzielen
und in ihren Voraussetzungen zusammenfallen.
Es gilt, uns nicht nur in dem
verfassungsmäßigen Rechtsstaat
auf dem Boden der
wirthschaftlichen und politischen Freiheit
einen Bau zu gründen, in dem alle
Klassen des Volkes ihren Platz finden; nein,
es gilt auch, diesen Bau als die
würdige
Form mit dem würdigen Inhalt zu
erfüllen, mit dem Geist der neuen Zeit,
und das
ist der Geist der Humanität. Dazu helfe
uns das Volk.
Meine Herren,
der Redner hat es wahrlich seinerseits nicht
bei dieser Rede bewenden lassen, sondern ein
arbeitsvolles Leben darauf
verwandt, nach einzelnen Richtungen
allerdings, diese Gebote der Humanität
den
arbeitenden Klassen gegenüber zu
erfüllen. Fern sei es von mir, diese
Bestrebungen vom Fraktionsstandpunkt aus in
Anspruch zu nehmen. Nein, meine
Herren, alle diese Bestrebungen nach den
verschiedenen Richtungen auf dem
Gebiet der Humanität gehen weit hinaus
über die Grenzen unserer und auch der
benachbarten Partei; sie sind sehr
großen und weiten Kreisen des Volkes
gemeinsam. An uns braucht deshalb nicht die
Aufforderung erst heute gerichtet
zu werden, in einen Bund einzutreten, um auf
dem praktischen Wege durch
positive Schöpfungen der einen oder der
anderen Art dazu beizutragen, daß der
Klassenhaß vermieden wird, daß
sich die Bürger als Bürger eines
Staates fühlen,
daß diejenigen, die im Besitz und Wissen
in der bürgerlichen Gesellschaft
günstiger gestellt sind, dieses ihr
Kapital auch verwenden im Interesse
derjenigen, die ungünstiger gestellt
sind. Die Gefahr ist vorhanden, wenn man
den Gegensatz der Klassen ausbeutet zu
politischen Zwecken, wenn man sich nicht
scheut, den politischen Parteikampf in den
Klassenkampf hineinzutragen. Darin
stimme ich mit dem Herrn Abgeordneten von
Helldorff in seinen heutigen
Ausführungen vollständig
überein.
Vor jener
Gefahr ist damals von unserer Seite wahrlich
scharf genug gewarnt worden. Der Abgeordnete
Schulze machte damals eine
Aeußerung, die ihm nachher in
sozialistischen Kreisen, natürlich unter
Entstellung ihres wirklichen Inhalts, stets
nachgetragen worden ist. Er sagte:
Man mag wohl die
soziale Frage
die moderne Sphynx unserer Zeit nennen,
meine Herren. Nun gibt es in der
menschlichen Natur, bei uns allen, wie wir
sind, bei groß und klein, bei
vornehm und gering eine dunkele Grenzlinie,
wo das Thierische an das
Menschliche streift, und wehe dem, meine
Herren, das sind die Erfahrungen aller
Jahrhunderte, wer muthwillig und mit
frivoler Hand an diese Grenzlinie tastet:
der entfesselt die Bestie, die ihn mit
seinen Löwenklauen zerfleischen wird.
Gegen wen war
damals diese Warnung gerichtet, nicht an die
Leidenschaft, nicht an den Klassenhaß zu
appelliren? Gegen die konservative
Partei des preußischen
Abgeordnetenhauses, gegen den Wortführer
in dieser
Frage, gegen den Abgeordneten Wagener.
(Hört!
hört! links.)
Heute ist
wieder von konservativer Seite von den
Arbeiterbataillonen gesprochen worden. Es war
in eben jener Sitzung, als zum
ersten Male von konservativer Seite den
liberalen Parteien mit dem
Massenschritt der Arbeiterbataillonen gedroht
wurde. Meine Herren, dieser
Warnung in jener Sitzung war eine andere
Warnung an die konservative Partei und
an die Regierung vorausgegangen aus dem Mund
des Abgeordneten Löwe, der damals
sagte, man möge sich an den
Zauberlehrling ein warnende Beispiel nehmen,
der
die Geister, die er berufen hatte, nachher
nicht wieder zu bannen vermochte.
Heute ist gesagt worden von dem Herrn
Abgeordneten Grafen von Bethusy-Huc, es
liegen keine erwiesenen Thatsachen über
einen Zusammenhang der Regierung mit
der Sozialdemokratie vor. Doch, meine Herren,
nur zu sehr liegen sie vor. In
jener Verhandlung des Abgeordnetenhauses wurde
die Stellung des Abgeordneten Wagener,
die Stellung des Fürsten Bismarck zu
einer schlesischen Weberdeputation scharf
beleuchtet; der Abgeordnete Wagener war schon
damals in der sozialen Frage
leider der Vertrauensmann des Fürsten
Bismarck und ist kurze Zeit darauf sein
amtlicher Vertrauensmann geworden und hat die
Stellung lange bekleidet; Sie
haben noch heute aus dem Munde des Herrn
Abgeordneten Jörg gehört, wie Herr
Wagener zu einer internationalen Konferenz im
Jahre 1872 über die
sozialdemokratische Frage von dem Fürsten
Bismarck verwendet worden ist, ja
noch mehr, nachdem der Herr Abgeordnete Lasker
bereite die wahre Natur Wageners
entlarvt hatte im Jahre 1874, hat der
Fürst Bismarck diesen selben Mann zum
sozialistischen Kongreß nach Eisenach
als Vertrauensmann gesandt, in dessen
Gefolge sich als Sekretär auch der in der
letzten Zeit vielfach genannte Rudolf
Meyer befand. Meine Herren, was man darum
über Wagener sagt, trifft mehr als
ihn, trifft die Regierung. Wie war es denn mit
der schlesischen Weberdeputation?
Im April 1864, als Lassalle seiner Agitation
eine gewisse Ausdehnung gegeben
hatte, erschien aus Waldenburg und
Wüstegiersdorf eine Deputation von Webern
mit einer Adresse an den König, worin sie
verlangten, es solle ein Gesetz
gegeben werden, daß den Arbeitern eine
Mitwirkung bei den Lohnfestsetzungen
eingeräumt
werde. Diese Adresse war hauptsächlich
angefüllt mit Klagen und Beschwerden
über die Lage der Arbeiter unter den
liberalen Fabrikbesitzern jener Gegend,
insbesondere des Abgeordneten Leonor
Reichenheim, eines Mannes, der mehr wie
andere Arbeitgeber für die Verbesserung
der sozialen Verhältnisse seiner
Arbeiter gethan hat. Im folgenden Jahre bei
dieser Verhandlung, von der ich
spreche, hat Fürst Bismarck anerkennen
müssen nach einer veranstalteten
Enquete, daß es größtentheils
Unwahrheiten gewesen sind, die in jener
Adresse
behauptet waren. Alle lokalen Beamten, der
Oberpräsident, der Landrath, haben
davon abgerathen, einer Deputation Gehör
zu geben, die solche Unwahrheiten
verbreiteten. Der Minister des Innern hat es
abgelehnt, sich mit der Deputation
zu befassen; Fürst Bismarck
persönlich ist es gewesen, der diese
Deputation
beim König damals einführte,
Fürst Bismarck persönlich ist es
gewesen, der
Seiner Majestät den Rath gegeben hat,
diese Weber mit einer
Kapitalunterstützung —
(Ruf: Zur
Sache!)
