Eugen Richter
1838-1906








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Politisches ABC=Buch
9. Auflage, 1898

 
 

Adel. [S.8] Niemand ist für seinen Namen verantwortlich, und man hat kein Recht, aus altadligen Namen auf Anmaßung und herrschsüchtiges Wesen seines Trägers zu schließen. Aber ebensowenig darf es geduldet werden, daß aus einem adligen Namen irgend ein Anspruch auf gesellschaftlichen Vorrang hergeleitet wird. Nur Mangel an Selbstbewußtsein der bürgerlichen Kreise, Charakterschwäche der Gesellschaft, Knechtsinn und Gedankenlosigkeit können es verschulden, wenn es auch in unserer Zeit möglich werden sollte, daß sich vorübergehend wieder eine Adelsherrschaft erhebt und breit zu machen sucht.

     Jammervoll würde es um das Staatswesen bestellt sein, wenn edler Sinn und Opfermut in hervorragender Weise nur bei einer Anzahl von Geschlechtern mit adligen Namen vertreten wären. Tugenden vererben sich mitunter, aber ebenso auch Untugenden. Das gilt von adligen Geschlechtern ebenso wie von bürgerlichen. Gar oft aber kommen zu den angestammten Untugenden noch eigene persönliche gerade bei denjenigen hinzu, welche glauben, auf Verdienste und Vorzüge ihrer Voreltern pochen zu können. Die Verführung dazu ist um so stärker, wenn im Staatswesen oder in den Auffassungen der Gesellschaft irgend ein Vorrang eingeräumt wird demjenigen, welcher einen altadligen Namen führt. Solcher Name beweist vielfach nicht einmal für die Voreltern ein Verdienst um das Gemeinwesen, geschweige denn für die jetzigen Träger. Gar vornehme Namen von heute finden sich in früheren Jahrhunderten auf der Liste gewerbsmäßiger Straßenräuber und Wegelagerer. Von vielen weiß man bis in unsere Tage nicht, wie sie überhaupt zu einem adligen Namen gekommen sind. Die adligen Namen vererben sich durchweg unbeschränkt. Es giebt hochadlige Namen, die so zahlreich vertreten sind, daß sie nirgend fehlen auf Listen, wo Tausende von Namen zusammenkommen, mögen es nun Ranglisten oder Verbrecherverzeichnisse sein.

     Jede Bevorzugung um des adligen Namens willen ist eine Zurücksetzung für andere, deren Wert in der eigenen Person beruht. In dem Maße, wie solche Bevorzugung sich verallgemeinert, muß das Gemeinwesen zurückgehen und verkommen. In den Jahren 1806 bis 1807 brach das in erster Reihe auf die adligen Generale gestützte preußische Staatswesen kläglich zusammen. Die preußischen Generale, welche in schmachvoller Weise die preußischen Festungen den Franzosen übergaben, waren samt und sonders vom Adel, teilweise aus altadligem Geschlecht, während der bürgerliche Nettelbeck sein Kolberg bis zum Friedensschluß mannhaft verteidigte. Auch die Helden des Befreiungskrieges waren zum größten Teil einfacher bürgerlicher Abkunft. Fürst Bismarck und Feldmarschall Moltke vermögen auch keine Ahnenprobe zu bestehen, denn beide haben bürgerliche Mütter.

