Anerbenrecht,
Höferollen. [S.13]In
Preußen machen sich seit längerer
Zeit
unter Führung des Herrn v. Miquel
Bestrebungen geltend, die durch die
Gesetzgebung
seit Anfang des Jahrhunderts
gewährleistete Freiheit des
Grundeigentums in
verschiedenen Richtungen mehr und mehr
einzuschränken. Zunächst ist seit
1874
eine Reihe sogenannter
Landgüterverordnungen für einzelne
preußische Provinzen,
nämlich für Hannover, Westfalen,
Branden-[S.14]-burg,
Schlesien, Schleswig-Holstein und
für den Regierungsbezirk Kassel
erlassen worden. Diese Gesetze führen
ein
Anerbenrecht als Intestaterbrecht ein
für solche Güter, welche die
Besitzer zu
diesem Zwecke in eine sogenannte
Höferolle eintragen lassen. Die
spätere
Löschung aus der Höferolle bleibt
dem Besitzer freigestellt. Solange aber das
Grundstück in der Höferolle
eingetragen ist, kann im Erbfalle der
älteste Sohn
seine Geschwister nach einer niedrigeren
Taxe für ihr Erbteil an dem Landgut
abfinden. Die Taxe wird berechnet
beispielsweise nach dem zwanzigfachen (in
Westfalen), dreißigfachen (in
Brandenburg) und vierzigfachen (in
Schlesien)
Grundsteuerreinertrag. Diese
Höferollen-Gesetzgebung ist im Landtage
angenommen
worden gegen den Widerspruch nur der
freisinnigen Abgeordneten.
Wirkungen.
Die auf diese Landgüterordnungen
gesetzten Erwartungen haben sich in keiner
Weise erfüllt. Das Ergebnis ist ein
wahrhaft klägliches gewesen. Obwohl die
Höferollen 1895 schon vor 7 bis 10
Jahren eingeführt waren, hatten in den
drei
Provinzen Brandenburg, Schlesien und
Schleswig- Holstein zusammengenommen nur 155
Eintragungen von Landgütern
stattgefunden. Dazu kommen 161 Eintragungen
in dem
Regierungsbezirk Kassel. In Westfalen haben
allerdings 2357 Eintragungen
stattgefunden. Im Kreise Lauenburg 518. In
Hannover gilt die
Höferollen-Gesetzgebung seit 1874. Hier
sind 66344 Höfe eingetragen worden. Es
erklärt sich dies aber daraus,
daß dort das Höferecht nicht die
Abänderung
eines gleichen, allgemeinen Erbrechts
darstellt, sondern an die Stelle eines
alten,
vielfach unklaren und durchaus
verschiedenartigen bäuerlichen
Erbrechts getreten
ist, welches in Bezug auf ungleiche
Berücksichtigung der Geschwister noch
viel
weitergehende Bestimmungen enthielt.
Kritik.
Den Rechtsanschauungen des Bauernstandes
widerspricht die gesetzliche
Bevorzugung einzelner Erben vom Standpunkt
sowohl der ländlichen Interessen wie
des Familienrechts. Die durch das
Anerbenrecht begünstigte
Geschlossenheit der
Güter und Höfe erschwert die
Erlangung von Landbesitz für die
nachgeborenen
Kinder und begünstigt bei wachsender
Bevölkerung eine Zunahme des
besitzlosen
und erwerbslosen Proletariats. In dem
Maße, wie der landwirtschaftliche
Betrieb
an Intensität gewinnt, ist die
Verkleinerung der einzelnen Besitzungen und
damit die Vermehrung der
landwirtschaftlichen Betriebe und der Zahl
der selbständigen
Landwirte ein naturgemäßer und
notwendiger Prozeß. Unter dem
Anerbenrecht
dagegen müßte sich das
französische Zweikindersystem als Sitte
ausbilden.
Soweit die
Aufrechterhaltung der Güter und
Höfe in dem gegenwärtigen Umfange
landschaftlich und wirtschaftlich
gerechtfertigt erscheint, sorgt die Sitte
auch ohne die Stütze und den Zwang der
Gesetzgebung dafür, daß nicht
ungerechtfertigte Verkleinerungen eintreten.
So treffen die Besitzer schon bei
Lebzeiten entsprechende Verfügungen,
insbesondere auch durch Eheverträge.
Stirbt der Besitzer, ohne die Nachfolge
geordnet zu haben, so pflegen die Miterben
eine Auseinandersetzung zu vereinbaren, die
sich an das bei den Uebergabeverträgen
übliche Verfahren anschließt. Der
Uebernahmepreis wird alsdann
regelmäßig so
bemessen, daß der neue Besitzer
bestehen kann, und bleibt jedenfalls fast
immer
hinter dem Verkaufswert zurück.