Es gehört
leider das zur Sache; wenn man solche Dinge
verstehen will, muß man auf den Anfang
zurückgehen, ehe die Bewegung um sich
griff, und wo man noch mit leichten Mitteln
sie beherrschen konnte. — Fürst
Bismarck ist es gewesen, der veranlaßt
hat eine Unterstützung der Weber zuerst
mit 6000 Thaler Kapital, dann nochmals mit
6000 Thaler Kapital, um getreu nach
Lassalleschem Muster eine Produktivassoziation
mit Staatshilfe im Waldenburger
Kreise in Szene zu setzen, eine
Produktivassoziation, die trotz der Aufsicht
des Landraths sehr bald zu Grunde gegangen
ist. Ich bin Zuhörer gewesen bei der
letzten Vertheidigungerede von Ferdinand
Lassalle vor dem Düsseldorfer Gericht,
wo er sich berief auf die Sympathien, die
seine Bestrebungen beim König von
Preußen und beim Bischof Kettler
fänden.
Lange genug hat in sozialistischen
Versammlungen die Frage auf der
Tagesordnung gestanden: der König von
Preußen und die soziale Frage. —Ich
klage
nur den an, der den Rath dazu gegeben hat, in
dieser Weise zu verfahren. Damals
hat ein so milder Mann wie Leonor Reichenheim
— längst deckt ihn die Erde —
keinen Anstand genommen, im preußischen
Abgeordnetenhaus die Sache zu
bezeichnen, was sie ist. Er hat gesagt, indem
er das darstellte, was ich eben
angeführt habe: „daraus mag man erkennen,
daß das ganze ein Spiel war, ein so
trauriges Spiel, wie es je gespielt worden
ist. zum Nachtheil, ich wiederhole es,
des Königthums von Gottes Gnaden.“
Meine Herren,
der Führer jener Deputation — noch im
vorigen
Jahre bemerkte ich seinen Kopf in der
sozialistischen Agitationsversammlung,
las ich in den Inseraten der „Berliner freien
Presse“ einen Vortrag
angekündigt, den er in der
sozialistischen Versammlung bei Gratweil hier
in
Berlin gehalten hat. Es hat jene Auszeichnung
der Deputation in weiten Kreisen
dazu beigetragen, die Bevölkerung irre zu
machen, die Behörden zweifelhaft zu
machen über die Stellung, welche die
königlichen, Behörden eigentlich der
neu
auftauchenden Bewegung gegenüber
einzunehmen hätten. Es kam die Zeit des
Herrn
von Schweitzer, es erschien der „Neue
Sozialdemokrat“, der verkündigte, die
liberalen Parteien wollten das Elend der
Arbeiter, an die konservativen
Parteien, an den Fürsten Bismarck
müsse man sich anschließen, der
werde für den
armen Arbeiter etwas thun. In jener Zeit war
Liebknecht Redakteur der „Norddeutschen
Allgemeinen Zeitung.“ .
(Hört!
hört!)
Ich trete
Herrn Liebknecht nicht zu nahe. Herr
Liebknecht
schied in jenem Jahre 1865 aus der Redaktion
aus. In einer seiner Schriften
theilt er mit, daß er ausgeschieden sei,
als diese „Norddeutsche Allgemeine
Zeitung“ Regierungsorgan geworden. Es sei ihm
angeboten, auch in dem Regierungsorgan
nach wie vor über Sozialismus und
Kommunismus in seinem Sinne zu schreiben,
(hört!
hört!)
er habe das
aber abgelehnt, um sich nicht in diese
Bewegung
einzulassen. Gleich darauf ist Liebknecht
damals aus Berlin ausgewiesen worden.
Es erregte das umsomehr Aussehen, als es eine
sehr vereinzelte Maßregel war,
die man damals gegen Sozialdemokraten
ausübte. Wer noch jene Zeiten im
Gedächtniß hat, — ich kenne sie
genau, ich habe damals eine Geschichte der
Sozialdemokratie über das Jahr 1865
geschrieben nach Protokollen, die über
sozialistische Versammlungen aus Veranstaltung
der liberalen Parteien geführt
wurden, — der weiß, daß zu jener
Zeit zwischen der Haltung des
Regierungsorgans, der „Norddeutschen
Allgemeinen Zeitung“ und des
sozialdemokratischen Organs in Berlin darin
kein Unterschied mehr war, daß
dieselben Stichworte gegen die liberalen
Parteien und die damalige Majorität
des Abgeordnetenhauses ausgespielt wurden.
Herr Bebel hat
hier im Reichstag über Herrn von
Schweitzer,
der bis zum Jahr 1872 Präsident des
allgemeinen deutschen Arbeitervereins in
Berlin gewesen ist, am 9. Dezember 1875
folgendes erklärt:
Wir aber wissen
es, daß Herr von
Schweitzer, der sozialistische Führer,
im geheimen ein politisches Werkzeug der
preußischen Regierung war, der unter
radikaler Maske den Regierungsagenten
spielte.
Meine Herren,
der Herr Hasenclever, der zu jener Zeit, als
von Schweitzer Präsident des Vereins war,
Sekretär des Vereins war, hat den
Herrn Abgeordneten Bebel noch nicht berichtigt
in Bezug auf diesen Punkt.
Man muß
doch annehmen, daß die Herren ihre
eigene
Vorgeschichte selbst am besten kennen. Ich
kann nicht sagen, daß ich es für
eine Verleumdung halte, wenn man eine solche
Behauptung aufstellt, daß die
sozialdemokratische Bewegung in Berlin bis
in das Jahr 1872 hinein wesentlich und in der
Hauptsache ein Kunstprodukt
gewesen ist, das von einer Seite
unterstützt und subventionirt worden ist.
Wir
haben auch in jener Zeit in Berlin versucht,
unsere Schuldigkeit zu thun in der
Bekämpfung solcher Agitationen.
Gleichgiltig aber ob damals die
Sozialdemokratie wirklich im Bunde war, durch
Schweitzer, Wagener, oder wer
sonst die Verbindungskette bis zur Regierung
hinauf bildete, das muß ich sagen
nach meiner eigenen Erfahrung, das
Zusammenspiel zwischen der offiziösen
Presse
und zwischen dem Redner Herrn Geheimrath
Wagener im Reichstag und der Haltung
der sozialdemokratischen Presse in Berlin
hätte in jener Zeit nicht besser sein
können, als wenn sie wirklich im Bunde
miteinander gewesen wären. Wir haben
damals versucht, auch unsererseits durch
Versammlungen die Sozialdemokratie zu
bekämpfen. Wie ist es uns aber ergangen?
Seit dem Jahr 1869 wurde das Präjudiz
gegeben, daß alle politischen
Versammlungen in Berlin vogelfrei waren,
preisgegeben dem Eindringen jeder noch so
kleinen Bande von Skandalmachern und
Störern. Das erste Beispiel der Art wurde
gegeben im Konzerthause an der
Leipziger Straße. Es handelte sich in
der damaligen Versammlung um eine
militärische Frage. Die
Sozialistenführer erlaubten sich damals
den Scherz, die
Versammlungen, die von der Fortschrittspartei
oder sonst einer Partei
angekündigt waren, gleichfalls bei der
Partei als ihre Versammlung
anzukündigen, obwohl sie dem
Hausbesitzer, dem Wirth gegenüber dazu
kein Recht
besaßen. Nun drangen sie ein und
störten die Versammlung durch Tumult. In
diesem Falle entstand eine förmliche
Prügelei in der Versammlung und machte
eine ruhige Abhaltung derselben
unmöglich. Der Minister des Innern
(Ruf:
Vereinsrecht!)
