Politisches
ABC=Buch
9. Auflage, 1898
Abkommandirung.
[S.3] Es wird
von sozialdemokratischer Seite in
Wahlversammlungen mitunter behauptet,
daß es
der Freisinnigen Volkspartei [S.4] nicht Ernst
sei mit der Bekämpfung von
Ausnahmegesetzen gegenüber der
Sozialdemokratie. Dieser Behauptung steht
die
Thatsache gegenüber, daß 1878 und
1880 sämtliche Mitglieder der
Fortschrittspartei
gegen das Sozialistengesetz und dessen
Verlängerung gestimmt haben, ebenso
haben in den Jahren 1886, 1888 und 1890
sämtliche Mitglieder der damaligen
Freisinnigen
Partei gegen eine weitere Verlängerung
des Sozialistengesetzes gestimmt. Auch
waren 1897 im preußischen
Abgeordnetenhause die Mitglieder der
Freisinnigen
Volkspartei sämtlich anwesend und haben
dadurch mitbewirkt, das sogenannte kleine
Sozialistengesetz (siehe „Vereinsrecht.“)
mit einer Mehrheit von 4 Stimmen
abzulehnen.
Von
sozialdemokratischer Seite beruft man sich
hiergegen darauf,
daß vor 13 Jahren, im Jahre 1884, ein
Teil der Freisinnigen für die
Verlängerung des Sozialistengesetzes
gestimmt habe. Das aber war die Folge der
unmittelbar vor dieser Abstimmung
stattgehabten Fusion aus der Liberalen
Vereinigung und der Fortschrittspartei zur
Freisinnigen Partei. Die Mitglieder
der bisherigen Liberalen Vereinigung, welche
sich damals der Freisinnigen
Partei anschlossen, hatten auch schon vorher
als Nationalliberale 1878 und dann
wieder 1880 für das Sozialistengesetz
und dessen Verlängerung gestimmt. In
dem
Fusionsprogramm der beiden Parteien war die
Bestimmung enthalten: „Gleichheit
vor dem Gesetz ohne Ansehen der Person und
der Partei“. Während seitens der
Fortschrittspartei bei der Fusion
vorausgesetzt wurde, daß mit dieser
Bestimmung
des Programms eine Zustimmung zum
Sozialistengesetz nicht mehr zu vereinbaren
sein würde, waren einige Mitglieder der
früheren Liberalen Vereinigung der
Ansicht,
das Programm schließe nicht aus, ein
bereits bestehendes Gesetz, wenn
Uebetgangsbestimmungen oder Ergänzungen
ohne Egänzung des gemeinen Rechts nicht
zu erreichen seien, nochmals zu
verlängern. So ist es gekommen,
daß von den
Mitgliedern der freisinnigen Partei am 10.
Mai 1884 26 Abgeordnete für die
Verlängerung des Gesetzes stimmten,
während 61 Mitglieder dagegen stimmten.
Die
Ersteren gaben dabei freilich die
Erklärung ab, daß sie einer
weiteren
Verlängerung des Gesetzes im Jahre 1886
nicht zustimmen würden, und daß
sie
auch im übrigen das Fusionsprogramm als
durchaus bindend anerkennen.
Demgemäß
hat auch 1886, 1888 und 1890, wie oben
erwähnt, kein Mitglied der Freisinngen
Partei für eine weitere
Verlängerung des Sozialistengesetzes
gestimmt.
Es wird
nun von sozialdemokratischer Seite
fälschlich behauptet, daß 1884
eine Mehrheit
gegen die Verlängerung des
Sozialistengesetzes möglich gewesen
ware, wenn die
bei der Abstimmung fehlenden Freisinnigen
anwesend gewesen wären und gegen das
Sozialistengesetz gestimmt hätten. —
Auch dies ist unrichtig. Auch wenn alle 13
fehlenden Mitglieder der Freisinnigen
Partei bei der Abstimmung anwesend
gewesen wären und gegen die
Verlängerung des Sozialistengesetzes
gestimmt
hätten, würde das
Sozialistengesetz gleichwohl mit 183 gegen
158 + 13 = 171
Stimmen, also mit einer Mehrheit von 12
Stimmen, verlängert worden sein. Von
den 13 Mitgliedern, welche unter den 100
Mitgliedern bei der Abstimmung
fehlten, waren 2 abwesend als krank, 3 als
beurlaubt, 4 als entschuldigt und 4
als unentschuldigt. Unter den Unent-[S.5]-schuldigten
war ein Mitglied schon seit
Monaten krank und ein anderes mit einem
Konservativen abgepaart.