     In dem bekannten Stein'schen Rundschreiben vom 24. November 1808 wurde es als "vorzügliche Aufgabe der Gesetzgebung bezeichnet, die [S.9] Disharmonie im Volke, den Kampf der Stände unter sich zu vernichten und gesetzlich die Möglichkeit aufzustellen, daß jeder im Volke seine Kräfte frei in moralischer Richtung entwickeln könne." Seitdem hat die Gesetzgebung fortgesetzt die Adelsvorrechte beschränkt, bis 1850 die preußische Verfassung bestimmte: "Alle Preußen sind vor dem Gesetz gleich; Standesvorrechte finden nicht statt." Das Reichsgesetzbuch von 1870 beseitigte die Aberkennung des Adels als Strafe; es hat damit also bestimmt, daß die adligen Spitzbuben ebenso zu verbleiben haben wie die bürgerlichen Verbrecher den Bürgerlichen. Die Führung eines unrichtigen Namens wird als Uebertretung im Reichsstrafgesetzbuch geahndet, wenn sie einem Beamten gegenüber stattfindet. Das Reichsstrafgesetzbuch aber läßt noch einen Unterschied zu, insofern es die unberechtigte Führung eines Adelsprädikats bestraft, auch ohne jene Einschränkung. Auch wird es noch als eine "Erhebung in den Adelsstand" bezeichnet, wenn einzelnen Personen gestattet wird, ihren bürgerlichen Namen mit dem Vorwort "von" oder der Bezeichnung eines Freiherrn, Grafen usw. zu behaften. - In dem neuen preußischen Stempelsteuergesetz ist die Stempelgebühr bei Standeserhöhungen normirt für die Beleihung der Herzogswürde auf 5000 Mark, der Fürstenwürde auf 3000 Mark, der Grafenwürde auf 1800 Mark, der Freiherrnwürde auf 1200 Mark, für die Verleihung des Adels auf 600 Mark; bei Wappenvermehrung und Abänderung wird ein Achtel der obigen Sätze gezahlt. Für die Verleihung eines Patents als Kammerjunker sind 400 Mark, eines Kammerherrn 1200 Mark zu bezahlen, sofern letzterer vorher Kammerjunker war, nur 800 Mark. Doch können diese Gebühren erlassen werden.

     Nach den traurigen Erfahrungen im Kampfe mit Napoleon am Anfang des Jahrhunderts schlug Minister Freiherr von Stein die Aufhebung aller adligen Korporationen, der Domstifte, des Johanniterordens vor, da sie nur dem Adelsstolz Vorschub leisteten. Er schrieb:

"Diese große Menge armen, güterlosen oder verschuldeten Adels in Preußen ist dem Staate äußerst lästig. Er ist ungebildet, hilfebedürftig, anmaßend, er drängt sich in alle Stellen vom Hofmarschall bis zum Posthalter und Polizeiinspektor, er steht allen übrigen Bürgerklassen durch die Stellen, die er ihnen entzieht, durch die Ansprüche, die er aufstellt, im Wege, und er sinkt unter sie durch seine Armut und durch seine wenige Bildung herunter."
     Und Staatskanzler Hardenberg fügte in seiner Rigaer Denkschrift hinzu: "Eine jede Stelle im Staate sei nicht dieser oder jener Klasse, sondern dem Verdienste und Fähigkeit aus allen Ständen offen."

     In der preußischen Reaktionszeit der fünfziger Jahre aber ist das Streben dahin gegangen, allerlei Adelsprivilegien im Widerspruch mit dem Wortlaut der Verfassung, jedenfalls mit ihrem Sinn, wieder aufleben zu machen. Bei Schaffung des Herrenhauses wurde Grafenverbänden und altadligen Familienverbänden ein besonderes Präsentationsrecht verliehen.

     Im Johanniterorden, ursprünglich nur zum Gedächtnis an die frühere Balley Brandenburg gestiftet, suchte König Friedrich Wilhelm IV. Eine besondere adlige Korporation zu schaffen und derselben eine über andere Ordensklassen hervorragende Bedeutung zu verleihen. Das Johanniterkreuz zu tragen, setzt alten Adel und einen gewissen Geldbeitrag voraus. Der Jahresbeitrag der Ritter für christliche Liebeswerke beträgt nur 36 Mark, und das Eintrittsgeld [S.10] von 300 bezw. 900 berechtigt zum Empfange stolzer und glänzender Insignien. Aus solchen Beiträgen sind eine Anzahl kleiner Spitäler mit einigen Hundert Betten im Laufe der Jahre gegründet worden.

