Politisches ABC=Buch
9. Auflage, 1898
Antisemiten.
[S.17]
Zur
Geschichte. Eine politische Bewegung zum
Zwecke, die Juden in ihren
öffentlichen Rechten zu schmälern
und in
ihrer
politischen und gesellschaftlichen Stellung
zu schädigen, datirt in
Deutschland erst in größerer
Ausdehnung durch das Auftreten des
Hospredigers
Stöcker von 1879 an im
„Christlichsozia1en Verein“ zu Berlin. Die
Wahlpolitik
des Fürsten Bismarck begünstigte
damals solche Bestrebungen. Kaiser Friedrich
III. hat dagegen als Kronprinz im Februar
1880 gegenüber dem Vorsitzenden der
jüdischen Korporation in Berlin, dem
Stadtrat Magnus, die antisemitische
Bewegung als „eine Schmach für
Deutschland“ bezeichnet. „Er habe im
Auslande
den Ausländern gegenüber sich
dieser Agitation geschämt.“ Am 14.
Februar 1881
nahm der Kronprinz nochmals Veranlassung,
demselben Stadtrat Magnus gegenüber
zu erklären, er vermöge es nicht
zu fassen, wie Männer, die auf
geistiger Höhe
stehen sollten, sich zum Träger und
Hilfsmittel einer in ihren Voraussetzungen
und Zielen gleichmäßig
verwerflichen Agitation hingeben
könnten. — Als die
Wahlbewegung im Jahre 1881 für den
Fürsten Bismarck nicht in dem
erwarteten
Sinne ausgefallen war, begann derselbe sich
kühler gegenüber den
antisemitischen Bestrebungen zu verhalten.
Dagegen
begann von 1889 an die antisemitische
Bewegung in selbständigen Formen,
unabhängig von der konservativen
Parteileitung, hervorzutreten. Im Jahre 1889
wurde unter dem Namen „Deutschsoziale
Partei“ eine antisemitische Partei gebildet.
Dazu kam 1890 eine „antisemitische
Volkspartei“. Einzelne Agitationserfolge bei
Ersatzwahlen im Jahre 1892 und die durch die
Unterstützung der Konservativen
ermöglichte Wahl des Rektors Ahlwardt
in Arnswalde-Friedeberg half 1892 der
antisemitischen Bewegung zu einem gewissen
Aufschwung. Als die Konservativen am
8. De- [S.18]-zember 1892
auf Tivoli in Berlin einen Parteitag
abhielten, nahmen sie
einen antisemitischen Passus in ihr neues
Programm auf. In der Versammlung
wurde ein Hoch auf Ahlwardt ausgebracht. Bei
der Verhandlung über die
Militärvorlage im Mai 1893 teilten sich
im Reichstage die Antisemiten. Die
Abgg. Ahlwardt, Pickenbach, Liebermann v.
Sonnenberg stimmten für die Vorlage,
die Abgg. Böckel, Zimmermann und Werner
dagegen. Bei der folgenden Wahlbewegung
vollzogen die Antisemiten auf der ganzen
Linie eine Schwenkung zu Gunsten der
Militärvorlage. Bei den
Reichstagswahlen nach der Auflösung im
Juni 1893 wurden
263 861 antisemitische Stimmen abgegeben,
darunter 117001 in Preußen, 91364 im
Königreich Sachsen, 24 200 im
Großherzogtum Hessen. Von den
preußischen Stimmen
entfielen—32678 auf Hessen-Nassau, 26869 auf
Brandenburg, 10215 auf die Stadt
Berlin und 10656 auf die Rheinprovinz. Es
wurden 16 antisemitische Abgeordnete
gewählt, darunter Ahlwardt und Werner
doppelt. Unter den 16 Mandaten entfielen
5 auf den Reg.-Bez. Cassel, 3 auf das
Großh. Hessen, 5 auf das Königr.
Sachsen.
Bei den späteren Ersatzwahlen verloren
die Antisemiten ein Mandat in Sachsen.
Dagegen gewannen sie ein Mandat bei der
Ersatzwahl in Waldeck.
Die
Abgeordneten beider antisemitischer
Richtungen vereinigten sich 1893 zu einer
gemeinsamen Reichstagsfraktion der
„deutsch-sozialen Reform-Partei“ mit
Ausnahme des Abgeordneten Ahlwardt. Ein
Parteitag in Eisenach am 8. Oktober 1894
führte auch eine Vereinigung der beiden
Parteien herbei.