Ja, meine
Herren, wir sprechen von der Handhabung des
Vereinsrechts, jetzt bin ich bei der Sache, um
den Ministern zu beweisen, wie
das Vereins- und Versammlungsrecht gehandhabt
wurde. Es mag sein, daß diese
Sache Ihnen nicht gefällt, aber zur Sache
gehört nichts mehr als dieses. Wir
beschwerten uns in dem preußischen
Abgeordnetenhause über diese Haltung der
Polizei, welche nicht Schutz gewährt den
politischen Versammlungen in Berlin,
sondern ruhig vor der Thür steht und
zusieht, wie eine Versammlung durch
Eindringliche gestört wird. Auf diese
Beschwerde erwiderte der Herr Minister
Graf Eulenburg in der jovialen Laune und
humoristischen Weise, die ihm eigen
ist, im Abgeordnetenhause: was das
großes wäre? Er sagte unter
anderem:
Die Theilnehmer
der zweiten
Versammlung rücken an. Die Polizei hat
keine Berechtigung, ihnen den Eintritt
zu verwehren, sie vermischen sich mit
einander und man hört ein dumpfes
Getöse.
Es wird gemeldet, sie prügeln sich,
aber die Eingänge zum Saal sind so
voll,
daß ein Eindringen der Polizei, um
das, was darin vorgeht, zu hören, nicht
möglich ist. Es müßte erst
eine neue Prügelei stattfinden, um sich
Eingang zu
verschaffen. Unter diesen Umständen
muß sich die Polizei darauf
beschränken, zu
warten, bis sich der Lavastrom ergießt
und bis die Unordnung aus dem
Versammlungslokal hinaus tritt auf die
Straßen und dort das Publikum
stört.
Der Minister
fügte noch ausdrücklich hinzu:
Das sind die
Gesichtspunkte, von
denen. die Polizei auszugehen hat.
(Heiterkeit.)
Wenn so ein
Minister die leitenden Gesichtspunkte in
dieser
Weise im Abgeordnetenhause aussprach, wenn er
gewissermaßen das Versammlungsrecht.
als nicht mehr unter dem Schutze der Polizei
und des Staates stehend
erklärte, jede politische
Versammlung
für vogelfrei erklärte, darf man
sich wundern, meine Herren, daß die
sozialdemokratische Partei von dem Augenblicke
an sich ermuntert fühlte,
überall in die Rechtssphäre anderer
Parteien, in ihr Versammlungsrecht
einzubrechen? Nicht das wollen wir, daß
die Freiheit auf dem Gebiete des
Versammlungswesens beschränkt werde, aber
wir klagen die Regierung an, daß sie
ihre Machtmittel nicht benutzt hat, um die
Freiheit anderer gegen diese Eingriffe
der sozialdemokratischen Partei zu
schützen, daß sie das
natürliche Hausrecht
in Versammlungen und Vereinen nicht unter
polizeilichen Schutz gestellt hat.
Die Zahl derjenigen, die an einer politischen
Versammlung sich betheiligen
wollen, wenn sie vorher Theil nehmen
müssen an einer Prügelei, ist
natürlich
eine viel geringere.
(Heiterkeit.)
Seit jener
Zeit, seit dieser Versammlung im Konzerthaus
hat
ein freies Versammlungsrecht, haben
Volksversammlungen in Berlin nur bestanden
für die sozialistische Partei,
(hört!)
allen anderen
Parteien ist es, um sich gegen solchen
Einbruch und solche Verfälschung zu
schützen, nur möglich gewesen, den
Zutritt
gegen Karten zu gestatten. diese Praxis der
Sozialdemokraten, in fremde
Versammlungen einzubrechen,
(Ruf:
Volksversammlungen !)
— nicht
Volksversammlungen! Das ist schon zehnmal hier
bewiesen worden, daß sie eingedrungen
sind in Versammlungen der
nationalliberalen Partei, das letzte Mal unter
dem Vorsitzenden Herrn Dernburg,
in Versammlungen der Fortschrittspartei, wo
ich selber zugegen war und wo sie
gar nichts zu suchen hatten.
(Heiterkeit.)
Es war gerade
dies eine Versammlung der Fortschrittspartei,
die aus meine Veranlassung zum ersten Mal
wieder ohne Austheilung von Karten
stattgefunden hatte. Sofort — sie sind nur
eine Kleinigkeit zu spät gekommen —
sind Sozialdemokraten eingedrungen, und ihre
Führer konnten nur durch Polizei
beseitigt werden; die Sache hat später
auch bei Gericht gespielt. — So also,
wie ich es vorhin geschildert, ist früher
das Versammlungsrecht schutzlos
gewesen, man hat mit einer gewissen
wohlwollenden Neutralität es angesehen,
daß
die Versammlungs- und Vereinsfreiheit durch
dritte Personen viel mehr
beschränkt wurde, als das jemals durch
Polizei und Polizeigesetze der Fall
gewesen ist. Das hat viel dazu beigetragen,
die sonst natürliche Reaktion gegen
die sozialistische Agitation lahm zu legen.
Nun, meine Herren, man spricht wohl
von liberalen Parteien, von der Herrschaft der
liberalen Parteien, unter denen
die Sozialdemokratie diese Ausdehnung gewonnen
hat. Ich muß Ihnen sagen, von
einer Herrschaft der liberalen Parteien habe
ich in der Zeit, wo die
sozialdemokratische Bewegung begonnen hat,
sehr wenig bemerkt, wir haben die
ganze Zeit hindurch eine konservative
Regierung gehabt
(Oho!)
— gewiß!
die noch dazu von einer persönlichen
Autorität
getragen war, vielmehr als das vorher oder
nachher bei einer Regierung der Fall
sein wird. Die Sozialdemokratie ist nicht
älter als das Ministerium Bismarck;
die Probe ist noch gar nicht gemacht, welche
Nahrung und welchen Spielraum eine
derartige Bewegung unter einer wirklich
liberalen Regierung findet. Etwa die
Sozialdemokratie nun als eine Frucht der
Regierung des Fürsten Bismarck
hinzustellen, den Spieß umzukehren, den
er gegen uns gekehrt hat, dessen wollen
wir uns nicht schuldig machen, nein! ich sage,
nur durch dieses Verhalten in
der ersten Zeit und in der entscheidenden
Entwicklungsperiode hat das Ministerium
mehr zum Fortkommen der sozialistischen
Bewegung beigetragen, als es an sich
sonst der Fall gewesen wäre. Das ist ja
vollständig richtig, den eigentlichen
Umfang, die eigentliche Größe und
Bedeutung hat die sozialdemokratische Partei
erst gefunden seit dem Jahre 1872. Es ist
gesprochen worden von der Schule, von
der Bedeutung der Schule auf die Erziehung.
