Eugen Richter
1838-1906









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Politisches ABC=Buch
9. Auflage, 1898

 
 

Anarchisten. [S.12] Die Anarchistenpartei ist ein Auswuchs der 1864 von Karl Marx in London begründeten internationalen Arbeiterassoziation. Die Scheidung von der Sozialdemokratie begann 1872 und hat sich seitdem immer mehr verschärft. Die Anarchisten haben mit den wirtschaftlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie (s. "Sozialismus.") vieles gemein; sie unterscheiden sich indessen hinsichtlich der formalen Gestaltung des Zukunftsstaates dahin, daß sie in der auf Gütergemeinschaft beruhenden Gesellschaft jede Regelung der öffentlichen Angelegenheiten durch Zwangsgewalt verwerfen, indem sie wähnen, daß alle Verhältnisse sich von selbst durch freie Gesellschaftsverträge der auf sozialistischer Grundlage ruhenden unabhängigen Kommunen und Genossenschaften ordnen werden. Wie dies ermöglicht werden kann, ist das Geheimnis des Anarchismus. Die Anarchisten gehen darauf aus, ihre Herrschaft in erster Reihe durch äußere Gewaltthaten, insbesondere durch Meuchelmord, Raub und Brandstiftung zu verwirklichen. In dieser Weise sind die Anarchisten noch in der letzten Zeit mehrfach in Attentaten in Belgien, Spanien, Frankreich und Italien hervorgetreten. (Ermordung des französischen Präsidenten Carnot durch den italienischen Anarchisten Caserio am 24. Juni 1894, Versuch eines Atten-[S.13]-tats auf den italienischen Ministerpräsidenten Crispi, Ermordung des spanischen Ministerpräsidenten Canovas am 8. August 1897.)

     Zu den Anarchisten gehört der frühere sozialdemokratische Abgeordnete Johann Most, welcher zur Zeit in Amerika weilt. Ferner zählten zu den Anarchisten die 1894 hingerichteten Anstifter des bei der Einweihung des Niederwalddenkmals beabsichtigten Attentats Reindorff und Küchler, ebenso die an dem Raubmord gegen den Bankier Heilbronn in Stuttgart, sowie an den Mordthaten in Straßburg und Wien beteiligten, ebenfalls hingerichteten Verbrecher Kammerer und Stellmacher. Desgleichen ist die Ermordung des Polizeirats Rumpff in Frankfurt a. M. 1885 auf Anstiftung der Anarchisten durch den Parteigenossen Lieske vollzogen worden.

     Die Anarchisten haben keine centrale Parteiorganisation, sondern bestehen aus einer großen Anzahl kleiner, über verschiedene Länder verteilter Gruppen, welche zu einander nur einen losen Zusammenhang haben. Sie verfügen indeß über eine Anzahl Blätter, welche in England und Amerika erscheinen, darunter insbesondere die in London verbreitete "Freiheit". Auch in Berlin giebt es eine kleine Gruppe von Anarchisten, welche mitunter Versammlungen abhält. Die Berliner Sozialdemokraten bezeichnen diese Versammlungen in denen mit Heftigkeit auf die Sozialdemokratie gescholten wird, als "Spitzelfallen", indem sie behaupten, daß die Abhaltung solcher Versammlungen der Polizei Gelegenheit giebt, die Anarchisten persönlich kennen zu lernen und demgemäß leichter zu überwachen.

     Man hat versucht, die Notwendigkeit der Umsturzvorlage (siehe "Umsturzvorlage.") und neuerdings nach dem spanischen Attentat die Beschränkung des Vereins- und Versammlungsrechts durch die Bekämpfung des Anarchismus zu rechtfertigen. Aber die deutsche Gesetzgebung enthält schon jetzt ein reiches Arsenal an Strafparagraphen und Vollmachten jeder Art für die Behörden, um Gewaltthaten, Verbrechen und Vergehen zu unterdrücken. Auch fehlt es nicht an Mitteln der Gesetzgebung, um solchen Verbrechen und Vergehen vorzubeugen. Freilich ist die Vorbedingung des Erfolges eine wachsame Polizei. An solcher aber hat es in den Ländern, welche durch Attentate der Anarchisten heimgesucht werden, vielfach gefehlt. Daß andererseits auch die schärfsten Beschränkungen der politischen Rechte und die weitgehendsten Ausnahmebestimmungen gegen den Anarchismus nicht geeignet sind, vor Attentaten und Verbrechen zu schützen, das hat, abgesehen von allen Erfahrungen in Rußland, das jüngste Attentat in Spanien bewiesen, woselbst frühere Attenate der Anarchisten in Barcelona zu sehr scharfen Gesetzesbestimmungen in der vorbezeichneten Richtung Veranlassung gegeben hatten.