Ein
Parteitag
in Erfurt am 5. Oktober 1895 stellte ein
Programm für die neue Parteibildung
auf. Das Programm besteht aus einem
Phrasenschwall sogenannter „Leitsätze“
über
die Interessen des „Mittelstandes“, dem sich
19 verschiedene Forderungen
anreihen. Der Antisemitismus tritt darin
insbesondere hervor in der Forderung
der Aufhebung der Gleichberechtigung
für die Juden und der Stellung
derselben
unter ein besonderes Fremdenrecht, des
Ausschlusses der Juden aus allen
amtlichen und einflußreichen
Stellungen, des Verbots der Einwanderung
fremder
Juden, der Ausscheidung des jüdischen
Elements aus „christlich deutschen
Schulen“. Fm Uebrigen ist das Programm ein
buntes Gemisch aus liberalen und
konservativen Programmen. Aus den Ersteren
ist die Aufrechthaltung und Sicherung
des Reichswahlrechts, der Vereins- und
Versammlungsfreiheit, die Abwehr weiterer,
die unteren Schichten treffender indirekter
Steuern hervorzuheben. Dagegen wird
u. A. Einführung einer Wehrsteuer
empfohlen. Aus
konservativ-agrarisch-zünftlerischen
Programmen entnommen ist u. A. die
Schutzzollpolitik, die staatliche Regelung
der Getreideeinfuhr (s.“Kanitz, Antrag.“),
die Garantie stetiger auskömmlicher
Getreidepreise, die Regelung des
Getreidehandels auf genossenschaftlicher
Grundlage,
Ablösung der Grundschulden,
Unpfändbarkeit eines Mindestbesitzes,
Heranziehung
der Gesamtheit zu den Lasten der
Zwangsversicherung, obligatorische Innungen
für das Handwerk mit
Befähigungsnachweis, Kolonialpolitik
und dergl. — Für
Arbeiter wird ein Maximalarbeitstag nach
Eigenart der einzelnen Betriebe
gefordert. Eine Spekulation auf die
Kleinhändler tritt hervor in der
Forderung
der Beschränkung des Hausirhandels,
Bekämpfung [S.19] „des
Filialunwesens“, Verbot der
Konsumvereine, soweit sie zu
gewerbsmäßigen Handelsbetrieben
ausarten. — Auch
sonst ist daß Programm darauf
zugeschnitten, die einzelnen Klassen der
Bevölkerung
durch Anpassung an Vorurteile und
Begünstigung ihrer Sonderinteressen
für die
Partei zu gewinnen.
Zum
besonderen Nachteil der Arbeiter hat ein
Parteitag in Nordhausen am 11. Oktober
1897 empfohlen, zu beraten, ob „eine
Einschränkung der Freizügigkeit“
nützlich
und möglich erscheint in dem Sinne,
daß zwar das Abzugsrecht erhalten,
aber daß
Zuzugsrecht ganz geändert wird.
Parteizerklüftung.
Von
den 16 antisemitischen Abgeordneten
gehören jetzt nur 12 der Fraktion der
Deutsch-sozialen Reformpartei im Reichstage
an, während die Abgg. Ahlwardt, Dr.
Böckel, Dr. Förster und Lieber
(Meißen) fraktionslos sind. Der Abg.
Dr. Förster
schied im Juni 1897 aus der Fraktion aus,
indem er zugleich bittere Vorwürfe
gegen dieselbe in der „Hannoverschen Post“
veröffentlichte:
Gerade in
der sozialen Politik fehle es noch an der
rechten Stellungnahme. „Mittelstand
und Mittelstand, darauf sitzen wir fest,
ohne daß recht ersichtlich wird, was
wir wollen und was wir nicht wollen. Von dem
überaus mangelhaften Besuche des
Reichstages auf Seiten unserer Fraktion, von
unseren ganz unzureichenden
Preßverhältnissen will ich nicht
weiter reden. Die Folge jenes Besuches und
des
Mangels an aller Beredung ist, daß die
Stellung zu den wichtigsten
Gegenständen
dem Belieben des Einzelnen überlassen
bleibt. Und demgemäß wird unsere
Bewegung
auch im Lande keine rechten Fortschritte
machen. Stillstand und Mangel an Leben
überall! Oder zu viel Leben, das
heißt oberflächlicher Radau mit
verbrauchten
Schlagworten! Welchen Wert hat die
Zugehörigkeit zu einer solchen
Partei!«
Im
August 1897 veröffentlichte das
Fraktionsmitglied Köhler (Gießen)
in der „Zeit“
eine Erklärung, wonach er auf dem
gleichen Boden wie der bayerische Bauernbund
stehe, dem er nach einer etwaigen Wiederwahl
im Jahre 1898, sofern derselbe
eine eigene Fraktion im Reichstage bilden
werde, jedenfalls als Hospitant
beitreten würde. Seine Beziehungen zur
Deutsch-sozialen Reformpartei beabsichtige
er vor der Hand nicht zu lösen, da ihn
die Zugehörigkeit zu derselben nicht
genire, „Liebermanns Führung für
mich ganz und gar nicht vorhanden ist und
ich
vollständige Bewegungsfreiheit
innerhalb und außerhalb des Reichstags
wie des
hessischen Land-tags habe“.