[S.15] Allerdings
kann auch dort, wo das Anerbenrecht als
Intestaterbrecht
eingeführt wird, eine letztwillige
Verfügung abändernde Bestimmungen
treffen.
Aber immerhin würde doch ein solches
Anerbenrecht einzelnen Kindern bis dahin
eventuelle Berechtigungen gewähren,
welche eine sachgemäße
Verfügung und eine
freie und friedliche Vereinbarung zwischen
Eltern und Kindern beeinträchtigen
müßten. Auch würde die
gesetzliche Schablone des Anerbenrechts
alsdann Platz
greifen in allen jenen Fällen, in
welchen aus zufälligen Gründen,
aus
Unkenntnis des Gesetzes oder aus
Bequemlichkeit eine entgegenstehende
Verfügung
nicht getroffen ist, obwohl es den
Erblassern und ihren Angehörigen nicht
in
den Sinn gekommen ist, das Gut nach
Anerbenrecht zu vererben.
Die ungleiche
Behandlung der Erben von Gesetzes wegen
trägt einen schroffen Gegensatz von
Reich und Arm von vorn herein in die
einzelnen Familien und verfeindet die
Glieder derselben unter einander. Derjenige,
den das Gesetz zum Anerben
bestimmt, wird dadurch verleitet, von vorn
herein sich seinen Geschwistern
gegenüber zu überheben. Er wird
zugleich verführt, sein Fortkommen in
der
Zukunft weniger zu stützen auf eigene
Kraft und Tüchtigkeit als auf das ihm
zugesicherte Vorrecht. Für
bäuerliche Familien sind auch nicht wie
für die
jüngeren Kinder der großen
Fideikommißbesitzer lohnende Stellen
im Offiziere
und Beamtenstande oder in Damenstiftern zur
entsprechenden Versorgung vorhanden.
Zur
Rechtsgeschichte. Das Anerbenrecht ist kein
altes deutsches Recht, sondern
hängt mit den
Hörigkeitsverhältnissen des
Bauernstandes in früheren Zeiten
zusammen und mit dem damaligen Interesse der
Herren, die Güter wegen ihrer
darauf ruhenden Berechtigungen ungeteilt zu
erhalten.
Weitergehende
Absichten. Gleichwohl beabsichtigt die
Regierung, nicht bloß das Anerbenrecht
für einzelne Provinzen obligatorisch
einzuführen, also unabhängig von
der Eintragung
der betreffenden Güter in die
Höferolle, sondern auch, um die
Erhaltung der
Geschlossenheit des Hofes und des
Familienbesitzes bei dem Anerben zu sichern,
noch weitere Beschränkungen der
Freiheit des Grundeigentums in Bezug auf
Veräußerung, Verschuldung und
Teilung einzuführen. Ein Anfang in
dieser Richtung
ist gemacht durch ein Gesetz vom 8. Juni
1896, welches für die nach der
Gesetzgebung von 1886, 1890 und 1891
errichteten oder noch zu errichtenden
Rentengüter (siehe „Rentengüter.“)
die Anerbengutseigenschaft obligatorisch
macht, die Zerteilung des Gutes oder die
Abveräußerung von Teilen durch
Verfügung unter Lebenden oder von Todes
wegen an die Zustimmung der
Generalkommissionen knüpft und diese
Zustimmung auch erfordert im Falle einer
Veräußerung an einen anderen als
an Nachkommen, Geschwister, deren Nachkommen
oder die Ehefrau. Zugleich wurde in diesem
Gesetz bestimmt, daß die Miterben
ihre Abfindung lediglich in Renten fordern
können, wobei die Vermittlung von
Rentenbanken statthaft ist. Gegen dieses
Gesetz stimmten nur die Freisinnigen,
die Polen und ein Teil des Zentrums.
Im
Anschluß an dieses Gesetz nahm das
Herrenhaus noch eine Resolution an, die
Regierung zu ersuchen, Gesetzentwürfe
vorzulegen, welche für Landguter unter
Berücksichtigung der verschiedenen
Verhältnisse der einzelnen[S.16] Landesteile
a) unter Mitwirkung der
Rentenbanken oder, soweit dies nicht
möglich ist, anderer zu
begründenden oder
zu erweiternden Institute das Anerbenrecht
einführen und auf die Umwandlung der
Hypotheken und Grundschulden in
Rentenschulden mit Amortisationszwang
hinwirken;
b) der realen Verschuldung Grenzen ziehen;
c) bei Wahrung bestehender Rechte
die Bildung besonders mittlerer
Fideikommisse erleichtern. — Im
Abgeordnetenhause hatten die Konservativen
einen hiermit übereinstimmenden
Antrag gestellt. Abg. Frhr. v. Huene aus dem
Centrum hatte dieselbe Resolution
beantragt für diejenigen Gegenden, wo
bereits entsprechende provinzielle
Gewohnheiten vorhanden sind. Die
sämmtlichen Anträge wurden an eine
Kommission
überwiesen, gelangten aber dort nicht
mehr zur Erledigung.
