Politisches
ABC=Buch
9. Auflage, 1898
Anarchisten. [S.12]
Die
Anarchistenpartei ist ein Auswuchs der 1864 von Karl Marx in London begründeten
internationalen Arbeiterassoziation. Die Scheidung von der Sozialdemokratie
begann 1872 und hat sich seitdem immer mehr verschärft. Die Anarchisten
haben mit den wirtschaftlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie (s. "Sozialismus.")
vieles gemein; sie unterscheiden sich indessen hinsichtlich der formalen
Gestaltung des Zukunftsstaates dahin, daß sie in der auf Gütergemeinschaft
beruhenden Gesellschaft jede Regelung der öffentlichen Angelegenheiten
durch Zwangsgewalt verwerfen, indem sie wähnen, daß alle Verhältnisse
sich von selbst durch freie Gesellschaftsverträge der auf sozialistischer
Grundlage ruhenden unabhängigen Kommunen und Genossenschaften ordnen
werden. Wie dies ermöglicht werden kann, ist das Geheimnis des Anarchismus.
Die Anarchisten gehen darauf aus, ihre Herrschaft in erster Reihe durch
äußere Gewaltthaten, insbesondere durch Meuchelmord, Raub und
Brandstiftung zu verwirklichen. In dieser Weise sind die Anarchisten noch
in der letzten Zeit mehrfach in Attentaten in Belgien, Spanien, Frankreich
und Italien hervorgetreten. (Ermordung des französischen Präsidenten
Carnot durch den italienischen Anarchisten Caserio am 24. Juni 1894, Versuch
eines Atten-[S.13]-tats auf den italienischen Ministerpräsidenten
Crispi, Ermordung des spanischen Ministerpräsidenten Canovas am 8.
August 1897.)
Zu den Anarchisten gehört
der frühere sozialdemokratische Abgeordnete Johann Most, welcher zur
Zeit in Amerika weilt. Ferner zählten zu den Anarchisten die 1894
hingerichteten Anstifter des bei der Einweihung des Niederwalddenkmals
beabsichtigten Attentats Reindorff und Küchler, ebenso die an dem
Raubmord gegen den Bankier Heilbronn in Stuttgart, sowie an den Mordthaten
in Straßburg und Wien beteiligten, ebenfalls hingerichteten Verbrecher
Kammerer und Stellmacher. Desgleichen ist die Ermordung des Polizeirats
Rumpff in Frankfurt a. M. 1885 auf Anstiftung der Anarchisten durch den
Parteigenossen Lieske vollzogen worden.
Die Anarchisten haben
keine centrale Parteiorganisation, sondern bestehen aus einer großen
Anzahl kleiner, über verschiedene Länder verteilter Gruppen,
welche zu einander nur einen losen Zusammenhang haben. Sie verfügen
indeß über eine Anzahl Blätter, welche in England und Amerika
erscheinen, darunter insbesondere die in London verbreitete "Freiheit".
Auch in Berlin giebt es eine kleine Gruppe von Anarchisten, welche mitunter
Versammlungen abhält. Die Berliner Sozialdemokraten bezeichnen diese
Versammlungen in denen mit Heftigkeit auf die Sozialdemokratie gescholten
wird, als "Spitzelfallen", indem sie behaupten,
daß die Abhaltung solcher Versammlungen der Polizei Gelegenheit giebt,
die Anarchisten persönlich kennen zu lernen und demgemäß
leichter zu überwachen.
Man hat versucht, die
Notwendigkeit der Umsturzvorlage (siehe "Umsturzvorlage.") und neuerdings
nach dem spanischen Attentat die Beschränkung des Vereins- und Versammlungsrechts
durch die Bekämpfung des Anarchismus zu rechtfertigen. Aber die deutsche
Gesetzgebung enthält schon jetzt ein reiches Arsenal an Strafparagraphen
und Vollmachten jeder Art für die Behörden, um Gewaltthaten,
Verbrechen und Vergehen zu unterdrücken. Auch fehlt es nicht an Mitteln
der Gesetzgebung, um solchen Verbrechen und Vergehen vorzubeugen. Freilich
ist die Vorbedingung des Erfolges eine wachsame Polizei. An solcher aber
hat es in den Ländern, welche durch Attentate der Anarchisten heimgesucht
werden, vielfach gefehlt. Daß andererseits auch die schärfsten
Beschränkungen der politischen Rechte und die weitgehendsten Ausnahmebestimmungen
gegen den Anarchismus nicht geeignet sind, vor Attentaten und Verbrechen
zu schützen, das hat, abgesehen von allen Erfahrungen in Rußland,
das jüngste Attentat in Spanien bewiesen, woselbst frühere Attenate
der Anarchisten in Barcelona zu sehr scharfen Gesetzesbestimmungen in der
vorbezeichneten Richtung Veranlassung gegeben hatten.
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