Eugen Richter
1838-1906









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Politisches ABC=Buch
9. Auflage, 1898

 
 
Antisemiten. [S.17]

Zur Geschichte. Eine politische Bewegung zum Zwecke, die Juden in ihren öffentlichen Rechten zu schmälern und  in ihrer politischen und gesellschaftlichen Stellung zu schädigen, datirt in Deutschland erst in größerer Ausdehnung durch das Auftreten des Hospredigers Stöcker von 1879 an im „Christlichsozia1en Verein“ zu Berlin. Die Wahlpolitik des Fürsten Bismarck begünstigte damals solche Bestrebungen. Kaiser Friedrich III. hat dagegen als Kronprinz im Februar 1880 gegenüber dem Vorsitzenden der jüdischen Korporation in Berlin, dem Stadtrat Magnus, die antisemitische Bewegung als „eine Schmach für Deutschland“ bezeichnet. „Er habe im Auslande den Ausländern gegenüber sich dieser Agitation geschämt.“ Am 14. Februar 1881 nahm der Kronprinz nochmals Veranlassung, demselben Stadtrat Magnus gegenüber zu erklären, er vermöge es nicht zu fassen, wie Männer, die auf geistiger Höhe stehen sollten, sich zum Träger und Hilfsmittel einer in ihren Voraussetzungen und Zielen gleichmäßig verwerflichen Agitation hingeben könnten. — Als die Wahlbewegung im Jahre 1881 für den Fürsten Bismarck nicht in dem erwarteten Sinne ausgefallen war, begann derselbe sich kühler gegenüber den antisemitischen Bestrebungen zu verhalten.

Dagegen begann von 1889 an die antisemitische Bewegung in selbständigen Formen, unabhängig von der konservativen Parteileitung, hervorzutreten. Im Jahre 1889 wurde unter dem Namen „Deutschsoziale Partei“ eine antisemitische Partei gebildet. Dazu kam 1890 eine „antisemitische Volkspartei“. Einzelne Agitationserfolge bei Ersatzwahlen im Jahre 1892 und die durch die Unterstützung der Konservativen ermöglichte Wahl des Rektors Ahlwardt in Arnswalde-Friedeberg half 1892 der antisemitischen Bewegung zu einem gewissen Aufschwung. Als die Konservativen am 8. De- [S.18]-zember 1892 auf Tivoli in Berlin einen Parteitag abhielten, nahmen sie einen antisemitischen Passus in ihr neues Programm auf. In der Versammlung wurde ein Hoch auf Ahlwardt ausgebracht. Bei der Verhandlung über die Militärvorlage im Mai 1893 teilten sich im Reichstage die Antisemiten. Die Abgg. Ahlwardt, Pickenbach, Liebermann v. Sonnenberg stimmten für die Vorlage, die Abgg. Böckel, Zimmermann und Werner dagegen. Bei der folgenden Wahlbewegung vollzogen die Antisemiten auf der ganzen Linie eine Schwenkung zu Gunsten der Militärvorlage. Bei den Reichstagswahlen nach der Auflösung im Juni 1893 wurden 263 861 antisemitische Stimmen abgegeben, darunter 117001 in Preußen, 91364 im Königreich Sachsen, 24 200 im Großherzogtum Hessen. Von den preußischen Stimmen entfielen—32678 auf Hessen-Nassau, 26869 auf Brandenburg, 10215 auf die Stadt Berlin und 10656 auf die Rheinprovinz. Es wurden 16 antisemitische Abgeordnete gewählt, darunter Ahlwardt und Werner doppelt. Unter den 16 Mandaten entfielen 5 auf den Reg.-Bez. Cassel, 3 auf das Großh. Hessen, 5 auf das Königr. Sachsen. Bei den späteren Ersatzwahlen verloren die Antisemiten ein Mandat in Sachsen. Dagegen gewannen sie ein Mandat bei der Ersatzwahl in Waldeck.

Die Abgeordneten beider antisemitischer Richtungen vereinigten sich 1893 zu einer gemeinsamen Reichstagsfraktion der „deutsch-sozialen Reform-Partei“ mit Ausnahme des Abgeordneten Ahlwardt. Ein Parteitag in Eisenach am 8. Oktober 1894 führte auch eine Vereinigung der beiden Parteien herbei.

