Eugen Richter
1838-1906









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Politisches ABC=Buch
9. Auflage, 1898

 
 

Anerbenrecht, Höferollen. [S.13] In Preußen machen sich seit längerer Zeit unter Führung des Herrn v. Miquel Bestrebungen geltend, die durch die Gesetzgebung seit Anfang des Jahrhunderts gewährleistete Freiheit des Grundeigentums in verschiedenen Richtungen mehr und mehr einzuschränken. Zunächst ist seit 1874 eine Reihe sogenannter Landgüterverordnungen für einzelne preußische Provinzen, nämlich für Hannover, Westfalen, Branden-[S.14]-burg, Schlesien, Schleswig-Holstein und für den Regierungsbezirk Kassel erlassen worden. Diese Gesetze führen ein Anerbenrecht als Intestaterbrecht ein für solche Güter, welche die Besitzer zu diesem Zwecke in eine sogenannte Höferolle eintragen lassen. Die spätere Löschung aus der Höferolle bleibt dem Besitzer freigestellt. Solange aber das Grundstück in der Höferolle eingetragen ist, kann im Erbfalle der älteste Sohn seine Geschwister nach einer niedrigeren Taxe für ihr Erbteil an dem Landgut abfinden. Die Taxe wird berechnet beispielsweise nach dem zwanzigfachen (in Westfalen), dreißigfachen (in Brandenburg) und vierzigfachen (in Schlesien) Grundsteuerreinertrag. Diese Höferollen-Gesetzgebung ist im Landtage angenommen worden gegen den Widerspruch nur der freisinnigen Abgeordneten.
 

Wirkungen. Die auf diese Landgüterordnungen gesetzten Erwartungen haben sich in keiner Weise erfüllt. Das Ergebnis ist ein wahrhaft klägliches gewesen. Obwohl die Höferollen 1895 schon vor 7 bis 10 Jahren eingeführt waren, hatten in den drei Provinzen Brandenburg, Schlesien und Schleswig- Holstein zusammengenommen nur 155 Eintragungen von Landgütern stattgefunden. Dazu kommen 161 Eintragungen in dem Regierungsbezirk Kassel. In Westfalen haben allerdings 2357 Eintragungen stattgefunden. Im Kreise Lauenburg 518. In Hannover gilt die Höferollen-Gesetzgebung seit 1874. Hier sind 66344 Höfe eingetragen worden. Es erklärt sich dies aber daraus, daß dort das Höferecht nicht die Abänderung eines gleichen, allgemeinen Erbrechts darstellt, sondern an die Stelle eines alten, vielfach unklaren und durchaus verschiedenartigen bäuerlichen Erbrechts getreten ist, welches in Bezug auf ungleiche Berücksichtigung der Geschwister noch viel weitergehende Bestimmungen enthielt.

Kritik. Den Rechtsanschauungen des Bauernstandes widerspricht die gesetzliche Bevorzugung einzelner Erben vom Standpunkt sowohl der ländlichen Interessen wie des Familienrechts. Die durch das Anerbenrecht begünstigte Geschlossenheit der Güter und Höfe erschwert die Erlangung von Landbesitz für die nachgeborenen Kinder und begünstigt bei wachsender Bevölkerung eine Zunahme des besitzlosen und erwerbslosen Proletariats. In dem Maße, wie der landwirtschaftliche Betrieb an Intensität gewinnt, ist die Verkleinerung der einzelnen Besitzungen und damit die Vermehrung der landwirtschaftlichen Betriebe und der Zahl der selbständigen Landwirte ein naturgemäßer und notwendiger Prozeß. Unter dem Anerbenrecht dagegen müßte sich das französische Zweikindersystem als Sitte ausbilden.

Soweit die Aufrechterhaltung der Güter und Höfe in dem gegenwärtigen Umfange landschaftlich und wirtschaftlich gerechtfertigt erscheint, sorgt die Sitte auch ohne die Stütze und den Zwang der Gesetzgebung dafür, daß nicht ungerechtfertigte Verkleinerungen eintreten. So treffen die Besitzer schon bei Lebzeiten entsprechende Verfügungen, insbesondere auch durch Eheverträge. Stirbt der Besitzer, ohne die Nachfolge geordnet zu haben, so pflegen die Miterben eine Auseinandersetzung zu vereinbaren, die sich an das bei den Uebergabeverträgen übliche Verfahren anschließt. Der Uebernahmepreis wird alsdann regelmäßig so bemessen, daß der neue Besitzer bestehen kann, und bleibt jedenfalls fast immer hinter dem Verkaufswert zurück.