Der Abgeordnete Jörg hat gesagt,
diese Schule, der man die religiösen
Elemente mehr und mehr entzogen, die
moderne Schule sei das eigentliche Seminarium
der Sozialdemokratie. Nun, meine
Herren, alle die Sozialdemokraten, die jetzt
da sind, bis zum zwanzigsten
Lebensjahr herunter, die sind aus der
religiösen Musterschule, wie sie Herr von
Mühler eingerichtet und verwaltet hat.
(Lebhafter
Beifall links.)
Das sind die
echten und rechten Musterkinder der
preußischen
Regulative! Sie haben ihre Schulzeit absolvirt
noch unter dem Regime Mühlers,
noch während alle diese religiösen
Elemente, von denen die Rede ist,
vollständig die Herrschaft über die
Schule hatten, wie man sie nicht besser
wünschen konnte. Wenn man vielleicht etwa
sagen wollte, das Ministerium Falk,
welches nun gefolgt sei, habe für die,
die aus der Schule entlassen seien,
durch seine Stellung zur Kirche und Schule
entgegengewirkt, dann muß ich doch
sagen, die religiöse Erziehung, diese
Ausbildung muß doch sehr schwach und
äußerlich gewesen, die durch das
bloße Erscheinen eines anderen Ministers
wieder in ihrer Wirkung hätte
neutralisirt werden können. Dasjenige,
was wir an
der Volksschule in jenen Zeiten auszusetzen
haben, ist ja das, daß sie aus die
Entwickelung des Denkvermögens zu wenig
Werth und Sorge gelegt hat, um desto
mehr stark im Glauben zu machen und nebenbei
auch das Gedächtniß möglichst
zu
stärken. Nun, meine Herren, diese
Stärkung im Glauben bei einseitiger
Entwickelung
des Denkvermögens kann auch dazu
führen, wenn der Glaube eine falsche
Richtung
bekommt, daß man eben so gern bereit
ist, an die Wunder, die Herr Most für das
sozialistische Jenseits verkündet, zu
glauben.
(Heiterkeit.)
Wenn ich auf
die Agitatoren der Sozialdemokratie sehe, so
muß ich es bewundern, mit welcher
Akkuratesse sie die Kernsprüche aus den
Schriften der Sozialdemokraten wiedergeben,
wie sie stundenlang Reden mit einer
großen Gedächtnißkraft zu
halten vermögen;
(Heiterkeit)
da muß
ich mir oft sagen, wenn sie solche Leistungen
hervorbringen,
die nicht im Verhältniß zu ihrem
sonstigen Bildungsstandpunkt stehen, daran
zeigt es sich, wie sehr gerade in jener Zeit
das Gedächtniß geübt worden
ist
durch die große Zahl Kernsprüche,
Gesangbuchlieder, die diese jungen Leute
seiner Zeit haben auswendig lernen
müssen.
(Heiterkeit.)
Freilich die
Gesangbuchlieder sind längst vergessen.
An
Stelle der biblischen Kernsprüche sind
andere getreten. Wäre nur das Denken
etwas mehr entwickelt worden!
Meine Herren,
darüber ist bei mir kein Zweifel,
daß die
sozialistische Bewegung der letzten Jahre eine
Folge ist der wirthschaftlichen
Verhältnisse. In der That hat sich die
sozialistische Bewegung gerade an der
Magenfrage
in den letzten Jahren entwickelt. Jene
Nachwirkung des Kriegs, jene
Gründerperiode, die große Nachfrage
nach Arbeitern, das Bestreben der
Arbeitgeber, sich untereinander die Arbeiter
abspenstig zu machen, das hat diese
Arbeiterverhältnisse damals so
aufgelockert, nicht irgend ein Paragraph eines
neuen Gesetzes. Jene Auflösung der
Arbeiterverhältnisse ist ein Produkt der
wirthschaftlichen Verhältnisse dieser
Jahre gewesen; in diesem ausgelockerten
Boden ist die Saat fruchtbringend gefallen, da
hat sie jene Entwickelung
gefunden. Man hat sich von sozialistischer
Seite der Lohnfrage überall
bemächtigt, wo. unzufriedene Arbeiter
vorhanden waren, man hat Strikes
organisirt, man hat den Lohnstreit als Partei
auszufechten gesucht und hat sich
auf dem Boden der Lohnfrage jene Organisation
geschaffen, die man nachher
politisch zu verwerthen bestrebt gewesen ist.
Nachher hat die wirthschaftliche
Lage ein umgekehrtes Bild gezeigt.
(Ruf aus der
äußersten Linken: Altenburg!)
Es ist der
Krach, der Rückgang der Löhne
eingetreten. Nun
hat man sich der Unzufriedenheit über
diese Verschlechterung der Verhältnisse
bemächtigt, nun hat man auch diese
Unzufriedenheit der Arbeiter politisch zu
verwerthen gesucht. Die Bewegung hätte
aber nach meinem Dafürhalten nicht den
Umfang und die Ausdehnung gewinnen
können, wenn ihr nicht zu Hilfe gekommen
wäre eine große apathische
Stimmung, eine Zurückhaltung in
öffentlichen
Angelegenheiten in weiten Klassen der
Bevölkerung. Gegen diese Klassen erhebe
ich mit den Rednern anderer Parteien meine
Vorwürfe, wir wollen aber auch diese
Apathie zu verstehen suchen. Es hat eine Zeit
gegeben unmittelbar nach den
großen militärischen Erfolgen, wo
ein unberechtigter Optimismus platzgriff,
weil man glaubte, wir wären nicht
bloß die tapferste, sondern auch
gebildetste
und reichste Nation, es verstehe sich jetzt
alles ganz von selbst, die
Entwickelung schreite siegreich vor. Diese
optimistische Stimmung in weiten
Kreisen der Bevölkerung hat auf die
ruhige, thätige, politische Arbeit nicht
günstig eingewirkt. Es ist dann ein
Umschwung eingetreten, es sind die Zeiten
des Pessimismus gekommen, in denen man sagte,
wir Deutsche können nur billig
und schlecht produziren, wir gehen der
wirthschaftlichen Verarmung entgegen, es
ist keine Rettung. Auch diese pessimistische
Stimmung hat entgegen gewirkt der
Theilnahme des Volks an der Bekämpfung
der Sozialdemokratie; ja, meine Herren,
diese pessimistische Stimmung hat sehr viel
verwandtes mit der
Sozialdemokratie. Wenn ich einen großen
Theil der schutzzöllnerischen Presse
mir ansehe, für die ich übrigens
keinen Theil des Hauses verantwortlich mache,
wenn ich dort lese, daß die
Freihändler an Elend und Noth Schuld
seien, wenn
man hier dem Büreau Bilder einschickt,
auf welchen eine hungernde Familie
dargestellt ist und dabei die Köpfe von
Mitgliedern dieses Hauses als Ursache
dessen, so kann man es nicht leugnen; diese
Agitationen stehen mit denen der
Sozialisten auf einer Höhe.
(Sehr wahr!)