Darauf
antwortete der zur Fraktion gehörige
Abg. v. Liebermann in seinem Blatt: ,,Es
ist ganz gewiß bedauerlich, daß
kurz vor
den allgemeinen Wahlen und während wir
bei einer Nachwahl im Kampfe stehen, ein
Abgeordneter so wenig Korpsgeist besitzt,
durch überflüssige Redseligkeit
die
Partei bloßzustellen, aber sonderlich
erstaunt wird darüber unter den
Abgeordneten der Fraktion, die Herrn
Köhler kennen, niemand sein. Er ist nie
etwas anderes gewesen, als eine Ziffer in
der Fraktionsliste, und als solche
wird man ihn vielleicht auch noch nach
seinen letzten Geständnissen belassen,
weil wir vorläufig erst ein kleines
Häuflein sind. Für Herrn Philipp
Köhler ist
weder „Liebermanns“ noch irgend eine anderen
"Führung" jemals vorhanden gewesen.
Aber er „genierte“ auch die Fraktion nur
wenig, nämlich nur, wenn er ab und zu
einmal in der „wendischen Hauptstadt“ Berlin
gewesen war.“
Außerhalb
des
Reichstages ist es noch ärger. Neben
der offiziellen Partei
Liebermann-Zimmermann-Werner existirt die
Allgemeine Antisemitische
Vereinigung, die den Abg. Ahlwardt
angestellt hat. Dann giebt es einen
Germanischen Volks-Bund, in dem Herr v.
Mosch das große Wort führt; er
will bei
den nächsten Wahlen den Konservativen
allein vier Sitze entreißen. In Berlin
besteht auch noch ein Verband liberaler
Antisemiten mit Schwennhagen und
Muralt, der besonders das Christentum
angreift, und der Dühringsche
Sozialitären-Bund, der den vorigen an [S.20] Gehässigkeit
die Religion der Juden
wie der Christen noch übertrifft,
endlich noch eine Fraktion Förster,
deren
Standpunkt nicht bekannt ist.
Auch
außerhalb Berlins ist es nicht besser;
die Antisemiten in Hamburg bilden ihre
eigene Partei genau so gut wie die badische
und bayrische Antisemitenpartei,
und der Mitteldeutsche Bauernverein
Köhlers verwahrt sich dagegen, etwa mit
der
offiziellen Partei identifiziert zu werden.
Einen neuen Zankapfel bildet das
Verhältnis zum Bund der Landwirte. Auf
dem Parteitag in Nordhausen am 11.
Oktober 1897 verwahrten sich fast alle
Redner gegen denselben, den Abg. Lotze
als einen Unterschlupf für konservative
und nationalliberale Wahlzwecke
bezeichnete. Während der rechte
Flügel der Deutsch-sozialen
Reformpartei dem
Bund der Landwirte näher steht, liegt
der linke Flügel Köhler-Hirschel
mit
demselben in heißem Kampfe schon wegen
der Konkurrenz des Bundes mit dem
hessischen Bauernverein der Antisemiten.
Auch im Königreich Sachsen besteht
eine scharfe Animosität zwischen dem
Bund der Landwirte und den Antisemiten.
Die Konservativen haben hier bei den
Landtagswahlen im Oktober 1897 die
Antisemiten vollständig aus dem
Landtage verdrängt. Der
Antisemitensührer von
Mosch griff den Abg. Liebermann von
Sonnenberg im Juli 1897 in seiner
„Deutschen Reform“ in Hamburg wie folgt an.
