Politisches
ABC=Buch
9. Auflage, 1898
Abrüstung. [S.5]
Die
Nationalliberalen greifen, wenn sie sonst in Verlegenheit sind, der Freisinnigen
Volkspartei etwas vorzuwerfen, bis auf das Jahr 1869 zurück,
indem sie der damaligen Fortschrittspartei den Antrag
Virchow vorhalten, welcher am 21. Oktober 1869 im preußischen
Abgeordneten=[S.6]=hause die Regierung auffordern
wollte, dahin zu wirken, daß die Ausgaben der Militärverwaltung
des Norddeutschen Bundes beschränkt würden und daß durch
diplomatische Verhandlungen eine allgemeine Abrüstung herbeigeführt
würde. -- Der Antrag wurde veranlaßt durch die neuen Steuern,
welche im Jahre 1869 im Reichstag und in Preußen (25 Proz. Zuschlag)
verlangt wurden zur Bestreitung der erhöhten Militärausgaben.
Es wird fälschlich so dargestellt, als ob die Fortschrittspartei durch
diesen Antrag bezweckt habe, die Wehrkraft Deutschlands zu schwächen
und damit für den 7 Monate später ausbrechenden Krieg mit Frankreich
unzureichend zu machen. Demgegenüber ist darauf hinzuweisen, daß
der Antrag, wie schon der Wortlaut besagt, nicht eine einseitige deutsche,
sondern eine allgemeine Abrüstung herbeiführen wollte. Der Sinn
des Antrages ging auch keineswegs dahin, die Kriegsfähigkeit zu vermindern,
sondern bezog sich nur auf das Friedensheer unbeschadet
der Kriegstüchtigkeit und Kriegsstärke.
Sehr treffend hat dies der damalige französische
Militärbevollmächtigte in Berlin, Oberst v.
Stoffel, erkannt. Er berichtete nach seinen später herausgegebenen
Briefen über diesen Antrag seiner Regierung nach Paris, daß
die Antragsteller die Notwendigkeit und die Vorteile der permanenten Armee
zugeben, aber sagen, daß die Regierungen ihren Zweck verkennen und
denselben mit weniger Kosten ebenfalls erreichen
würden. In dieser Absicht sei der Antrag gestellt, um die Regierungen
zur Verminderung der militärischen Ausgaben zu veranlassen. "Aber
es ist immerhin bemerkenswert" -- schreibt Oberst v. Stoffel -- "ohne
dabei die Forderung einer wirklichen Entwaffnung zu stellen."
Dies gehe auch schon aus dem nicht gleichbedeutend mit Entwaffnung gewählten
Ausdruck "Abrüstung" hervor.
Ebenso führte Virchow
selbst am 5. November 1869 zur Begründung seines Antrages folgendes
aus: "Um einem Mißverständnis vorzubeugen, will ich gleich hier
bemerken, daß wir ja niemals die Kriegsfähigkeit
Preußens oder Norddeutschlands haben
vermindern wollen, daß wir jedoch immer der Meinung gewesen
sind, daß diese Kriegsfähigkeit nicht an diejenige Höhe
der stehenden Armee geknüpft ist, wie
sie gegenwärtig vorhanden ist, daß dieselbe Kriegsfähigkeit,
dieselbe Zahl in der Ausbildung der Mannschaften erreicht werden kann auch
bei einer geringeren Ziffer des stehenden Heeres, also bei einer erheblichen
Ermäßigung der Militärausgaben."
Thatsächlich hat
sich übrigens aus den dem Reichstage 1874 mitgeteilten amtilichen
Uebersichten später ergeben, daß die Regierung gerade 1868-1869
aus Ersparnisrücksichten die Friedenspräsenz der Armee durch
Beurlaubungen erheblich vermindert hatte. Auch kann heute nach Einführung
der zweijährigen Dienstzeit Niemand bestreiten, daß selbst durch
Entlassung des ganzen dritten Jahrgangs die Kriegsfähigkeit damals
nicht vermindert wordem wäre.
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