Politisches
ABC=Buch
9. Auflage, 1898
Abgeordnetenhaus
in Preußen. [S.1] Das
Preußische Abgeordnetenhaus zählt
433 Mitglieder, und werden in der Regel 2
oder 3 Abgeordnete in en einzelnen
Wahlkreisen nach Maßgabe des
Dreiklassenwahlsystems indirekt durch
öffentliche Abstimmung (siehe
„Wahlrecht“)
gewählt. In den neuen Provinzen kommt
jedoch nur in der Regel ein Abgeordneter
auf jeden Wahlkreis. Die Wahlkreise zum
Abgeordnetenhause sind 1861 bezw. 1867
gesetzlich festgestellt und decken sich
nicht überall mit denjenigen zum
Reichstage, stehen auch zur Zeit nicht mehr
im Verhältnis zur Verteilung der
Bevölkerung (siehe „Wahlkreise“). Die
Wahl der Abgeordneten erfolgt seit 1888
(siehe „Wahlperiode“) nicht mehr auf 3
Jahre, sondern auf 5 Jahre. Für das
gegenwärtige Abgeordnetenhaus haben die
Wahlen der Wahlmänner unter Beteiligung
von nur 18 Prozent der Wahlberechtigten am
31. Oktober 1893 und die Wahlen der
Abgeordneten am 7. November 1893
stattgefunden. — Die Mitglieder erhalten im
Gegensatz zu den Reichstagsabgeordneten pro
Tag 15 Mk. Diäten und Reisekosten.
In
der gegenwärtigen Wahlperiode 1893/98
verteilen sich die 433 Mitglieder des
Abgeordnetenhauses auf die einzelnen
Parteien, wie folgt (in Klammern geben wir
die Parteistärke vor den Wahlen von
1893 an): Konservative 142 (125),
Freikonservative
62 (66), Centrumspartei 95 (98),
Nationalliberale 87 (87), Freisinnige
Volkspartei 14, Freisinnige Vereinigung 6
(diese beiden Parteien bis 1893
zusammen 28), Polen 18 (15), Dänen 2
(2), konservative Wilde 7 (10), liberale
Wilde 0 (2).
Bei der
gegenwärtigen Zusammensetzung
verfügen die Konservativen
und Freikonservativen in Verbindung mit dem
rechten Flügel der Nationalliberalen
über eine Mehrheit. Ebenso ergiebt die
Verbindung der Konservativen (ohne die
Freikonservativen) mit der Centrumspartei
eine Mehrheit. Die Konservativen und
Freikonservativen mit den konservativen
Wilden verfügen zusammen über 211
Stimmen, sodaß ihnen nur 6 Stimmen an
der absoluten Mehrheit im
Abgeordnetenhause (217) fehlen. Es trat dies
scharf hervor bei den Abstimmungen
1896 über den Assessorenparagraph (s.
„Assessorenparagraph.“) und 1897 über
die
Novelle zum Vereinsgesetz (s.
„Vereinsgesetz.“). Unter den Konservativen
und
Freikonservativen befinden sich nicht
weniger als 34 Landräte. Außerdem
sitzen
im Abgeordnetenhause noch 13 andere aktive
höhere Verwaltungsbeamte, sodann u.
A. 182 Großgnmdbesitzer und Landwirte,
aber nur 44 Kaufleute und
Gewerbetreibende.
Aus der
gegenwärtigen Wahlperiode 1893/98 ist
in Betreff der
ersten Session 1894 hervorzuheben das Gesetz
über die Landwirtschafts-[S.2]-kammern
(siehe „Landwirtschaftskammern“), welches zu
Stande kam durch eine Mehrheit aus
Konservativen, Freikonsewativen und
Nationalliberalen. Die
Landwirtschaftskammern schaffen eine
Interessenvertretung, welche wesentlich
den einseitigen Bestrebungen der
konservativen Großgrundbesitzer dient.