Die Theilnahme
an den Wahlen hat von Seiten der gegnerischen
Parteien der Sozialisten sehr viel zu
wünschen übrig gelassen, aber nicht
ohne
Schuld ist die Regierung daran. Wenn die
Regierung sich nicht für
verantwortlich erachtet der Mehrheit des
Volks, dem Parlament, der Volksvertretung
gegenüber, die aus den Wahlen hervorgeht,
kann man sich nicht wundern, wenn die
einzelnen Wähler sich auch weniger
verantwortlich fühlen für den
Ausfall, wenn
die rechte Energie der Betheiligung an der
Wahl fehlt. Die letzten Wahlen haben
in weiten Kreisen Verwunderung erregt, haben
das Bestreben wachgerufen, den
Bestrebungen der Sozialdemokraten entgegen zu
treten. Diese Bestrebungen sind
lebendig geworden, sie haben in der letzten
Zeit nachgelassen. Nun kommt das
Attentat, meine Herren. Mir liegt es durchaus
fern, die sozialistische Partei
irgend dafür verantwortlich zu machen,
ich bin der Meinung, dieses Attentat ist
viel weniger ein politisches Attentat als
andere Attentate der letzten
Jahrzehnte. Das Attentat ist das Werk einer
verlumpten, verlotterten, von
Jugend auf verwahrlosten Persönlichkeit,
die ihrem Trieb zum Zerstören, ihrer
Bestialität Ausdruck zu verleihen suchte,
und dabei eine gewisse
Großmannssucht, eitle Prahlerei
entwickelt hat. Die Persönlichkeit hat
die
sozialistische Partei selbst zu beschwindeln
gesucht, ist förmlich von ihr
ausgestoßen worden, hat ihr nur
gewisse
Phrasen entliehen, weil derartige
Persönlichkeiten stets geneigt sind, ihre
eigene Persönlichkeit herauszuputzen mit
Phrasen, wo sie am kräftigsten und dem
Gaumen am schmackhaftesten geboten werden. Der
Zusammenhang dieses Attentats
mit der sozialdemokratischen. Partei ist ein
rein äußerlicher, aber das
muß ich
sagen, in weiteren Kreisen hat dieses Attentat
die Aufmerksamkeit auf die
sozialdemokratische Bewegung gelenkt, und
gerade dadurch, weil dieses Subjekt
sich solcher Phrasen bediente, die eine
erschreckliche Aehnlichkeit mit solchen
Phrasen und Redensarten, wie wir sie in der
„Berliner Freien Presse“ wiederholt
zu lesen gehabt haben. Noch mehr ist die
Bevölkerung erregt worden durch die
Art, wie die sozialdemokratische Presse das
Attentat behandelt hat,
(sehr wahr!)
indem sie das
Attentat nicht als Schlechtigkeit und Wahnsinn
eines einzelnen Menschen, wie sie hier es
dargestellt haben, betrachtet,
sondern auf das Konto der bestehenden Ordnung
der gesellschaftlichen
Einrichtungen gestellt hat. Dadurch ist eine
weit verbreitete Bewegung
allerdings im Volk entstanden, und, meine
Herren, wie alles, was auch noch so
schlechtes auf der Welt geschehen mag, seine
guten Seiten hat, so konnte in der
That diese Schandthat unter den Linden ein
Anfang sein einer weitgreifenden
Reaktion im guten Sinn gegen die
sozialdemokratische Bewegung.
(Lebhafte
Zustimmung.)
Alle Parteien
fühlten sich einig in der Verurtheilung
des
Attentats, mit Ausnahme der Sozialisten, alle
einig in der Kundgebung gegen die
ehrwürdige Person Seiner Majestät
des Kaisers. Da kommt eine solche
Gesetzesvorlage.
Die Sozialisten waren isolirt gegenüber
allen anderen Parteien, jetzt wird
umgekehrt die Einigkeit der anderen Parteien
gestört, diese Parteien erscheinen
jetzt der Regierung gegenüber gespalten;
die Sozialisten, ich will nicht sagen,
sie erscheinen gedeckt, aber sie treten in den
Hintergrund, die Aufmerksamkeit
ist abgelenkt, in erster Linie von dieser
Frage hingelenkt auf diese Gesetzesvorlage.
Meine Herren, kann man wohl ungeschickter
verfahren in der Bekämpfung der
Sozialdemokratie?
(Ruf: Sehr
richtig!)
Kann man der
sozialdemokratischen Bewegung mehr
nützen, als
es dadurch geschieht? Herr Abgeordneter Gras
von Bethusy-Huc sagt: das Volk
verlangt, daß etwas geschehe; Herr von
Helldorff bezeichnet das noch näher: der
loyale, ruhige Bürger verlangt, daß
etwas geschehe, der schlichte Sinn des
Volks verlangt, daß etwas geschehe. Ja,
meine Herren, einen Bruchtheil des
Volks außerhalb hat man bei dieser
Vorlage auf seiner Seite, das ist derjenige
Bruchtheil des Volks, der Ruhe für die
erste Bürgerpflicht hält,
(Heiterkeit)
derjenige,
der, wenn auf der Straße etwas passirt,
den Kopf
aus seiner Zipfelmütze heraussteckt und
fragt, was da los sei und dann sagt,
sofort müsse nach der Polizei geschickt
werden. Hat man nach der Polizei
geschickt, so zieht er den Kopf wieder
zurück und legt sich wieder auf das
Ruhelager und bleibt nach wie vor der ruhige,
loyale Bürger, der niemandem
etwas zu Leid thut. Meine Herren, diese
staatserhaltenden Kräfte erhalten am
wenigsten den Staat.
(Große
Heiterkeit.)
Diese stehen
allerdings auf Seite der Vorlage; diese
verlangen allerdings, daß die Polizei
komme, damit sie selbst um so weniger zu
thun brauchen, damit sie in ihrer elenden
Selbstgenügsamkeit, die diese Art von
Philisterium auszeichnet, von der politischen
Arbeit, vom Eingreifen in das
öffentliche Leben sich fernhalten
können. Aber die thätigen strebsamen
Bürger,
die sich verantwortlich halten für das,
was im Staat geschieht, stehen nicht
auf Seite dieser Vorlage, sie fühlen sich
gekreuzt in ihren Bestrebungen,
abgeschreckt, gestört zum mindesten durch
das, was diese Vorlage an Spaltungen
innerhalb der wirklich staatserhaltenden
Elemente zu Wege bringt. Meine Herren,
an sich erklärlich ist diese Vorlage uns
gar nicht, und eben deshalb kann die
Regierung sich nicht verwundern, wenn man nach
anderen Erklärungsgründen sucht,
wenn in weiten Kreisen sich die Meinung
verbreitet, die Vorlage sei weniger
gegen die Sozialisten als gegen die
Majorität des Reichstags gekehrt. Herr
von
Bennigsen hat mit großer Präzision
die Frage aufgeworfen, ob die Regierung
vorher überzeugt gewesen sei, wie es Graf
Bethusy-Huc andeutete, daß diese
Vorlage die Genehmigung des Reichstags nicht
erhalten werde. Darauf hat Herr von
Bennigsen keine runde und klare Antwort
erhalten, es ist nur geantwortet
worden, die Regierung nimmt diese Vorlage
ernst. Wir wollen wissen, ob sie
vorher überzeugt war, daß diese
Vorlage die Zustimmung des Reichstags nicht
finden werde. Meine Herren, wollen Sie
wirklich den Glauben erwecken, daß diese
Vorlage nicht gegen die nationalliberale
Partei, sondern gegen die Sozialisten
sich kehrt, dann, meine Herren, dann rathe ich
Ihnen, die Meute in der
offiziösen Presse jetzt sehr an die Kette
zu legen,
(Heiterkeit)
denn wenn das
so fortgeht, wenn die Tonart sich steigert,
die jetzt beginnt, dann muß binnen
kurzem der rechtschaffene Landrath, der gute
Gendarm oder wer sonst berufen ist, bei der
Wahl der Zukunft eine große Rolle
zu spielen, wirklich glauben, die
Nationalliberalen seien schuld an der ganzen
sozialistischen Bewegung, der Fraktionsgeist,
der Doktrinarismus — Theorie sagt
Herr von Helldorfs, ich weiß nicht, wie
die Schlagworte alle heißen —, die
seien eigentlich die tiefere Ursache
vielleicht des Attentats selbst. Das kommt
davon, wenn man eine so schlecht disziplinirte
offiziöse Presse hat. Nun, ich
habe mich doch darüber gewundert,
daß die konservativen Parteien nicht
bloß mit
einfacher Zustimmung, sondern mit einem
gewissen Elan die Vorlage anzunehmen
entschlossen sind. Politische Rücksichten
mögen Sie ja dazu bestimmen, aber ich
kann wenigstens nicht begreifen: auf Ihrer
Seite sind gerade auf dem Gebiet der
praktischen Polizei so viel erfahrene,
gebildete Männer, wie die vom Standpunkt
des Polizeitechnikers eine wirklich so
polizeiwidrige Vorlage haben gutheißen
können.