Er nennt den Einfluß Liebermans
einen unheilvollen, „weil er die Partei
beständig nach rechts gezogen hat und
stets weiter ziehen wird, weil er uns stets
als Anhängsel an den gründlich in
den Schlamm gefahrenen konservativen Karren
anzuhängen bemüht war und dasselbe
traurige Spiel heute mit dem „Bunde der
Landwirte“ treibt. Daß er dieses alte
Spiel aber heut treiben darf, während
seine Fraktionsgenossen mit der
Gründung
von Bauernbünden und mit scharfen
Angriffen gegen den „Bund der Landwirte“
vorgehen, — das muß uns in den Augen
der politischen Welt geradezu
lächerlich
und verächtlich machen! Was ist das
für eine Partei, deren Abgeordnete in
solchen Grundfragen direkt gegen einander
arbeiten?!!“ Mosch fordert, daß dem
Abg. Liebermann von Sonnenberg der
Laufpaß gegeben wird.
Bei den
Abstimmungen im Reichstag ging das
Häuflein der Antisemiten, soweit es
überhaupt anwesend war, nach allen
Richtungen auseinander. Darüber hat
jüngst
die „Nationalliberale Korrespondenz“ die
folgende Uebersicht veröffentlicht:
Vom
November 1895 bis inkl. Juni 1897 haben im
Ganzen 45 namentliche Abstimmungen
stattgefunden. Bei diesen 45
Auszählungen ergab sich, daß von
den 16
Antisemiten im Durchschnitt immer nur etwa
die Hälfte (genau 8,4) anwesend
waren, und zwar fehlten von der andern
Hälfte die meisten ohne Entschuldigung.
Zur höchsten Stufe in letzterer
Beziehung haben es die Herren Köhler
und Böckel
gebracht: ersterer war nur sechsmal
anwesend, fehlte also 39 Mal, darunter 35
Mal ohne Entschuldigung. Dr. Böckel war
neunmal zugegen, fehlte aber alle 36
Mal ohne Entschuldigung. Dann kommen erst
Ahlwardt, der 35, Hirschel, der 31,
und Bindewald, der 28 Mal fehlte, und zwar
Ahlwardt 31, Hirschel 23, Bindewald
25 Mal ohne Entschuldigung.
Die
wenigen „deutschsozialen Reformer“, die an
den namentlichen Abstimmungen
teilnahmen, sind aber keineswegs einig
gewesen. Einmal, am 22. Juni 1896,
wußten sie überhaupt nicht, was
sie wollen sollten. Als an diesem Tage
über den
sozialdemokratischen Antrag abgestimmt
wurde, wonach die
Krankenversicherungspflicht
durch einen Paragraphen des
bürgerlichen Gesetzbuches
eingeführt werden sollte,
fehlten 13, und die anwesenden 3 enthielten
sich der Abstimmung. Und 15 Mal
stimmten diese „Reformer“ lustig
widereinander, als ob niemals einer der
Ihrigen
in Volksversammlungen den Eindruck gemacht
hätte, daß die Entschiedenheit,
Reinheit und Einheit des Wollens, wie
überhaupt die Erlösung aus allen
Zweifeln
und Schwankungen lediglich bei ihnen zu
finden sei. Diese Einheit des Wollens
sah in 15 von 45 Fällen
folgendermaßen aus: Am 6. März
1896 stimmen 2 für, 5
gegen die schärfere Polizeiaufsicht
über Schauspie unternehmer, 9 fehlen; —
am
10. März 1896 stimmen [S.21] einer
für, 7 gegen
Freigabe des Detailreifens iu Wäsche
usw., 8 fehlen; — am 24. 4. 96 stimmen 2
für, 3 gegen die Giltigkeit der Wahl
des Abg. Holz in Schwetz, 11 fehlten; —- am
5. 5. 96 stimmen 11 für, 1 gegen das
Färbeverbot im Margarinegesetz, 4
fehlen;
— am 6. 5. 96 stimmen 10 für, 2 gegen
die Trennung der
Margarine-Verkaufsräume,
4 fehlen; — am 12. 5. 96 stimmen 4 für,
6 gegen die Doppelbesteuerung der
Melasse, 6 fehlen; — am 15. 5. 96 stimmen 3
für, 4. gegen die niedrigere
Bemessung der Zuckerverbrauchsabgabe, 9
fehlen; am 23. 6. 96 stimmt einer gegen
die Ersatzpflicht für Hasenschaden, 2
enthalten sich der Abstimmung, 13 fehlen:
— am 24. 6. 96 stimmen 3 für, 2 gegen
die fakultative Civilehe, 11 fehlen; — am
30. 6. 96 stimmen 4 für, einer gegen
die Ersatzpflicht für Hasenschaden, 4
enthalten sich, 7 fehlen; — am 1. 7. 96 stimmt
einer für das bürgerliche
Gesetzbuch, 6
enthalten sich, 9 fehlen; — am 20. 3. 97
stimmen 18 für, 9 gegen die Bewilligung
des Panzerschiffes „Ersatz König
Wilhelm“, ebenso gegen die des Avisos
„Ersatz
Hyäne“ — am 7. 5. 97 stimmen 9
für, einer gegen die Trennung der
Margarine-Verkaufsräume — 6 fehlen;
endlich am 24. Juni 1897 stimmen 2 für,
11
gegen die Handwerkerorganisation, 3 fehlen.