Ein Parteitag in Erfurt am 5. Oktober 1895 stellte ein Programm für die neue Parteibildung auf. Das Programm besteht aus einem Phrasenschwall sogenannter „Leitsätze“ über die Interessen des „Mittelstandes“, dem sich 19 verschiedene Forderungen anreihen. Der Antisemitismus tritt darin insbesondere hervor in der Forderung der Aufhebung der Gleichberechtigung für die Juden und der Stellung derselben unter ein besonderes Fremdenrecht, des Ausschlusses der Juden aus allen amtlichen und einflußreichen Stellungen, des Verbots der Einwanderung fremder Juden, der Ausscheidung des jüdischen Elements aus „christlich deutschen Schulen“. Fm Uebrigen ist das Programm ein buntes Gemisch aus liberalen und konservativen Programmen. Aus den Ersteren ist die Aufrechthaltung und Sicherung des Reichswahlrechts, der Vereins- und Versammlungsfreiheit, die Abwehr weiterer, die unteren Schichten treffender indirekter Steuern hervorzuheben. Dagegen wird u. A. Einführung einer Wehrsteuer empfohlen. Aus konservativ-agrarisch-zünftlerischen Programmen entnommen ist u. A. die Schutzzollpolitik, die staatliche Regelung der Getreideeinfuhr (s.“Kanitz, Antrag.“), die Garantie stetiger auskömmlicher Getreidepreise, die Regelung des Getreidehandels auf genossenschaftlicher Grundlage, Ablösung der Grundschulden, Unpfändbarkeit eines Mindestbesitzes, Heranziehung der Gesamtheit zu den Lasten der Zwangsversicherung, obligatorische Innungen für das Handwerk mit Befähigungsnachweis, Kolonialpolitik und dergl. — Für Arbeiter wird ein Maximalarbeitstag nach Eigenart der einzelnen Betriebe gefordert. Eine Spekulation auf die Kleinhändler tritt hervor in der Forderung der Beschränkung des Hausirhandels, Bekämpfung [S.19] „des Filialunwesens“, Verbot der Konsumvereine, soweit sie zu gewerbsmäßigen Handelsbetrieben ausarten. — Auch sonst ist daß Programm darauf zugeschnitten, die einzelnen Klassen der Bevölkerung durch Anpassung an Vorurteile und Begünstigung ihrer Sonderinteressen für die Partei zu gewinnen.

Zum besonderen Nachteil der Arbeiter hat ein Parteitag in Nordhausen am 11. Oktober 1897 empfohlen, zu beraten, ob „eine Einschränkung der Freizügigkeit“ nützlich und möglich erscheint in dem Sinne, daß zwar das Abzugsrecht erhalten, aber daß Zuzugsrecht ganz geändert wird.

Parteizerklüftung. Von den 16 antisemitischen Abgeordneten gehören jetzt nur 12 der Fraktion der Deutsch-sozialen Reformpartei im Reichstage an, während die Abgg. Ahlwardt, Dr. Böckel, Dr. Förster und Lieber (Meißen) fraktionslos sind. Der Abg. Dr. Förster schied im Juni 1897 aus der Fraktion aus, indem er zugleich bittere Vorwürfe gegen dieselbe in der „Hannoverschen Post“ veröffentlichte:

Gerade in der sozialen Politik fehle es noch an der rechten Stellungnahme. „Mittelstand und Mittelstand, darauf sitzen wir fest, ohne daß recht ersichtlich wird, was wir wollen und was wir nicht wollen. Von dem überaus mangelhaften Besuche des Reichstages auf Seiten unserer Fraktion, von unseren ganz unzureichenden Preßverhältnissen will ich nicht weiter reden. Die Folge jenes Besuches und des Mangels an aller Beredung ist, daß die Stellung zu den wichtigsten Gegenständen dem Belieben des Einzelnen überlassen bleibt. Und demgemäß wird unsere Bewegung auch im Lande keine rechten Fortschritte machen. Stillstand und Mangel an Leben überall! Oder zu viel Leben, das heißt oberflächlicher Radau mit verbrauchten Schlagworten! Welchen Wert hat die Zugehörigkeit zu einer solchen Partei!« 