Ein Gesetzentwurf
zur Monopolisirung der Kaligewinnung
für den Fiskus in Verbindung mit einer
Anzahl von Privatwerken hat die Zustimmung
des Abgeordnetenhauses nicht
gefunden. Ebenso wurde der Gesetzentwurf
für den Bau des Dortmund-Ems-Kanals
abgelehnt von den Konservativen, weil sie
von der Ausbildung des Kanalnetzes
eine Zufuhr landwirtschaftlicher Produkte
des Auslandes befürchten; von der
freisinnigen Volkspartei und Teilen der
Centrumspartei ist die Ablehnung
erfolgt, um eine Ueberstürzung in der
Ausdehnung der Kanalbauten zu verhindern
und die Regierung zu mahnen, die
Lokalinteressenten an Kanalbauten in einer
ihren Vorteilen entsprechenden Weise zu den
aus den Bauten erwachsenden Kosten
heranzuziehen.
In der
Session 1895 kam zu Stande ein neues Stemp
elsteuergesetz
(siehe „Stempelsteuer“), welches an die
Stelle des Gesetzes von 1822 getreten
ist und erhebliche Mehreinnahmen bringen
wird. Zwar sind die verlangten neuen
Stempelsteuern auf Kaufgeschäfte
über vertretbare Gegenstände, auf
Lombarddarlehen
und mündliche Mietsverträge
abgelehnt worden; im Uebrigen aber hat die
Regierung die angestrebte Vermehrung und
Erhöhung der Stempelsteuern mit
geringen Aenderungen durchgesetzt. Wegen
dieser Erhöhung lästiger
Verkehrssteuern stimmte die Freisinnige
Volkspartei gegen das Stempelsteuergesetz
im Ganzen.
Ebenso wird
ein in dieser Session zustandegekommener
neuer Gerichtskostentarif
voraussichtlich erhebliche Mehreinnahmen
bringen.
In dem
Eisenbahnkreditgesetz,
wie es das Staatsbahnsystem jetzt für
jedes Jahr mit sich bringt, war diesmal
zuerst ein Betrag von 5 Millionen angewiesen
zur Unterstützung des Baues von
Kleinbahnen (s. „Eifenbahnen“). Die
Eisenbahnverstaatlichung erhielt in dieser
Saison einen größeren Umfang
durch die Kaufverträge über die
letzten
thüringischen Privatbahnen.
Ein Gesetz
erhöhte die Jagdscheingebühren,
die
bisher in den alten Provinzen Preußens
nur 3 Mk. betragen hatten, allgemein
für
den Staat auf den Betrag von 15 Mk. (s.
„Jagdscheingebühr“). Die Freisinnige
Volkspartei stimmte gegen das Gesetz.
Ferner kam
ein Gesetz zustande, durch
welches eine neue Staatsbank nach Art der
Seehandlung unter dem Titel einer
Central- Genossenschaftskasse mit einem
Staatskapitale von 5 Millionen Mk.
begründet wurde. Die freisinnige
Volkspartei stimmte gegen das Gesetz, weil
ein
Bedürfnis für die durch die neue
Bank beabsichtigte Kreditgewährung an
Vereinigungen von Genossenschaften
landwirtschaftlicher oder sonstiger Art
nicht nachgewiesen werden konnte, auch eine
solche Einmischung des Staatskredits
in das Genossenschaftswesen geeignet ist,
eine Bevormundung der
Genossenschaften herbeizuführen und das
Prinzip der Selbsthilfe, das
Lebenselement des Genossenschaftswesens, zu
gefährden.