— Man wird finden, daß hier alles
Mögliche in Frage stand, was
draußen in des antisemitischen
Agitation behandelt
wird, als könne es darüber nicht
die mindeste Differenz unter
„deutsch-sozialen
Reformern“ geben.
Besonders
bezeichnend ist das Verhalten der
antisemitischen Fraktion bei den Beratungen
über das Bürgerliche Gesetzbuch.
Namens der antisemitischen Fraktion
erklärte
am Schluß der Beratungen über das
Bürgerliche Gesetzbuch der Abgeordnete
und
Rechtsanwalt Vielhaben, daß sie
demselben nicht zustimmen könnten, weil
es
neues Uebergewicht des Großkapitals
und der Großindustrie schaffe und den
Interessen
des Mittelstandes widerspreche. Darauf
stellte dann zunächst der
nationalliberale
Abg. Dr. Eneccerus fest, daß gerade
umgekehrt das Bürgerliche Gesetzbuch
entgegen den Behauptungen der Antisemiten
gesunde Fortschritte einschließe
durch die verbesserte Stellung der
Arbeitnehmer gegenüber den
Dienstberechtigten in den Bestimmungen
über die Arbeitsräume und das
Kündigungsrecht, durch die
Einräumung von größeren
Rechten für die Mieter
gegenüber dem Vermieter, durch die
Bestimmungen des Vereinsrechts, welche
Vereinen mit idealen Tendenzen eine
erweiterte Rechtssphäre und
Bewegungsfreiheit geben, durch die
Herabsetzung des normalen Zinsfußes
von 5
aus 4 pCt., durch die Beschränkung des
Maklerlohns, welche ganz gewiß den
Dienstsuchenden und nicht den Maklern zum
Vorteil gereicht, durch die Aufnahme
der Wucherparagraphen, welche auch die
Geschäfte, in denen Sachwucher ohne das
Erfordernis der Gewohnheit oder der
Erwerbsmäßigkeit vorliegt,
ausnahmslos für
nichtig erklärten usw. usw.
Hierzu
ergänzend trat Abg. Gröber der
Behauptung entgegen, der Mittelstand sei in
der
Reichstagskommission nicht zur Geltung
gekommen, durch die Angabe, daß der
Vertreter der Antisemiten, Dr. Vielhaben, in
der Kommission während der
viermonatlichen Beratung nur drei
Anträge gestellt habe. Von diesen bezog
sich
einer auf die Analphabeten, ein zweiter auf
die Verpfändung von Schiffen, also
auf eine Frage, welche nur die großen
Rheder interessirt, und ein dritter auf
das Pfandrecht des Vermieters an den
eingebrachten Gegenständen des Mieters.
Aber gerade durch den letzten Antrag wollten
die Antisemiten das Pfandrecht des
Vermieters nicht einschränken, sondern
ausdehnen auf die nicht der
Zwangsvollstreckung
unterliegenden Sachen, also auf den
allernötigsten Hausrat des kleinen
Mannes und
auf die Arbeitsmittel und Werkzeuge, deren
der kleine Mann zur Ezrwerbung des
Unterhalts mit Notwendigkeit bedarf.
Für diesen großkapitalistischen
Antrag
hatte freilich Dr. Vielhaben in der
Kommission nicht ein einziges Mitglied
gewonnen.
[S.22]
Das war
also, so schloß Abg. Gröber, die
Mittelstandspolitik, welche die Antisemiten
im
Bürgerlichen Gesetzbuch befolgten.