Nach
Zeitungsnachrichten, denen regierungsseitig
nicht widersprochen wird, bereitet
die Regierung für die Landtagssession
1898 einen Gesetzentwurf vor, welcher
für
die Provinz Westfalen das Anerbenrecht unter
Aufhebung der Höferollen obligatorisch
einführen soll. — In der Provinz
Westfalen sind die Höferollen durch
Gesetz vom
30. April 1882 eingeführt worden.
Gerade für die Provinz Westfalen hatten
die
Freunde der Höferollen große
Erwartungen auf eine allgemeine Anwendung
des
Gesetzes gerichtet. Seitens des
Westfälischen Bauernvereins unter
Führung des
Freiherrn v. Schorlemer-Alst wurde nach
Möglichkeit für die Eintragung
agitirt.
Alle Behörden waren angewiesen, den
Bauern die Eintragung in die Höferolle
zu
empfehlen. Gleichwohl sind auch in der
Provinz Westfalen nach einer vor einigen
Jahren veröffentlichten amtlichen
Mitteilung nur 2357 Eintragungen erfolgt,
das
sind noch nicht fünf Prozent der in der
Provinz vorhandenen Güter von mehr als
fünf Hektar Umfang.
Hat man nun
etwa in der Provinz Westfalen die Erfahrung
gemacht, daß die bestehende Freiheit
des Grundeigentums eine in wirtschaftlicher
und sozialer Beziehung schädliche
Zersplitterung herbeiführt? Mit
nichten! Ein
Vergleich der amtlichen Erhebungen von 1895
mit denjenigen von 1882 ergiebt
umgekehrt, daß in diesen 13 Jahren die
Zahl der landwirtschaftlichen Betriebe
über fünf Hektar sich nicht
vermindert, sondern vermehrt hat,
nämlich von 46
975 auf 49894. Diese Vermehrung ist
eingetreten in allen drei Klassen der
Statistik. Die Zahl der Güter von 5 bis
20 Hektar hat sich vermehrt von 35 242
auf 37 746, die Zahl der Güter von 20
bis 100 Hektar von 11456 auf 11836 und
die Zahl der Güter von 100 Hektar und
mehr von 276 auf 302. Aber, so könnte
man
einwerfen, ist denn nun etwa trotz der
Vermehrung der Güter die
Gesamtfläche
derselben geringer geworden? Auch dies
trifft nicht zu. In allen drei
Größenklassen hat sich auch die
Hektarzahl der Güter erhöht, und
zwar insgesamt
von 784578 auf 828144. Da sich in der
Provinz Westfalen in den 13 Jahren die
landwirtschaftliche Fläche
überhaupt nur um 51158 Hektar vermehrt
hat, so ist also
diese Vermehrung fast ausschließlich,
nämlich mit 43 616 Hektar, den
landwirtschaftlichen Betrieben über 5
Hektar zugute gekommen.
Westfalen
hat in großen Teilen der Provinz eine
dichte industrielle Bevölkerung. Die
Seßhaftmachung der Arbeiter durch den
Erwerb eines kleinen [S.17]landwirtschaftlichen
Besitzthums
ist gerade in Westfalen eine soziale Frage
von großer Bedeutung. Um
so mehr ist es zu bedauern, daß die
Zahl der kleinen Betriebe unter 2 Hektar in
Westfalen sich nur von 213155 auf 245 650 in
den 13 Jahren erhöht hat, wobei
die Gesamtfläche dieser Besitzungen
noch eine Verminderung erfahren hat von
106922
auf 106030 Hektar.
Wenn eine
Einwirkung der Gesetzgebung auf die
Besitzverhältnisse der Landgüter
überhaupt gerechtfertigt wäre, so
würde gerade
in Westfalen bei der Vorliebe der
bäuerlichen Bevölkerung für
die
Aufrechterhaltung geschlossener Höfe im
vorhandenen Umfang eher die
entgegengesetzte Richtung von derjenigen des
projektirten Gesetzentwurfs
angebracht sein. Denn in Westfalen hat sich
allein in den letzten fünf Jahren
die Bevölkerung um mehr als 10 Prozent,
nämlich von 2428661 auf 2701420 Seelen
erhöht. Allerdings entfällt von
dieser Bevölkerungszunahme der
Löwenanteil auf
den industriellen Arnsberger Beritt mit
178078 Personen. Im Regierungsbezirk
Minden ist die Zunahme noch nicht einmal dem
Plus der Geborenen über die Zahl
der Gestorbenen gleichgekommen. — Geradezu
als eine Ungeheuerlichkeit muß es
unter
diesen Verhältnissen bezeichnet werden,
die Parzellirungen und den Erwerb von
Land durch die Gesetzgebung künstlich
zu erschweren.