     Kaiser Wilhelm II. sprach unmittelbar nach seiner Thronbesteigung am 23. August 1888 bei der Teilnahme an einem Kapitel des Johanniterordens in Sonnenburg in einer Rede zum Festmahl: "Zur Hebung und moralischen, sowie religiösen Kräftigung und Entwicklung des Volkes brauche ich die Unterstützung der Edelsten desselben, Meines Adels, und die sehe ich im Orden Sankt Johannis in stattlicher Zahl vereint."

     Eine thatsächliche Zurücksetzung des Bürgertums im höheren Verwaltungsdienst wird in einem Artikel der freikonservativen "Post" vom 24. Mai 1897 ausdrücklich zugegeben, als Grund für die Verstimmung weiter Kreise. In dieser Auslassung wird die Ueberhebung der Verwaltung gegenüber der Justiz beklagt und ausgeführt:

Man bringt dies mit der weiteren Ausstellung in Verbindung, daß sowohl bei der Uebernahme in der Verwaltungsdienst wie bei dem Aufrücken in demselben bestimmte soziale Schichten, namentlich der Adel und der Großbesitz der östlichen Provinzen, bevorzugt und mehr Wert auf Familienbeziehungen, äußeres Auftreten und Schneidigkeit, als auf wissenschaftliche uns praktische Tüchtigkeit gelegt werde. Auch hierbei hat man wohl vielfach mit Uebertreibung und Verallgemeinerung von Einzelerscheinungen zu thun. Aber völlig ungerechtfertigt erscheint die Kritik nicht .... Angehörige angesehener Familien, namentlich des Bezirks, besonders zu berücksichtigen, liegt die Versuchung gleichfalls nahe. Korps= und sonstige Beziehungen ähnlicher Art kommen hinzu, so daß in der That der Nachwuchs unserer Beamten der allgemeinen Landesverwaltung vielfach exklusiver und einseitiger geworden ist, als dies im allgemeinen Interesse und im Interesse der Verwaltung selbst liegt. Auch gewinnt es den Anschein, daß für die Besetzung namentlich der sogenannten politischen, zugleich mit Repräsentation verbundenen Verwaltungsstellen der Adel wenigstens keinen Nachteil erleidet.
     Unter den Studenten der Rechtswissenschaft, aus dem alle höheren Verwaltungsbeamten mit Ausnahme eines kleinen Theils der Landräthe hervorgehen, stehen nur 5,8 % Adlige gegenüber 94,2 % Bürgerlichen. Aber im Ressort des preußischen  Ministeriums des Innern gestaltet sich das Verhältnis in den einzelnen Rangstufen wie folgt: von den Regierungsassessoren sind 32 v. H. adlig und 68 v. H. bürgerlich, von den Regierungsräten, auf denen die eigentliche Arbeit ruht, sind nur 17,7 v. H. adlig und 82,3 v. H. bürgerlich, von den Oberregierungsräten 34,4 gegen 65,6, bei den Landräten sind 52,8 v. H. adlig gegenüber 47,2 v. H. bürgerlich, von den Regierungspräsidenten sogar 76,5 gegen 23,5 v. H.

     Seit Ende 1893 bis Februar 1897 sind 103 Landratsämter mit 71 (69%) und 32 (31%) besetzt worden. Im Jahre 1894/95 haben aber 608 Regierungsassessoren ihr Staatsexamen gemacht, worunter sich nur 185 (31%) Adlige befanden. Bei den Ernennungen von Landräten steht hiernach das Verhältnis gerade umgekehrt. In Pommern sind unter 28 Landräten nur 3, in Brandenburg unter 28 nur 6 bürgerlich.