Während nach der Ablehnung der
Vertagung der
Plenarberatung Parteien wie die Freisinnigen
und die Sozialdemokraten nach
Möglichkeit Verbesserungsanträge
einbrachten, beschränkte sich auch im
Plenum die
ganze Thätigkeit der Antisemiten
darauf, in ungeschickter Form und bei
unpassenden Gelegenheiten erfolglose
Versuche zur Auszählung des Reichstages
zu
machen. Mit einem Wort, die Antisemiten
charakterisirten sich hier bei alledem
lediglich als Radau-Fraktion. Dabei war die
kleine Gesellschaft auch hier in
sich durchaus zerfallen. Wie in der dritten
Beratung festgestellt wurde, war
bei der ersten Lesung Abg. Förster
namens der Fraktion für die
Beibehaltung der
obligatorischen Civilehe eingetreten. In
diesem Sinne hatte denn auch Dr.
Vielhaben in der Kommission gestimmt. Dann
aber nahm die Fraktion einen Wechsel
in der Besetzung der Kommission vor, und es
erschien als Vertreter der Fraktion
Herr Iskraut, der sich als fanatischer
Gegner der obligatorischen Civilehe
geberdete und zugleich erklärte,
daß die Antisemiten sich deshalb nicht
mehr an
der Weiterberatung des Bürgerlichen
Gesetzbuchs beteiligen wollten, weil sie
bis zum Herbst noch eine große
Agitation gegen die Civilehe ins Werk zu
setzen
hofften.
Wahrhaft
kläglich war der Versuch der
Antisemiten, sich gegen diese Feststellungen
zu
verteidigen. Vielhaben meinte, durch die
Ausdehnung des Pfändungsrechts auf die
notwendigsten Gebrauchsgegenstände habe
man die Kreditfähigkeit des Arbeiters
erweitern wollen. In der Civilehefrage, so
führte Abg. v. Liebermann an, hat es
sich erst später herausgestellt,
daß der größere Teil der
Partei für die fakultative
Civilehe sei. Also eine solche Partei tritt
in die Beratung über eine große
grundsätzliche
Frage ein, ohne sich der Stellungnahme zu
derselben klar zu sein. Sie kündigt
alsdann eine große Agitation an in
einer Richtung, welche sich zugleich gegen
eine Minderheit in der eigenen Partei kehrt
und den Standpunkt verleugnet, den
dieselbe zum Anfang offiziell eingenommen
hat. Mit Recht bemerkte Abg. Bachem,
daß man solche Leute in der
praktischen Politik nicht mehr ernst nehmen
könne.
Genau
dasselbe Schauspiel aber wie bei dem
Bürgerlichen Gesetzbuch bot die
antisemitische Fraktion bei der Beratung des
Börsengesetzes. In
Volksversammlungen können die Herren
nicht genug von der Börse und den
Börsengeschäften erzählen.
Die Beratung des Börsengesetzes
hätte ihnen weitgehende
Gelegenheit geboten, Vorschläge
für die Gesetzgebung zur
Durchführung ihrer
Ansichten zu machen. Aber auch hier zeigten
sich die Herren ebenso unwissend wie
unfähig. So stellte Abg. Fischbeck am
28. April bei der zweiten Beratung des
Börsengesetzes in ähnlicher Weise
wie später Abg. Gröber beim
Bürgerlichen
Gesetzbuch fest, daß gerade die
Antisemiten in der Kommission für das
Börsengesetz sich recht schweigsam
benommen hätten. Sie begnügten
sich rein
mechanisch damit, immer für die
weitgehendsten Anträge zu stimmen. Nur
beim
Anfang der Beratungen unterstützte Abg.
Liebermann von Sonnenberg einige Male
ganz nebensächliche Anträge und [S.23] machte
nebensächliche Bemerkungen dazu. Dann
schied er ebenso aus der Kommission, wie
Vielhaben später aus der Kommission
für das Bürgerliche Gesetzbuch.
Sein Nachfolger, der in Waldeck
gewählte Abg. Müller
war ein ganz stiller Mann in der Kommission
und führte ein lediglich
beschauliches Dasein.
Die
antisemitische Bewegung erscheint bei weitem
verwerflicher als die sozialistische
Agitation. Sie richtet sich nicht bloß
gegen äußere
Besitzverhältnisse, sondern
gegen Menschen an sich und ihre Abstammung.
Selbst die Taufe vermag die
Agitation nicht zu befriedigen. Diese
Agitation verlangt nicht eine
Gleichstellung aller, sondern will gerade
die Juden in eine Ausnahmestellung
drängen, sie stachelt nicht blos die
wirtschaftlichen Interessen auf, sondern
entzündet auch den Religionshaß
und Rassenhaß.
|