Im August 1897 veröffentlichte das Fraktionsmitglied Köhler (Gießen) in der „Zeit“ eine Erklärung, wonach er auf dem gleichen Boden wie der bayerische Bauernbund stehe, dem er nach einer etwaigen Wiederwahl im Jahre 1898, sofern derselbe eine eigene Fraktion im Reichstage bilden werde, jedenfalls als Hospitant beitreten würde. Seine Beziehungen zur Deutsch-sozialen Reformpartei beabsichtige er vor der Hand nicht zu lösen, da ihn die Zugehörigkeit zu derselben nicht genire, „Liebermanns Führung für mich ganz und gar nicht vorhanden ist und ich vollständige Bewegungsfreiheit innerhalb und außerhalb des Reichstags wie des hessischen Land-tags habe“.

Darauf antwortete der zur Fraktion gehörige Abg. v. Liebermann in seinem Blatt:  ,,Es ist ganz gewiß bedauerlich, daß kurz vor den allgemeinen Wahlen und während wir bei einer Nachwahl im Kampfe stehen, ein Abgeordneter so wenig Korpsgeist besitzt, durch überflüssige Redseligkeit die Partei bloßzustellen, aber sonderlich erstaunt wird darüber unter den Abgeordneten der Fraktion, die Herrn Köhler kennen, niemand sein. Er ist nie etwas anderes gewesen, als eine Ziffer in der Fraktionsliste, und als solche wird man ihn vielleicht auch noch nach seinen letzten Geständnissen belassen, weil wir vorläufig erst ein kleines Häuflein sind. Für Herrn Philipp Köhler ist weder „Liebermanns“ noch irgend eine anderen "Führung" jemals vorhanden gewesen. Aber er „genierte“ auch die Fraktion nur wenig, nämlich nur, wenn er ab und zu einmal in der „wendischen Hauptstadt“ Berlin gewesen war.“

Außerhalb des Reichstages ist es noch ärger. Neben der offiziellen Partei Liebermann-Zimmermann-Werner existirt die Allgemeine Antisemitische Vereinigung, die den Abg. Ahlwardt angestellt hat. Dann giebt es einen Germanischen Volks-Bund, in dem Herr v. Mosch das große Wort führt; er will bei den nächsten Wahlen den Konservativen allein vier Sitze entreißen. In Berlin besteht auch noch ein Verband liberaler Antisemiten mit Schwennhagen und Muralt, der besonders das Christentum angreift, und der Dühringsche Sozialitären-Bund, der den vorigen an [S.20] Gehässigkeit die Religion der Juden wie der Christen noch übertrifft, endlich noch eine Fraktion Förster, deren Standpunkt nicht bekannt ist.

Auch außerhalb Berlins ist es nicht besser; die Antisemiten in Hamburg bilden ihre eigene Partei genau so gut wie die badische und bayrische Antisemitenpartei, und der Mitteldeutsche Bauernverein Köhlers verwahrt sich dagegen, etwa mit der offiziellen Partei identifiziert zu werden. Einen neuen Zankapfel bildet das Verhältnis zum Bund der Landwirte. Auf dem Parteitag in Nordhausen am 11. Oktober 1897 verwahrten sich fast alle Redner gegen denselben, den Abg. Lotze als einen Unterschlupf für konservative und nationalliberale Wahlzwecke bezeichnete. Während der rechte Flügel der Deutsch-sozialen Reformpartei dem Bund der Landwirte näher steht, liegt der linke Flügel Köhler-Hirschel mit demselben in heißem Kampfe schon wegen der Konkurrenz des Bundes mit dem hessischen Bauernverein der Antisemiten. Auch im Königreich Sachsen besteht eine scharfe Animosität zwischen dem Bund der Landwirte und den Antisemiten. Die Konservativen haben hier bei den Landtagswahlen im Oktober 1897 die Antisemiten vollständig aus dem Landtage verdrängt. Der Antisemitensührer von Mosch griff den Abg. Liebermann von Sonnenberg im Juli 1897 in seiner „Deutschen Reform“ in Hamburg wie folgt an. Er nennt den Einfluß Liebermans einen unheilvollen, „weil er die Partei beständig nach rechts gezogen hat und stets weiter ziehen wird, weil er uns stets als Anhängsel an den gründlich in den Schlamm gefahrenen konservativen Karren anzuhängen bemüht war und dasselbe traurige Spiel heute mit dem „Bunde der Landwirte“ treibt. Daß er dieses alte Spiel aber heut treiben darf, während seine Fraktionsgenossen mit der Gründung von Bauernbünden und mit scharfen Angriffen gegen den „Bund der Landwirte“ vorgehen, — das muß uns in den Augen der politischen Welt geradezu lächerlich und verächtlich machen! Was ist das für eine Partei, deren Abgeordnete in solchen Grundfragen direkt gegen einander arbeiten?!!“ Mosch fordert, daß dem Abg. Liebermann von Sonnenberg der Laufpaß gegeben wird.

