Arbeiter.
[S.23]
Das
Programm der Freisinnigen Volkspartei
enthält in Bezug auf Fragen, welche
vorwiegend die Arbeitnehmer interessieren,
zur freiheitlichen Ausgestaltung eine
große Zahl von Forderungen. Siehe
darüber den Wortlaut des Programms
unter „Freisinnige Volkspartei“.
Entsprechend dem Programm sind die
Abgeordneten der Freisinnigen Volkspartei
stets eingetreten für die Erhaltung des
bestehenden Reichswahlrechts (siehe
„Wahlrecht“) und für die Sicherung der
Wahlfreiheit nicht bloß durch
Bewilligung von Diäten (siehe
„Diäten“) sondern auch durch strenge
Verurteilung unzulässiger
Wahlbeeinflussungen der Arbeiter durch die
Arbeitgeber. Die Freisinnige Partei hat
für das Arbeiterschutzgesetz von 1891
gestimmt, hauptsächlich wegen der
Bestimmungen desselben zur
Einschränkung der Kinder- und
Frauenarbeit (siehe „Arbeiterschutzgesetz“).
Die Freisinnige Volkspartei vertritt die
Koalitionsfreiheit und haben ihre Mitglieder
gegen die Verlängerung des
Sozialistengesetzes gestimmt (siehe
„Sozialistengesetz“), unbeschadet ihres
Widerspruchs gegen die von den Sozialisten
beabsichtigte Umgestaltung der bestehenden
Gesellschaftsordnung.
Ebenso
stimmten dieselben im preußischen
Abgeordnetenhaus am 24. Juli 1897 in der
Novelle zum Vereinsgesetz gegen das
sogenannte kleine Sozialistengesetz (siehe
„Vereinsgesetz“). Die Freisinnige
Volkspartei tritt für das freie
Vereinigungswesen der arbeitenden Klassen
ein. Die freisinnigen Abgeordneten haben
deshalb die Ausdehnung des
Zwangskassenwesens auf dem Gebiete der
Krankenversicherung, Unfallversicherung und
Invalidenversicherung bekämpft. Die
Freisinnige Volkspartei sieht in dem
Krankenkassengesetz von 1884 und der Novelle
dazu von 1892 eine Schädigung der
Entwickelung des freien Hilfskassenwesens.
Die Freisinnige Partei hat die
Abwälzung der
Unfallentschädigungen inbetrefs der
Krankenpflege während der ersten 13
Wochen nach dem Unfalle durch das neue
Unfallversicherungsgesetz bekämpft. Die
Freisinnige Partei trat für die volle
Entschädigung der Unfälle durch
die Arbeitgeber ein, wollte aber die
Ausführung dieser
Entschädigungspflicht nicht dem Monopol
von Berufsgenossenschaften übertragen
sehen. Die Freisinnige Partei hat gegen das
neue Invaliditätsversicherungsgesetz
gestimmt, weil eine derartige Versicherung
für große Klassen der davon
betroffenen Personen überhaupt nicht
zweckmäßig ist,[S.24] für
andere Arbeiter nicht zureichend erscheint,
eine Verminderung der anderweitigen
Fürsorge für alte und invalide
Arbeiter befürchten läßt und
die Arbeiter das Linsengericht des
Rentenanspruchs erkaufen läßt
durch eine weitgehende obrigkeitliche
Kontrole über ihre persönlichen
Verhältnisse.
Die
Freisinnige Volkspartei ist entsprechend
ihrem Programm für die Verkürzung
der Arbeitszeit durch die Gesetzgebung in
solchen Gewerbszweigen, in welchen durch die
Dauer der Zeit die Gesundheit der Arbeiter
gefährdet wird. Sie erachtet aber die
unter Berufung hierauf erlassene
Bäckereiverordnung (siehe
„Bäckereiverordnung“) für durchaus
abänderungsbedürftig. Auch
widerstrebt ihr die allgemeine,
schablonenhafte Regelung der
Schlußzeit in offenen Verkaufslokalen
durch die Gesetzgebung (siehe
„Ladenschlußzeit“). — Die Freisinnige
Volkspartei ist gegen die Einführung
eines allgemeinen Maximalarbeitstages, weil
eine solche Maximalarbeitszeit, wenn sie der
ohnehin thatsächlich im Durchschnitt
stattfindenden Arbeitszeit entspricht, nur
eine papierne Bedeutung hat und das
diskretionäre Ermessen der
Polizeibehörde erweitert, während
eine allgemeine Verkürzung der
Arbeitszeit im Wege der Gesetzgebung die
Arbeiter selbst unter Verminderung des
Lohnes schädigen und der
natürlichen, ohnehin auf
allmähliche Verkürzung der
Arbeitszeit gerichteten Entwicklung der
wirtschaftlichen Verhältnisse in einer
für die gesammte Volkswirtschaft
nachteiligen Weise vorgreifen würde
(siehe darüber „Maximalarbeitstag“).
Die
Freisinnige Volkspartei will die
Freizügigkeit der Arbeiter, d. h. das
Recht, dort zu arbeiten, wo man am besten
bezahlt und behandelt wird, nicht angetastet
sehen, verwirft auch die von den
Konservativen angestrebte Erschwerung des
Wechsels des Arbeitsverhältnisses und
der Aufsuchung anderer Arbeitsgelegenheiten
an fremden Orten (polizeiliche Atteste,
Verteuerung der Eisenbahnfahrt u. s. w.).