(Stürmische
Heiterkeit.)
Es hat ja eine
Zeit gegeben, wo man meinte, die ganze Kunst
der Kriegsführung bestände darin,
recht scharf draufzugehen, in der man geneigt
war, die sogenannten Haudegen als die
größten Feldherren anzusehen. Heute
gilt
diese Kriegskunst schon längst nicht
mehr. Hätten wir nicht bessere Generale
im
Kriege gehabt, wie wir Polizeiminister in
Preußen haben, wir hätten sehr
traurige Erfahrungen gemacht! Die erste
taktische Regel muß doch sein — so habe
ich es wenigstens immer verstanden — mit dem
Feinde Fühlung zu erhalten, zu
wissen, wo er steht, wo er steckt, wie er sich
entwickelt, welche Verbindungen
er hat, nach welcher Richtung sein Angriff
erfolgen soll. Diese Kenntniß haben
wir jetzt in erwünschtestem Maß.
Ich wünschte nur, daß die Herren
von der
Polizei soviel von den Sozialisten
wüßten wie andere Leute. Die
sozialdemokratische Bewegung entwickelt sich
gerade in der größten
Oeffentlichkeit;
wenn man Kenntniß nehmen will, kann
einem nichts verborgen bleiben in der
ganzen Agitation. Durch das Gesetz heben Sie
diese Kenntniß mit einem Schlage
auf, Sie drängen die Bewegung zurück
aus der Oeffentlichkeit, Sie benehmen sich
die Kenntniß, den Umfang zu
schätzen, Sie verstopfen das
Sicherheitsventil und
befinden sich vor einer Bewegung, die Sie
selbst nicht mehr abzumessen
verstehen.
Sie sagen, die
Verbreitung, die Ansteckung wird vermindert.
Nun, meine Herren, es ist schon
ausgeführt worden, daß diese
Ansteckung, diese
Verbreitung sich nicht allein in der
Oeffentlichkeit vollzieht, daß sie
wirksamer, konzentrirter geschieht in den
Werkstätten, in dem unmittelbaren
persönlichen Verkehr. Man täuscht
sich, wenn man glaubt, die Organisation der
Sozialdemokratie beruhe hauptsächlich auf
der Presse und auf dem
Versammlungsrecht. Nein, meine Herren, die
Grundlage der Organisation ist
gegeben in den Vereinigungen innerhalb der
Werkstätten selbst, dort hat die
sozialdemokratische Partei während der
Lohnstreitigkeiten sich ihre
Verbindungen geschaffen, dort werden die
Verabredungen getroffen, massenhaft
bei Versammlungen zu erscheinen, dort werden
die Blätter kolportirt, dort
werden die Abonnenten gewonnen, dort werden
die Gelder für Agitationszwecke
gesammelt. Es ist überhaupt falsch, zu
meinen, der politische Schaden der
Sozialdemokratie
sei der größte, nein, meine Herren,
die Vergiftung des Arbeitsverhältnisses,
darin liegt der Schaden, die Zerstörung
des Vertrauensverhältnisses zwischen
Arbeiter und Arbeitgeber, die Zerstörung
der Arbeitsfreudigkeit. Die Folgen der
sozialdemokratischen Bewegung, die sich in der
Werkstatt zeigen, das sind die
schlimmsten. Je mehr man die Sozialdemokratie
in die Werkstätten
zurückdrängt,
sie aus der Oeffentlichkeit in die
Werkstätten konzentrirt, um so mehr
steigert
man die Gefahr der sozialdemokratischen
Bewegung. Allerdings, wenn keine
Versammlungen, keine Blätter mehr
existiren, so hört die öffentliche
Reklame auf,
es wird dann nicht mehr in den Markt
hinausgeschrieen, aber dann besorgt die
Polizei die Reklame selber. Es entwickelt sich
dann ein so kleinliches Verfolgungssystem
und muß sich nothwendig entwickeln,
daß dadurch fortwährend die
öffentliche
Aufmerksamkeit im höchsten Maß auf
die sozialistische Bewegung hingeleitet
wird. Das Thema ist noch nicht erörtert,
wie die Polizei selbst durch ihre
kleinlichen und ungeschickten Maßnahmen
dazu beigetragen hat, für die
sozialistische Agitation Propaganda zu machen,
wie sie aus wirklich oft ganz
unbedeutenden Leuten Märtyrer in den
Augen der Menge geschaffen hat. Wir werfen
ihr durchaus nicht vor die zu laxe Handhabung,
nein, meine Herren, wir werfen
ihr vor die zu laxe Handhabung nach der Seite,
daß sie nicht die Rechtssphäre
anderer Bürger gegen die Sozialisten
schützt. Wir werfen ihr auch vor
ungeschickte Handhabung des bestehenden
Gesetzes. Man löst Versammlungen auf.
Ja, meine Herren, es ist bei uns eben das
Unglück, daß immer nur eine Partei
am
Ruder ist, daß immer dieselbe Partei die
Polizeiminister stellt, dieselbe
Partei immer Hammer ist und niemals
Amboß. Wäre das nicht der Fall,
dann würden
die Herren, wenn sie selbst Gelegenheit
hätten, einmal Mitglieder einer
aufgelösten
Versammlung zu sein, dann würden sie erst
wissen, wie ungeschickt und gerade
entgegengesetzt die Auflösung solcher
Versammlungen wirken kann. Gewiß, solche
Versammlungen haben in vielen Fällen den
Zweck, aufzureizen, recht sehr aufzureizen;
aber das besorgt der auflösende Beamte in
vielen Fällen oft besser, als der
Redner von der Tribüne.