Bei den Abstimmungen im Reichstag ging das Häuflein der Antisemiten, soweit es überhaupt anwesend war, nach allen Richtungen auseinander. Darüber hat jüngst die „Nationalliberale Korrespondenz“ die folgende Uebersicht veröffentlicht:

Vom November 1895 bis inkl. Juni 1897 haben im Ganzen 45 namentliche Abstimmungen stattgefunden. Bei diesen 45 Auszählungen ergab sich, daß von den 16 Antisemiten im Durchschnitt immer nur etwa die Hälfte (genau 8,4) anwesend waren, und zwar fehlten von der andern Hälfte die meisten ohne Entschuldigung. Zur höchsten Stufe in letzterer Beziehung haben es die Herren Köhler und Böckel gebracht: ersterer war nur sechsmal anwesend, fehlte also 39 Mal, darunter 35 Mal ohne Entschuldigung. Dr. Böckel war neunmal zugegen, fehlte aber alle 36 Mal ohne Entschuldigung. Dann kommen erst Ahlwardt, der 35, Hirschel, der 31, und Bindewald, der 28 Mal fehlte, und zwar Ahlwardt 31, Hirschel 23, Bindewald 25 Mal ohne Entschuldigung.

Die wenigen „deutschsozialen Reformer“, die an den namentlichen Abstimmungen teilnahmen, sind aber keineswegs einig gewesen. Einmal, am 22. Juni 1896, wußten sie überhaupt nicht, was sie wollen sollten. Als an diesem Tage über den sozialdemokratischen Antrag abgestimmt wurde, wonach die Krankenversicherungspflicht durch einen Paragraphen des bürgerlichen Gesetzbuches eingeführt werden sollte, fehlten 13, und die anwesenden 3 enthielten sich der Abstimmung. Und 15 Mal stimmten diese „Reformer“ lustig widereinander, als ob niemals einer der Ihrigen in Volksversammlungen den Eindruck gemacht hätte, daß die Entschiedenheit, Reinheit und Einheit des Wollens, wie überhaupt die Erlösung aus allen Zweifeln und Schwankungen lediglich bei ihnen zu finden sei. Diese Einheit des Wollens sah in 15 von 45 Fällen folgendermaßen aus: Am 6. März 1896 stimmen 2 für, 5 gegen die schärfere Polizeiaufsicht über Schauspie unternehmer, 9 fehlen; — am 10. März 1896 stimmen [S.21] einer für, 7 gegen Freigabe des Detailreifens iu Wäsche usw., 8 fehlen; — am 24. 4. 96 stimmen 2 für, 3 gegen die Giltigkeit der Wahl des Abg. Holz in Schwetz, 11 fehlten; —- am 5. 5. 96 stimmen 11 für, 1 gegen das Färbeverbot im Margarinegesetz, 4 fehlen; — am 6. 5. 96 stimmen 10 für, 2 gegen die Trennung der Margarine-Verkaufsräume, 4 fehlen; — am 12. 5. 96 stimmen 4 für, 6 gegen die Doppelbesteuerung der Melasse, 6 fehlen; — am 15. 5. 96 stimmen 3 für, 4. gegen die niedrigere Bemessung der Zuckerverbrauchsabgabe, 9 fehlen; am 23. 6. 96 stimmt einer gegen die Ersatzpflicht für Hasenschaden, 2 enthalten sich der Abstimmung, 13 fehlen: — am 24. 6. 96 stimmen 3 für, 2 gegen die fakultative Civilehe, 11 fehlen; — am 30. 6. 96 stimmen 4 für, einer gegen die Ersatzpflicht für Hasenschaden, 4 enthalten sich, 7 fehlen; — am 1. 7. 96  stimmt einer für das bürgerliche Gesetzbuch, 6 enthalten sich, 9 fehlen; — am 20. 3. 97 stimmen 18 für, 9 gegen die Bewilligung des Panzerschiffes „Ersatz König Wilhelm“, ebenso gegen die des Avisos „Ersatz Hyäne“ — am 7. 5. 97 stimmen 9 für, einer gegen die Trennung der Margarine-Verkaufsräume — 6 fehlen; endlich am 24. Juni 1897 stimmen 2 für, 11 gegen die Handwerkerorganisation, 3 fehlen. — Man wird finden, daß hier alles Mögliche in Frage stand, was draußen in des antisemitischen Agitation behandelt wird, als könne es darüber nicht die mindeste Differenz unter „deutsch-sozialen Reformern“ geben. 