Die Freisinnige Volkspartei will den
Arbeitern die Erwerbung von Grundbesitz
erleichtern, insbesondere im Wege der
Parzellirung durch Einschränkung des
Besitzes zur toten Hand, Verkauf der
Staatsdomänen und Aufhebung der
Familienfideikommisse. Die Freisinnige
Volkspartei erblickt in jeder
Einschränkung der Gewerbefreiheit und
in jeder Maßnahme, welche darauf
abzielt, die Innungen zu Zwangskorporationen
umzugestalten, Beschränkungen der
Erwerbsfreiheit der Arbeiter (siehe
„Handwerkerorganisation“). Die Freisinnige
Volkspartei ist für gesetzliche
Anerkennung der auf Selbsthilfe
begründeten Vereinigungen, darunter
auch der Gewerkvereine, (siehe
„Gewerkvereine“) und für Förderung
der allgemeinen und technischen Bildung der
arbeitenden Klassen.
Die
Freisinnige Volkspartei hat insbesondere im
Interesse der Arbeiter die Steigerung der
Militärlasten durch Erhöhung der
Friedenspräsenzstärke in der
Militärvorlage von 1892/93, und zwar
auch nach der Auflösung des Reichstags
im Mai 1893 bekämpft (siehe
„Militärfragen“). Andrerseits sind die
freisinnigen Abgeordneten stets für die
Verkürzung der Dienstzeit im Frieden
für diejenigen eingetreten, welche
nicht das
Einjährig-Freiwilligen-Privilegium
erlangen können.
Die
freisinnigen Abgeordneten haben insbesondere
im Interesse der Arbeiter die fortgesetzte
Erhöhung der indirekten Steuern im
Reiche bekämpft, namentlich gegen die
höhere Belastung notwendiger
Lebensmittel durch [S.25] Zölle
und Verbrauchssteuern, wie des Petroleums,
Kaffee, Schmalz, Speck, Eier usw. gestimmt.
Die freisinnigen Abgeordneten haben den
Getreidezoll bekämpft, weil derselbe
zum Vorteil der Grundrente insbesondere den
Arbeitern das Brot in beträchtlicher
Weise verteuert. Ebenso bekämpfen die
freisinnigen Abgeordneten den Antrag Graf
Kanitz (siehe „Kanitz, Antrag“), weil
derselbe auf einem Umwege durch
Monopolisirung und Verteuerung der
Getreideeinfuhr dieselbe Getreideverteuerung
wie die Getreidezölle bezweckt. Die
Freisinnige Volkspartei bekämpft auch
die industriellen Schutzzölle, welche
zur Erhöhung des Arbeitslohnes im
Allgemeinen nicht beitragen, den Verbrauch
auch des Arbeiters vielfach verteuern und
eine ungesunde Ausdehnung einzelner
Fabrikationszweige befördern, die auf
die Dauer auch den in denselben
beschäftigten Arbeitern zum Nachteil
gereicht.
Dagegen hat
die Freisinnige Volkspartei für die
geltenden Handelsverträge gestimmt,
weil dieselben geeignet sind, den
internationalen Warenaustausch zu
erleichtern, den Absatz deutscher Produkte
und Fabrikate zu fördern und den Konsum
insbesondere auch der Arbeiter in mancher
Beziehung wohlfeiler zu gestalten. Die
Freisinnige Volkspartei hat alle Kraft
darein gesetzt, es zu verhindern, daß
die Mehrkosten des neuen
Militärgesetzes von 1893 durch neue
Verbrauchsabgaben gedeckt werden. Die
Ablehnung der 1893 und 1894 seitens der
Regierung beantragten Tabakfabrikatsteuer
(siehe „Tabaksteuer“) ist wesentlich auch
der Freisinnigen Volkspartei zu verdanken.
Die
Freisinnige Volkspartei bekämpft in der
Währungsfrage die Bestrebungen der
Bimetallisten, weil die Einführung
eines minderwertigen Silbergeldes, abgesehen
von allgemeinen Schädigungen der
Volkswirtschaft, insbesondere auch den
Arbeitern zum Nachteil gereichen würde.
Denn die Geldverschlechterung
müßte eine allgemeine
Preissteigerung zur Folge haben, welcher die
Löhne durch entsprechende Erhöhung
erst nach einer langen und für den
Arbeiter überaus nachteiligen
Uebergangszeit folgen würden. Ueber die
Stellung der Konservativen und der
Sozialisten zu den Arbeitern siehe
“Konservative“ und „Sozialisten“.
Die
Freisinnige Volkspartei brachte schon in der
Session 1893/94 einen Antrag ein,
zeitgemäß die
Rechtsverhältnisse der in Haus- und
Landwirtschaft beschäftigten Personen,
welche nicht der Gewerbeordnung oder dem
Handelsgesetzbuch unterstellt sind, zu
regeln. In der Sitzung vom 11. März
1897 wurde im Reichstag ein Antrag der
Freisinnigen Volkspartei (Lenzmann)
angenommen, die Regierungen zu ersuchen, dem
Reichstag baldigst einen Gesetzentwurf
vorzulegen, wodurch die
Rechtsverhältnisse zwischen den
landwirtschaftlichen und
forstwirtschaftlichen Arbeitern sowie dem
Gesinde einerseits und deren Arbeitgebern
andererseits reichsgesetzlich geregelt
werden. Auch hat die Freisinnige Volkspartei
in dem Bürgerlichen Gesetzbuch bei dem
Kapitel des Dienstvertrages für die in
dasselbe aus der Initiative des Reichstages
eingeflochtenen Arbeiterschutzbestimmungen
gestimmt. Siehe darüber und über
die Verdächtigungen der Freisinnigen
Volkspartei seitens der Sozialdemokratie in
Bezug auf die Reform der Gesindeordnungen
unter „Gesinderecht“.