Ueber eins
beklage ich mich auch in der Handhabung der
bestehenden Gesetze; nicht darüber,
daß zu wenig Beleidigungsklagen wegen
des
Fürsten Bismarck angestrengt sind, nicht
darüber, daß man politische
Prozesse
gegen die Sozialisten zu wenig angestrengt
hätte; — nein, meine Herren, daß
den
Verleumdungen der Privatehre, wie sie von der
Partei und ihrem Blatte, der „Berliner
freien Presse“, systematisch betrieben worden
sind, daß denen gegenüber die
Polizei weniger am Platz gewesen ist. Ich
spreche nicht von Verleumdungen
politischer Persönlichkeiten, nicht
davon, daß man am Morgen der Wahl des
Abgeordneten von Saucken in der „Berliner
freien Presse“ verkündigte, es seien
eben Arbeiter erschienen, die hätten noch
auf ihrem Rücken die Spuren der
Peitsche gezeigt, die Herr von Saucken ihnen
als Arbeitgeber hätte angedeihen
lassen, — nicht, daß von anderer Seite
ein Kandidat als Wucherer, ein dritter
als Newyorker Millionendieb bezeichnet wurde,
denn das muß jeder sich gefallen
lassen, der in der Oeffentlichkeit auftritt,
und kann dies umsomehr, wenn er
eine politische Notorietät hat; eine
Persönlichkeit, die sich im politischen
Leben bewegt, ist durch die Notorietät
geschützt. Aber es ist etwas anderes; es
besteht das System, wenn irgend ein
Bürger in einer Versammlung bei irgend
einer Gelegenheit gegen die Sozialisten
spricht, so wird er sofort in seiner
Privatehre, in seiner Privatstellung in
verleumderischer, böswilliger,
lügnerischer Weise angegriffen, es wird
ein vollständiges System des
Terrorismus zu üben gesucht, um
abzuschrecken, gegen die sozialistische
Bewegung aufzutreten. Und da haben mir oft
manche gesagt, die sich angegriffen
fühlten:
wenn sie beim Staatsanwalt sich beklagen, so
sagt der, es ist kein öffentliches
Interesse vorhanden, dergleichen zu verfolgen.
(Hört,
hört! Sehr wahr!)
Gewiß,
meine Herren, es kann oft ein
öffentliches Interesse nicht
vorhanden sein, aber es kann auch dieses
Verleumdungswesen — nicht Beleidigung,
Beschimpfung, das lasse ich mir alles
gern gefallen,— also die Angriffe auf die
Privatstellung und die Verleumdung
des einzelnen kann zu einem derartigen System
erhoben werden, daß ein
öffentliches Interesse in der
Bekämpfung anerkannt werden muß.
Wenn wir alle
unsere Kraft auf dieses Gesetz stellen, auf
die polizeiliche Verfolgung, dann
ist dies, wie dies richtig bemerkt wurde, die
Bankerotterklärung der bürgerlichen
Gesellschaft als solche, gegenüber der
Sozialdemokratie noch etwas zu vermögen.
Der Herr
Minister mag sagen: ja, die Mittel reichen
nicht,
es muß außerdem noch etwas
geschehen zur Bekämpfung der Agitation;
aber, meine
Herren, in dem Augenblick, wo Sie die eine
Partei mundtodt machen, da machen
Sie es doch ganz unmöglich, diese Partei
zu bekämpfen, wenigstens wirksam zu
bekämpfen in ihrer Agitation. Es wird ja
diese ganze Kraft gelähmt, und doch
müssen wir der Meinung sein, daß
schließlich allein auf diesem Weg der
Ueberzeugung diese Bewegung eingeschränkt
werden kann. Es hilft nun einmal
nichts, diese Bewegung muß auf demselben
Wege wieder hinaus aus dem deutschen
Volke, wo sie hineingekommen ist; ein anderer
Weg führt nicht zum Ziel. Und
dann, meine Herren, können Sie es
hindern, daß diese Angriffe auf diese
Bestrebungen der einen Partei auch die
Beschränkung einer ganz anderen Partei
sofort nach sich ziehen? Es ist von den Zielen
der sozialdemokratischen Partei
gesprochen worden, die bekämpft werden
sollen. Nun, auf dem offiziellen
Programm der sozialdemokratischen Partei steht
auch in einer Nummer das Verbot
der Sonntagsarbeit. Das fällt also auch
in die Ziele der sozialdemokratischen
Partei. Herr von Helldorff und die Herren
Sozialisten stimmen ja in diesem
Punkt genau überein. Wenn nun ein
Sozialdemokrat eine Rede für das Verbot
der
Sonntagsarbeit hält, können Sie ihn
dann mit Gefängniß bestrafen, und
wenn Herr
von Helldorff in seinem Kreise eine solche
Rede hält, diesen nicht? was wäre
das für eine Gesetzgebung, was für
eine Verwaltung! Die Sache würde freilich
praktisch sich so gestalten, daß man die
Verfolgung an Personen knüpft und sagt,
wo die und die Personen auftreten, da werden
die Ziele der Sozialdemokratie
verfolgt, da müssen wir einschreiten. Was
wird dadurch bewirkt? Die Folge ist
die, die Wirksamkeit des Gesetzes wird
überall dahin getragen, wo jemand aus
den sozialistischen Parteien auftritt. Die
Wirksamkeit des Gesetzes dehnt sich
dann auch auf andere Vereine aus, sie wird
sich auch auf Vereine zu
gewerblichen Zwecken und
Unterstützungskassen ausdehnen, sie wird
immer weiter
um sich greifen. Herr von Helldorff hat
allerdings nur bemerkt, daß es sich ja
nicht um eine reaktionäre Maßregel
handle; — vorläufig mögen Sie ja
damit genug
haben, aber wenn dies helfen soll gegen die
Richtung gegnerischer Parteien,
warum soll man denn nicht auch dazu gelangen,
dieselben Mittel auch gegen
andere Parteien anzuwenden? Wir lesen ja in
der Presse, daß die
Fortschrittspartei, die liberale Partei
den Sozialdemokratismus erzeugt habe. Nun,
meine Herren, welche Logik liegt
denn da näher, als die Quelle zu
verstopfen und ein weiteres Gesetz auch gegen
diese Parteien zu kehren. Nein, meine Herren,
wir haben immer das unsrige gethan
gegen die sozialistische Partei; wir bedauern,
daß die Regierung durch ihre
Angriffe gegen die liberalen Parteien uns fast
immer gezwungen hat, eine
doppelte Frontenstellung nach beiden Seiten
einzunehmen, daß dadurch unsere
Kampfesthätigkeit, unsere Kampfesfrische
nach der einen Seite geschwächt worden
ist, daß dadurch unsere Widerstandskraft
nach der einen Seite nur zu oft
abgezogen worden ist.