     Was sodann das Offizierskorps betrifft, so ist nach der Rang= und Quartierliste von 1897 bei der Generalität das Bürgertum nur mit 16,9 vom Hundert beteiligt. Unter den 74 Generalen der Infanterie, Kavallerie und Artillerie befindet sich neben zehn erst neuerlich Geadelten nur ein einziger Bürgerlicher. Im Ganzen aber befinden sich im preußischen Heer unter den Offizieren nur 44 Prozent Adlige. 30 Regimenter, ferner die Bataillone der Gardejäger, der Gardeschützen und der dritten Jäger haben überhaupt keinen einzigen, bürgerlichen Offizier. Die Zahl der Regimenter, die nur adlige [S.11] Sekondelieutenants haben, ist von 15 auf 17 gewachsen, so daß also außer den drei Bataillonen im ganzen 47 Regimenter nur adligen Nachwuchs annehmen. In einem Regiment giebt es überdies auch nicht einmal einen bürgerlichen Reserveoffizier. Bei der ganzen Gardekavallerie zählt man nur 14 Reserveoffiziere bürgerlichen Namens. Im Ganzen zählt die Garde 93 Prozent adlige Offiziere, welche letztere aber zunächst in der Garde=Fußartillerie, bei den Gardepionieren und dem Gardetrain zu suchen sind.

     Vom Ministerium aus hat man wiederholt die Thatsache, daß zwischen Adel und Bürgertum im Heere ein Unterschied gemacht wird, in Abrede zu stellen gesucht. Es komme darauf, ob jemand bürgerlich oder adlig sei, im Offizierskorps so wenig an wie darauf, ob er blaue oder braune Augen habe. Aber kein Kriegsminister wird bestreiten können, daß ein bürgerlicher Offizier allenfalls kommandirender General, keinesfalls aber Lieutenant im ersten Garderegiment z. F. werden kann. Die Zahlen der Regimenter, die ausschließlich adlige Offiziere haben, geben den wirklichen Sachverhalt noch nicht ausreichend wieder; denn daneben giebt es noch eine Reihe Regimenter, in denen die Vorherrschaft des Adels durch die Duldung eines vereinzelten bürgerlichen Offiziers, des sogenannten "Konzessions=Schulze", äußerlich verhüllt wird.

     In dem "Deutschen Adelsblatt" wurden im August 1897 bei Besprechung einer Statistik der Adligen in Berlin diejenigen, welche sich bürgerlichen Erwerbszweigen als Kaufleute, Fabrikanten, Agenten zugewendet haben, als "gescheiterte Existenzen" bezeichnet. Gewissermaßen zum Troste für diese "gescheiterten Existenzen" wird beigefügt, durch den Hinzutritt Adliger, "die keine Profitwut kennen, werde der Kaufmannsstand gehoben". Die Korrespondenz für Zentrumsblätter brachte jenen Herren vom "Deutschen Adelsblatt" mit dem alten Stammbaum in Erinnerung, daß sie vielleicht unter ihren Ahnen solche haben, die seiner Zeit "aus dem Stegreife lebten" und dem Grundsatze huldigten:

Reiten und Rauben ist keine Schande,
Es thun's die Edelsten im Lande,
indem sie dem Kaufmann am Wege auflauerten und ihm mit Gewalt seine Habe nahmen. Vollends sonderbar nimmt sich der Satz von den Adligen aus, die "keine Profitwut kennen", wenn man an die Herren denkt, die im Bunde der Landwirte jetzt den Ton angeben und in ihren Forderungen à la Kanitz usw. sicher die hervorragendsten Meister edeler Bescheidenheit und die abgesagtesten Verächter jeder "Profitwut" sind.

     Weiterhin führt das Adelsblatt Klage darüber, daß 202 Adlige in Berlin sich mit Subaltern= oder Unterbeamtenstellen behelfen müssen, und sagt von ihnen: "Hier kann man noch mit mehr Berechtigung von einer gesellschaftlichen Gesunkenheit sprechen."