Besonders bezeichnend ist das Verhalten der antisemitischen Fraktion bei den Beratungen über das Bürgerliche Gesetzbuch. Namens der antisemitischen Fraktion erklärte am Schluß der Beratungen über das Bürgerliche Gesetzbuch der Abgeordnete und Rechtsanwalt Vielhaben, daß sie demselben nicht zustimmen könnten, weil es neues Uebergewicht des Großkapitals und der Großindustrie schaffe und den Interessen des Mittelstandes widerspreche. Darauf stellte dann zunächst der nationalliberale Abg. Dr. Eneccerus fest, daß gerade umgekehrt das Bürgerliche Gesetzbuch entgegen den Behauptungen der Antisemiten gesunde Fortschritte einschließe durch die verbesserte Stellung der Arbeitnehmer gegenüber den Dienstberechtigten in den Bestimmungen über die Arbeitsräume und das Kündigungsrecht, durch die Einräumung von größeren Rechten für die Mieter gegenüber dem Vermieter, durch die Bestimmungen des Vereinsrechts, welche Vereinen mit idealen Tendenzen eine erweiterte Rechtssphäre und Bewegungsfreiheit geben, durch die Herabsetzung des normalen Zinsfußes von 5 aus 4 pCt., durch die Beschränkung des Maklerlohns, welche ganz gewiß den Dienstsuchenden und nicht den Maklern zum Vorteil gereicht, durch die Aufnahme der Wucherparagraphen, welche auch die Geschäfte, in denen Sachwucher ohne das Erfordernis der Gewohnheit oder der Erwerbsmäßigkeit vorliegt, ausnahmslos für nichtig erklärten usw. usw.

Hierzu ergänzend trat Abg. Gröber der Behauptung entgegen, der Mittelstand sei in der Reichstagskommission nicht zur Geltung gekommen, durch die Angabe, daß der Vertreter der Antisemiten, Dr. Vielhaben, in der Kommission während der viermonatlichen Beratung nur drei Anträge gestellt habe. Von diesen bezog sich einer auf die Analphabeten, ein zweiter auf die Verpfändung von Schiffen, also auf eine Frage, welche nur die großen Rheder interessirt, und ein dritter auf das Pfandrecht des Vermieters an den eingebrachten Gegenständen des Mieters. Aber gerade durch den letzten Antrag wollten die Antisemiten das Pfandrecht des Vermieters nicht einschränken, sondern ausdehnen auf die nicht der Zwangsvollstreckung unterliegenden Sachen, also auf den allernötigsten Hausrat des kleinen Mannes und auf die Arbeitsmittel und Werkzeuge, deren der kleine Mann zur Ezrwerbung des Unterhalts mit Notwendigkeit bedarf. Für diesen großkapitalistischen Antrag hatte freilich Dr. Vielhaben in der Kommission nicht ein einziges Mitglied gewonnen. 