Aus der
Initiative des
Abgeordnetenhauses ging ein Gesetzentwurf
hervor, der bestimmt war, die 1893
bei der Ueberweisung der Grundsteuer an die
[S.3] Gemeinden
und Gutsbezirke
eingeführte Verpflichtung zur
Rückzahlung der
Grundsteuerentschädigungskapitalien
wieder aufzuheben. Das Hauptinteresse an
diesem Gesetz, welches die
Zahlungspflicht für eine Summe von 16
Millionen Mart beseitigen wollte, hatten
mit 10 Millionen Mark 2000
Großgrundbesitzer. Für den
Gesetzentwurf stimmten
alle Konservativen, die Freikonservativen
mit 4 Ausnahmen, außerdem 9
Nationalliberale und einige
Centrumsmitglieder. Die Regierung aber hat
diesem
Gesetzentwurf keine Folge gegeben.
In der
Session 1896 scheiterten die drei
Hauptgesetze, welche die Regierung
einbrachte, das Gesetz über die
Richtergehälter (s.
„Assessorenparagraph“), das
Lehrerbesoldungsges etz (s.
„Lehrerbesoldungsges.“)
und das Handelskammergesetz. Letzteres wurde
von der Regierung zurückgezogen,
nachdem § 1 abgelehnt war (s.
„Handelskammerges.“) Zustimmung fanden die
Erhöhung
des Kapitals der staatlichen
Centralgenossenschaftsbank von 5 auf 20
Millionen
Mk. (s. „Genossenschaftswesen“), ein Kredit
von 3 bMillionen M. für
Kornlagerhäuser (s.
„Kornlagerhäuser“) und ein Gesetz,
welches für
Ansiedlungsgüter und Rentengüter
das Anerbenrecht und weitgehende
Beschränkungen der freien
Verfügung des Besitzes einführte
(s. „Anerbenrecht“).
Die Freisinnige Volkspartei stimmte gegen
dieses Gesetz.
In der
Session 1897
kamen das Lehrerbesoldungsgesetz zu Stande
(s. „Lehrerbesoldungen“), eine
Novelle zum Handelskammergesetz, (s.
„Handelskammer“), eine neue
Städteordnung
und Landgemeindeordnung für
Hessen-Nassau, ein Gesetz über
obligatorische
Schuldentilgung, die
Besoldungsverbesserungen für die
Beamten, ein neues Gesetz
über die Reisekosten und Tagegelder der
Beamten, sowie die Novelle zur Erhöhung
der Pensionen der Hinterbliebenen der
Beamten. Nach der erst im Mai erfolgten
Vorlage einer Novelle zum Vereinsgesetz (s.
„Vereinsrecht“) und in Folge der
damit verbundenen Verfassungsänderungen
erstreckte sich die Session bis zum 24.
Juli. Die Novelle kam nicht zu Stande. — Das
erwähnte Finanzgesetz, gegen
welches die Freisinnige Volkspartei stimmte,
schränkte das Etatsrecht des
Abgeordnetenhauses ein, indem es die
Verwendung aller Ueberschüsse im
Reichshaushalt zur Schuldentilgung festlegte
und außerdem bestimmte, daß die
Kapitalschuld mit jährlich drei
Fünftel Prozent zu tilgen sei. In den
vorerwähnten
Hessen-Nassauischen Kommunalgesetzen gelang
es den Freisinnigen und der
Centrumspartei nicht, die Einführung
des Dreiklassenwahlrechts im Reg.-Bez.
Kassel zu verhindern. Auch ist im Gegensatz
zu allen anderen Kommunalgesetzen
die Erlangung des Wahlrechts von einem
zweijährigen, statt bisher
einjährigen
Wohnsitz abhängig gemacht. Auch sollen
in den Städten Bürgermeister und
Beigeordnete statt nur von den
Stadtverordneten, in gemeinsamer Sitzung von
Stadtverordneten und unbesoldeten
Magistratsmitgliedern gewählt werden.
Die
Wahl der Bürgermeister und
Magistratsmitglieder kann sogar auf
Lebenszeit
erfolgen. Ebenfalls in dieser Session ist
eine Erweiterung des
Staatseisenbahnnetzes durch Ankauf der
Hessischen Ludwigsbahn erfolgt.
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