Es ist
auch
niemals unter Anführung von Namen aus
der Zahl der Fehlenden der Versuch
gemacht worden, den obigen allgemeinen
Vorwurf geflissentlicher Abwesenheit
bestimmten Personen gegenüber
wahrzuhalten. Die Behauptung einer
„Abkommandirung“
der Fehlenden stützt sich auf einen
Briefwechsel zwischen den seitdem
verstorbenen Abgg. Kämpffer und
Phillips, der zu jener Zeit in der
gegnerischen
Presse veröffentlicht wurde. Es wird
darin erwähnt, daß einzelne
freisinnige
Abgeordnete Briefe erhalten hätten
des Inhalts, daß ihre Anwesenheit
bei der
Abstimmung über das Gesetz nicht
nötig sei. — Die in diesem Briefe
erwähnten
Abgeordneten aber sind nach Ausweis der
Abstimmungsliste bei der Abstimmung
zugegen gewesen und haben gegen die
Verlängerung des Sozialistengesetzes
gestimmt.
Auch waren Kämpffer und
Phillips, in deren Briefen der Sache
Erwähnung geschah, schon bei der
Fusion am
2. März 1884 also 2 Monate vor jener
Abstimmung über das Sozialistengesetz
aus Freisinnigen
Partei ausgeschieden. Auch wurde damals im
Reichstage und in den Zeitungen
öffentlich erklärt, daß
Briefe wie die vorerwähnten im
Auftrage der
Parteileitung nicht geschrieben seien.
Dagegen hat
thatsächlich eine
Abkommandirung, wie sie mit Unrecht der
Freisinnigen Partei zum Vorwurf gemacht
wird, auf Seiten der sozialdemokratischen
Partei i. J. 1885 stattgefunden. Am
Montag den 6. März 1885 wurde mit 170
gegen 159 Stimmen die Dampfersubvention,
speziell für die australische Linie,
mit 2,3 Millionen Mark jährlich auf
15
Jahre bewilligt. Die Sozialdemokraten
zählten damals 24 Mitglieder im
Reichstage, die bis zum Sonnabend den 14.
März ziemlich vollzählig
anwesend
gewesen waren; bei der Abstimmung am 16.
März aber fehlten auf
sozialdemokratischer Seite gerade die elf
zur Ablehnung noch erforderlichen Stimmen,
darunter sogar Hasenclever, der in der
Woche vorher als Redner der Fraktion das
Wort in dieser Frage geführt hatte.
Die sozialdemokratische Partei soll die
Abkommandirung unternommen haben, um einer
Stimmung in großen
Wählerkreisen,
namentlich in Hamburg, mit Rücksicht
auf die mit der Dampfersubvention
zusammenhängenden Schiffsneubauten
Rechnung zu tragen. Es ist später in
sozialdemokratischen Versammlungen jenes
Vorkommnis der Fraktion zum Vorwurf
gemacht worden. Die Entschuldigung, die
Partei habe nicht erwartet, daß
schon
am Montag abgestimmt werden würde —
sonst würden diejenigen, welche am
Sonnabend Geschäfte halber nach Haus
gereist waren, entweder gar nicht gereist
oder statt am Dienstag schon am Montag zur
Stelle gewesen sein — trifft nicht
zu; denn nach den dreitägigen
Verhandlungen vom Donnerstag, Freitag und
Sonnabend war mit der größten
Bestimmtheit die Abstimmung für
Montag und ein
von wenigen Stimmen abhängiges
Ergebnis derselben vorherzusehen.
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