[S.22] Das war also, so schloß Abg. Gröber, die Mittelstandspolitik, welche die Antisemiten im Bürgerlichen Gesetzbuch befolgten. Während nach der Ablehnung der Vertagung der Plenarberatung Parteien wie die Freisinnigen und die Sozialdemokraten nach Möglichkeit Verbesserungsanträge einbrachten, beschränkte sich auch im Plenum die ganze Thätigkeit der Antisemiten darauf, in ungeschickter Form und bei unpassenden Gelegenheiten erfolglose Versuche zur Auszählung des Reichstages zu machen. Mit einem Wort, die Antisemiten charakterisirten sich hier bei alledem lediglich als Radau-Fraktion. Dabei war die kleine Gesellschaft auch hier in sich durchaus zerfallen. Wie in der dritten Beratung festgestellt wurde, war bei der ersten Lesung Abg. Förster namens der Fraktion für die Beibehaltung der obligatorischen Civilehe eingetreten. In diesem Sinne hatte denn auch Dr. Vielhaben in der Kommission gestimmt. Dann aber nahm die Fraktion einen Wechsel in der Besetzung der Kommission vor, und es erschien als Vertreter der Fraktion Herr Iskraut, der sich als fanatischer Gegner der obligatorischen Civilehe geberdete und zugleich erklärte, daß die Antisemiten sich deshalb nicht mehr an der Weiterberatung des Bürgerlichen Gesetzbuchs beteiligen wollten, weil sie bis zum Herbst noch eine große Agitation gegen die Civilehe ins Werk zu setzen hofften.

Wahrhaft kläglich war der Versuch der Antisemiten, sich gegen diese Feststellungen zu verteidigen. Vielhaben meinte, durch die Ausdehnung des Pfändungsrechts auf die notwendigsten Gebrauchsgegenstände habe man die Kreditfähigkeit des Arbeiters erweitern wollen. In der Civilehefrage, so führte Abg. v. Liebermann an, hat es sich erst später herausgestellt, daß der größere Teil der Partei für die fakultative Civilehe sei. Also eine solche Partei tritt in die Beratung über eine große grundsätzliche Frage ein, ohne sich der Stellungnahme zu derselben klar zu sein. Sie kündigt alsdann eine große Agitation an in einer Richtung, welche sich zugleich gegen eine Minderheit in der eigenen Partei kehrt und den Standpunkt verleugnet, den dieselbe zum Anfang offiziell eingenommen hat. Mit Recht bemerkte Abg. Bachem, daß man solche Leute in der praktischen Politik nicht mehr ernst nehmen könne.

Genau dasselbe Schauspiel aber wie bei dem Bürgerlichen Gesetzbuch bot die antisemitische Fraktion bei der Beratung des Börsengesetzes. In Volksversammlungen können die Herren nicht genug von der Börse und den Börsengeschäften erzählen. Die Beratung des Börsengesetzes hätte ihnen weitgehende Gelegenheit geboten, Vorschläge für die Gesetzgebung zur Durchführung ihrer Ansichten zu machen. Aber auch hier zeigten sich die Herren ebenso unwissend wie unfähig. So stellte Abg. Fischbeck am 28. April bei der zweiten Beratung des Börsengesetzes in ähnlicher Weise wie später Abg. Gröber beim Bürgerlichen Gesetzbuch fest, daß gerade die Antisemiten in der Kommission für das Börsengesetz sich recht schweigsam benommen hätten. Sie begnügten sich rein mechanisch damit, immer für die weitgehendsten Anträge zu stimmen. Nur beim Anfang der Beratungen unterstützte Abg. Liebermann von Sonnenberg einige Male ganz nebensächliche Anträge und [S.23] machte nebensächliche Bemerkungen dazu. Dann schied er ebenso aus der Kommission, wie Vielhaben später aus der Kommission für das Bürgerliche Gesetzbuch. Sein Nachfolger, der in Waldeck gewählte Abg. Müller war ein ganz stiller Mann in der Kommission und führte ein lediglich beschauliches Dasein.

Die antisemitische Bewegung erscheint bei weitem verwerflicher als die sozialistische Agitation. Sie richtet sich nicht bloß gegen äußere Besitzverhältnisse, sondern gegen Menschen an sich und ihre Abstammung. Selbst die Taufe vermag die Agitation nicht zu befriedigen. Diese Agitation verlangt nicht eine Gleichstellung aller, sondern will gerade die Juden in eine Ausnahmestellung drängen, sie stachelt nicht blos die wirtschaftlichen Interessen auf, sondern entzündet auch den Religionshaß und Rassenhaß.