Der Herr
Minister hat bemerkt, daß doch der
Reichstag sich
in sehr großer Zahl versammelt habe,
also doch nicht der Zeitpunkt der
Einbringung der Vorlage für so ungeeignet
zu halten sei. Nun, meine Herren,
warum hat sich der Reichstag in so
großer Zahl versammelt? Weil trotz aller
persönlichen Opfer und Unbequemlichkeiten
die Mitglieder von nah und fern sich
gedrungen gefühlt haben, nach Berlin
zurückzukehren, um Zeugniß davon
abzulegen, daß sie mit dieser Vorlage
nichts gemeinsam haben, —
(sehr wahr!
links)
um
darüber keinen Zweifel zu lassen,
daß sie absolute Gegner
dieser Vorlage und des Systems sind, welches
sie vertritt. Herr von Bennigsen
hat die Regierung auch auf den Weg der
allgemeinen Vereinsgesetzgebung auf eine
spätere Zeit verwiesen. Nun, meine
Herren, ich muß sagen, ich halte das
gegenwärtige Vereins- und
Versammlungsrecht, diese Gesetzgebung, die
selbst
ursprünglich oktroirt ist, die in der
verfassungslosen Zeit Preußens
entstanden
sind, dieses Gesetz, das selbst Herrn von
Manteuffel unter allen Umständen
genügend erschienen ist zur
Aufrechterhaltung der Ordnung, — das halte
ich,
geschickt gehandhabt und nicht bloß
gehandhabt zum Schutz der staatlichen
Ordnung im allgemeinen, sondern auch zum
Schutz der Bürger angewandt, für
vollkommen ausreichend, und wenn es das nicht
wäre, — zu einer Regierung, die
eine solche Vorlage bringt, die von einem
solchen Geiste beseelt ist, wie diese
Vorlage, kann man nicht das Vertrauen haben,
daß wir uns mit derselben über ein
Reichsvereinsgesetz in einigen Monaten
verständigen werden.
(Sehr richtig!
links.)
Doch, es ist
ja kein Zweifel, daß mit vier
Fünftels gegen
ein Fünftel diese Vorlage abgelehnt wird.
Gestatten Sie
mir, nach dem Vorgang der anderen Redner, noch
ein paar Schlußbemerkungen über die
politische Situation im allgemeinen.
Wir stehen
heute am Schluß der parlamentarischen
Saison. Am
Anfang der Saison im preußischen
Abgeordnetenhause glaubten wir ein starkes
Merkzeichen der beginnenden Strömung zu
erkennen in dem Fallenlassen der
Städteordnung. Wir brachten infolge
dessen ein Mißtrauensvotum gegen die
Regierung ein. Wir waren damals in unserer
Stellung und unserer Anschauung durchaus
isolirt; auf der einen Seite trug man
sich noch mit dem Glauben, daß in der
That Fürst Bismarck mehr als zuvor das
Bedürfniß empfinde einer
größeren Fühlung mit der
parlamentarischen Mehrheit
der Volksvertretung, des Reichstags. Diese
Illusionen sind vollständig
zerstört, die organische Gesetzgebung in
Preußen ist vollständig ins Stocken
gerathen. Den Schluß der Landtagssession
hat eine Vorlage gekennzeichnet, die
ebenso rasch wie diese improvisirt an den
Landtag gelangte, und die eine ebenso
scharfe Zurückweisung von der Mehrheit
dieser Körperschaft erfahren hat. Damals
stand noch ein Theil der nationalliberalen
Partei auf Seiten der Regierung;
jetzt ist die Majorität gewachsen, jetzt
ist eine geschlossene Oppositionslinie
hergestellt, die von der Fortschrittspartei
beginnt und die ganze
nationalliberale Partei umfaßt. Herr
Graf Bethusy-Huc hat daran seine
Betrachtungen geknüpft; auch ich finde
diese Erscheinung wichtig genug, um sie
zu markiren, wenn auch von entgegengesetzten
Gefühlen dabei geleitet. Es ist
meines Erachtens seit 10 Jahren der erste Fall
wieder, wo alles, was sich
liberal nennt, in einer hochpolitischen
Angelegenheit geschlossen Schulter an
Schulter der Regierung gegenübersteht.
Die Regierung hat sich von dem Parlament
mehr und mehr isolirt. Fürst Bismarck hat
sich aber noch mehr isolirt von den
Männern, in denen er bisher eine
Stütze fand. Herr von Helldorff hat
gesprochen
von der Art und Weise, wie hier oft
Verwaltungsbeamte angegriffen, getadelt
würden von den parlamentarischen
Körperschaften. Meine Herren, das hat dem
Ansehen nicht soviel geschadet, wie der Tadel,
den Fürst Bismarck vor den
parlamentarischen Körperschaften
ausgesprochen hat, hier und am anderen Ende
der Straße, gegen Männer, mit denen
er Jahre lang zusammen gearbeitet hat.
(Sehr wahr!
links.)
Der Herr
Minister leugnet die Behauptung des Herrn von
Bennigsen, daß die Ministerkrisis
permanent sei. Allerdings, die Minister sind
wie Blumen auf dem Felde, wenn ein scharfer
Wind darüber kommt, sei es von
Varzin, sei es von Friedrichsruh, dann sind
sie nicht mehr da und ihre Stätte
erkennt man nicht mehr.
(Heiterkeit.)
Ich sage
nichts unrichtiges, wenn ich behaupte, wir
fragen
uns oft, wenn wir Morgens ins Haus treten in
einer gespannten politischen
Situation: ist nicht wieder ein Abgang oder
Zugang im Ministerium zu bemerken?
Sind das noch dieselben Minister, die wir
heute vor uns zu sehen erwarten. Der
Herr Minister hat die Hoffnung ausgesprochen,
daß der Herr Minister Falk — der
einzige feste Punkt, wie ihn der Herr
Abgeordnete Lasker einmal bezeichnet hat
— im Ministerium verbleiben würde. Ich
weiß nicht, ob die politischen Freunde
des Herrn Ministers Falk wünschen
müssen, daß er in einer
Gemeinschaft
verbleibt, zu der er vielleicht von Tag zu Tag
weniger gehört.
Die
staatserhaltenden Kräfte sollen sich
zusammenfassen! so wird
uns gepredigt hier, so wird uns gepredigt in
der offiziösen Presse. Meine
Herren, wenn nur das die staatserhaltenden
Kräfte wären, die die
Staatserhaltung am meisten im Munde
führen, dann wäre unser Staat
wahrlich
nicht so fest begründet, wie er nach
meiner Ueberzeugung in Wirklichkeit ist. Was
hat denn der Autorität der
Staatsregierung so sehr geschadet, eine
Autorität,
die unter allen Umständen erhalten werden
muß? Nichts hat ihr so sehr
geschadet, als das Verhalten der Regierung
selbst in dieser ganzen
parlamentarischen Saison, das Verhalten gegen
die einzelnen Minister, das
Verhaltens gegen die Parteien dieses Hauses,
dieses Bestreben, so zu regieren,
als ob außerhalb des Fürsten
Bismarck gar keine selbstständigen
politischen
Elemente in der Volksvertretung oder sonstwie
vorhanden wären. Meine Herren,
dadurch hat die Autorität jeder
Staatsregierung einen Stoß der Art
erlitten,
daß es eines wirklich von dem Vertrauen
einer großen Majorität des
Reichstags
getragenen liberalen Ministeriums
bedürfen wird, um diese
Erschütterung der
Staatsautorität, die im Verlauf der
parlamentarischen Saison eingetreten ist,
wieder auszugleichen.
Mag aber auch
die Verwirrung, welche von Seiten der
Regierung erzeugt wird, sich noch weiter
steigern; mögen die Verhältnisse
sich
noch mehr trüben, nach unserer Auffassung
ist das deutsche Reich in dem Herzen
des deutschen Volkes fest genug verankert,
daß wir gewiß der Hoffnung sein
dürfen: die Liebe und Treue des deutschen
Volkes zu Kaiser und Reich wird uns
auch in dieser Zeit vor Klippen und Untiefen
schützen, die das Staatsschiff zu
umdrohen
scheinen.
(Bravo!
links.)
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