[S.15] Allerdings kann auch dort, wo das Anerbenrecht als Intestaterbrecht eingeführt wird, eine letztwillige Verfügung abändernde Bestimmungen treffen. Aber immerhin würde doch ein solches Anerbenrecht einzelnen Kindern bis dahin eventuelle Berechtigungen gewähren, welche eine sachgemäße Verfügung und eine freie und friedliche Vereinbarung zwischen Eltern und Kindern beeinträchtigen müßten. Auch würde die gesetzliche Schablone des Anerbenrechts alsdann Platz greifen in allen jenen Fällen, in welchen aus zufälligen Gründen, aus Unkenntnis des Gesetzes oder aus Bequemlichkeit eine entgegenstehende Verfügung nicht getroffen ist, obwohl es den Erblassern und ihren Angehörigen nicht in den Sinn gekommen ist, das Gut nach Anerbenrecht zu vererben.

Die ungleiche Behandlung der Erben von Gesetzes wegen trägt einen schroffen Gegensatz von Reich und Arm von vorn herein in die einzelnen Familien und verfeindet die Glieder derselben unter einander. Derjenige, den das Gesetz zum Anerben bestimmt, wird dadurch verleitet, von vorn herein sich seinen Geschwistern gegenüber zu überheben. Er wird zugleich verführt, sein Fortkommen in der Zukunft weniger zu stützen auf eigene Kraft und Tüchtigkeit als auf das ihm zugesicherte Vorrecht. Für bäuerliche Familien sind auch nicht wie für die jüngeren Kinder der großen Fideikommißbesitzer lohnende Stellen im Offiziere und Beamtenstande oder in Damenstiftern zur entsprechenden Versorgung vorhanden.

Zur Rechtsgeschichte. Das Anerbenrecht ist kein altes deutsches Recht, sondern hängt mit den Hörigkeitsverhältnissen des Bauernstandes in früheren Zeiten zusammen und mit dem damaligen Interesse der Herren, die Güter wegen ihrer darauf ruhenden Berechtigungen ungeteilt zu erhalten.

Weitergehende Absichten. Gleichwohl beabsichtigt die Regierung, nicht bloß das Anerbenrecht für einzelne Provinzen obligatorisch einzuführen, also unabhängig von der Eintragung der betreffenden Güter in die Höferolle, sondern auch, um die Erhaltung der Geschlossenheit des Hofes und des Familienbesitzes bei dem Anerben zu sichern, noch weitere Beschränkungen der Freiheit des Grundeigentums in Bezug auf Veräußerung, Verschuldung und Teilung einzuführen. Ein Anfang in dieser Richtung ist gemacht durch ein Gesetz vom 8. Juni 1896, welches für die nach der Gesetzgebung von 1886, 1890 und 1891 errichteten oder noch zu errichtenden Rentengüter (siehe „Rentengüter.“) die Anerbengutseigenschaft obligatorisch macht, die Zerteilung des Gutes oder die Abveräußerung von Teilen durch Verfügung unter Lebenden oder von Todes wegen an die Zustimmung der Generalkommissionen knüpft und diese Zustimmung auch erfordert im Falle einer Veräußerung an einen anderen als an Nachkommen, Geschwister, deren Nachkommen oder die Ehefrau. Zugleich wurde in diesem Gesetz bestimmt, daß die Miterben ihre Abfindung lediglich in Renten fordern können, wobei die Vermittlung von Rentenbanken statthaft ist. Gegen dieses Gesetz stimmten nur die Freisinnigen, die Polen und ein Teil des Zentrums.  

Im Anschluß an dieses Gesetz nahm das Herrenhaus noch eine Resolution an, die Regierung zu ersuchen, Gesetzentwürfe vorzulegen, welche für Landguter unter Berücksichtigung der verschiedenen Verhältnisse der einzelnen [S.16] Landesteile a) unter Mitwirkung der Rentenbanken oder, soweit dies nicht möglich ist, anderer zu begründenden oder zu erweiternden Institute das Anerbenrecht einführen und auf die Umwandlung der Hypotheken und Grundschulden in Rentenschulden mit Amortisationszwang hinwirken; b) der realen Verschuldung Grenzen ziehen; c) bei Wahrung bestehender Rechte die Bildung besonders mittlerer Fideikommisse erleichtern. — Im Abgeordnetenhause hatten die Konservativen einen hiermit übereinstimmenden Antrag gestellt. Abg. Frhr. v. Huene aus dem Centrum hatte dieselbe Resolution beantragt für diejenigen Gegenden, wo bereits entsprechende provinzielle Gewohnheiten vorhanden sind. Die sämmtlichen Anträge wurden an eine Kommission überwiesen, gelangten aber dort nicht mehr zur Erledigung.

Nach Zeitungsnachrichten, denen regierungsseitig nicht widersprochen wird, bereitet die Regierung für die Landtagssession 1898 einen Gesetzentwurf vor, welcher für die Provinz Westfalen das Anerbenrecht unter Aufhebung der Höferollen obligatorisch einführen soll. — In der Provinz Westfalen sind die Höferollen durch Gesetz vom 30. April 1882 eingeführt worden. Gerade für die Provinz Westfalen hatten die Freunde der Höferollen große Erwartungen auf eine allgemeine Anwendung des Gesetzes gerichtet. Seitens des Westfälischen Bauernvereins unter Führung des Freiherrn v. Schorlemer-Alst wurde nach Möglichkeit für die Eintragung agitirt. Alle Behörden waren angewiesen, den Bauern die Eintragung in die Höferolle zu empfehlen. Gleichwohl sind auch in der Provinz Westfalen nach einer vor einigen Jahren veröffentlichten amtlichen Mitteilung nur 2357 Eintragungen erfolgt, das sind noch nicht fünf Prozent der in der Provinz vorhandenen Güter von mehr als fünf Hektar Umfang.

Hat man nun etwa in der Provinz Westfalen die Erfahrung gemacht, daß die bestehende Freiheit des Grundeigentums eine in wirtschaftlicher und sozialer Beziehung schädliche Zersplitterung herbeiführt? Mit nichten! Ein Vergleich der amtlichen Erhebungen von 1895 mit denjenigen von 1882 ergiebt umgekehrt, daß in diesen 13 Jahren die Zahl der landwirtschaftlichen Betriebe über fünf Hektar sich nicht vermindert, sondern vermehrt hat, nämlich von 46 975 auf 49894. Diese Vermehrung ist eingetreten in allen drei Klassen der Statistik. Die Zahl der Güter von 5 bis 20 Hektar hat sich vermehrt von 35 242 auf 37 746, die Zahl der Güter von 20 bis 100 Hektar von 11456 auf 11836 und die Zahl der Güter von 100 Hektar und mehr von 276 auf 302. Aber, so könnte man einwerfen, ist denn nun etwa trotz der Vermehrung der Güter die Gesamtfläche derselben geringer geworden? Auch dies trifft nicht zu. In allen drei Größenklassen hat sich auch die Hektarzahl der Güter erhöht, und zwar insgesamt von 784578 auf 828144. Da sich in der Provinz Westfalen in den 13 Jahren die landwirtschaftliche Fläche überhaupt nur um 51158 Hektar vermehrt hat, so ist also diese Vermehrung fast ausschließlich, nämlich mit 43 616 Hektar, den landwirtschaftlichen Betrieben über 5 Hektar zugute gekommen.

Westfalen hat in großen Teilen der Provinz eine dichte industrielle Bevölkerung. Die Seßhaftmachung der Arbeiter durch den Erwerb eines kleinen [S.17] landwirtschaftlichen Besitzthums ist gerade in Westfalen eine soziale Frage von großer Bedeutung. Um so mehr ist es zu bedauern, daß die Zahl der kleinen Betriebe unter 2 Hektar in Westfalen sich nur von 213155 auf 245 650 in den 13 Jahren erhöht hat, wobei die Gesamtfläche dieser Besitzungen noch eine Verminderung erfahren hat von 106922 auf 106030 Hektar.

Wenn eine Einwirkung der Gesetzgebung auf die Besitzverhältnisse der Landgüter überhaupt gerechtfertigt wäre, so würde gerade in Westfalen bei der Vorliebe der bäuerlichen Bevölkerung für die Aufrechterhaltung geschlossener Höfe im vorhandenen Umfang eher die entgegengesetzte Richtung von derjenigen des projektirten Gesetzentwurfs angebracht sein. Denn in Westfalen hat sich allein in den letzten fünf Jahren die Bevölkerung um mehr als 10 Prozent, nämlich von 2428661 auf 2701420 Seelen erhöht. Allerdings entfällt von dieser Bevölkerungszunahme der Löwenanteil auf den industriellen Arnsberger Beritt mit 178078 Personen. Im Regierungsbezirk Minden ist die Zunahme noch nicht einmal dem Plus der Geborenen über die Zahl der Gestorbenen gleichgekommen. — Geradezu als eine Ungeheuerlichkeit muß es unter diesen Verhältnissen bezeichnet werden, die Parzellirungen und den Erwerb von Land durch die Gesetzgebung künstlich zu erschweren.