Eugen Richter
1838-1906









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Politisches ABC=Buch
9. Auflage, 1898

 
 

Befähigungsnachweis der Handwerker. [S.41]  In der Novelle von 1897, betreffend die Handwerksorganisation (s. "Gewerbeordnung" und "Handwerksorganisation"), sind Bestimmungen enthalten in Bezug auf den Befähigungsnachweis für die Anleitung von Lehrlingen wie folgt:

In Handwerksbetrieben soll die Befugnis zur Anleitung von Lehrlingen fortan nur Personen zustehen, welche das 24. Lebensjahr vollendet haben und in dem betreffenden Handwerk entweder die von der Handwerkskammer vorgeschriebene  Lehrzeit oder, solange eine solche nicht vorgeschrieben ist, mindestens eine dreijährige Lehrzeit zurückgelegt und die Gesellenprüfung bestanden haben oder 5 Jahre hindurch persönlich das Handwerk selbständig ausgeübt haben oder als Werkmeister in ähnlicher Stellung thätig gewesen sind. Ausnahmen bestimmt die höherer Verwaltungsbehörde. [S.42]
     Diese Einschränkungen in Bezug auf das Halten von Lehrlingen sind weder durch Erfahrungen gerechtfertigt noch an sich zweckmäßig. Die Ablegung der Gesellenprüfung und der Nachweis, daß jemand "die in seinem Gewerbe gebräuchlichen Handgriffe und Fertigkeiten mit genügender Sicherheit ausübt", beweist nicht das Mindeste für die besondere Befähigung zum Lehrmeister. Es ist auch nicht einzusehen, warum im Handwerksbetriebe für eine Lehrmeister der Befähigungsnachweis verlangt werden soll, während niemand daran denkt, ähnliche Vorschriften zu befürworten für den Handelsstand und für die Landwirtschaft, für Künstler u. dgl. Die Personen, welche die Lehrlinge "anleiten", können sehr verschieden sein von den Inhabern der Betriebe. Welche Personen mit der Anleitung der Lehrlinge beauftragt sind, ist ein Internum des Geschäftsbetriebes und der Werkstatt. Will man im Ernste solchen solchen Gesellen in einer Werkstatt, die die formelle Befähigung zum Anleiten von Lehrlingen nicht erworben haben, es verbieten, überhaupt die mitten unter ihnen thätigen Lehrlinge irgend wie bei der Ausübung des Handwerks anzuleiten? Zur Ueberwachung dessen müßte man in jeder Werkstätte einen besonderen Polizeibeamten aufstellen. Die ganze Richtung des Gesetzes, das Lehrlingswesen durch besondere Einschränkungen zu regeln, ist eine verkehrte. Man kann allgemein durch die Gesetzgebung die Verwendung jugendlicher Arbeiter einschränken, aber Bestimmungen, welche sich nur auf die Lehrlinge beziehen, haben höchstens zur Folge, daß zur Vermeidung von Uebertretungen weniger gelehrt wird und die jungen Leute nur mit mechanischen Hilfeleistungen befaßt werden.

     Das Gesetz ermächtigt auch den Bundesrat, für einzelne Gewerbszweige Vorschriften über die höchste Zahl der Lehrlinge zu erlassen, welche in den Betrieben dieser Gewerbszweige gehalten werden dürfen. Auch kann die Verwaltungsbehörde den Lehrherren die Entlassung eines entsprechenden Teils der Lehrlinge auferlegen, wenn die Zahl der Lehrlinge im Mißverhältnis zu dem Umfang oder der Art des Gewerbebetriebs steht. Aber jede Einschränkung der Zahl der Lehrmeister erschwert den Eltern der Lehrlinge, dieselben in der Lehre unterzubringen, und giebt die Lehrlinge um so öfter solchen Lehrmeistern preis, die das Lehrverhältnis zum Schaden der jungen Leute mißbrauchen.

     Die Bestimmung in dem Gesetz über die Gesellenprüfung führt auch notwendig zu einer genaueren Abgrenzung der Handwerkszweige unter einander, weil die Ablegung der Gesellenprüfung nur befähigen soll zum Anleiten von Lehrlingen in demselben Gewerbe oder in einem verwandten Gewerbe. (S. unten "über die Nachteile einer solchen Abzweigung.")

     Das neue Gesetz erklärt zwar die Meisterprüfung nach keiner Richtung für obligatorisch, bestimmt aber, daß Handwerker bei Geldstrafe den Meistertitel nur führen dürfen, wenn sie in ihrem Gewerbe die Befugnis zur Anleitung von Lehrlingen erworben und die Meisterprüfung bestanden haben. Die Prüfung soll den Nachweis der Befähigung zur selbständigen Ausführung "der gewöhnlichen Arbeiten des Gewerbes und der zum selbständigen Betriebe sonst notwendigen Kenntnisse" bezwecken. Zur Meisterprüfung sind die Handwerker in der Regel nur zugelassen, wenn sie mindestens 3 Jahre als Gesellen in ihrem Gewerbe thätig gewesen sind. [S.43]

    Bisher war nur vorgeschrieben, daß lediglich Mitglieder der Innung sich als "Innungsmeister" bezeichnen dürfen. Irgend eine praktische Bedeutung wird die neue Bestimmung nicht erlangen; denn das Publikum geht überhaupt von der Ansicht aus, daß das Werk den Meister loben muß und es auf den Titel des Geschäftshabers nicht ankommt. Mancher Inhaber eines selbständigen Handwerksbetriebes bezeichnet sich auch lieber als Fabrikant denn als Meister. Was bedeutet auch überhaupt der Meistertitel, der schon beim Nachweis der "gewöhnlichen Fertigkeit" erteilt werden soll! Da ein solcher Titel ganz und gar nicht geeignet ist, die Kundschaft zu vermehren, so müßte ein junger Handwerker von seltsamer Titelsucht befallen sein, um sich den Umständen, Kosten und dem Zeitverlust zu unterziehen, die solches formales Prüfungswesen mit sich bringt.

     Die Zünftlerparteien im Reichstage waren Anfangs geteilter Ansicht in Betreff ihrer Haltung gegenüber dem neuen Gesetz, weil dasselbe nicht wie der ursprüngliche Entwurf des preußischen Staatsministeriums die Zwangsinnungen allgemein einführte und weil in dem Entwurf nicht die Ausübung des Handwerks von dem obligatorischen Befähigungsnachweis abhängig gemacht ist, wie es von den Konservativen, der Centrumspartei und den Antisemiten gefordert wird. Aus diesem Grunde stimmte auch eine kleine Gruppe von Konservativen und Antisemiten schließlich gegen das Gesetz im Ganzen. (Siehe über die Abstimmung am Schlusse des Artikels "Handwerksorganisation".) Das Gros der Zünftlerparteien beruhigte sich dagegen in dem Bewußtsein, daß das Gesetz nur eine weitere Stufe zur Durchführung einer vollständigen zünftlerischen Organisation in dem vorgedachten Sinne sein werde.

     In diesem Sinne wurde nach Annahme des Gesetzes noch eine Resolution im Reichstag angenommen, in welche die Regierung ersucht wird, baldmöglichst einen Gesetzentwurf vorzulegen, in welchem der Befähigungsnachweis verlangt wird für alle handwerksmäßigen Gewerbe, insbesondere für das Baugewerbe und die anderen Gewerbe, deren Ausübung mit erheblichen Gefahren für Leben und Gesundheit verbunden ist.

     Was bezweckt die Einführung des Befähigungsnachweises? Wird Jemand im Ernste behaupten wollen, daß die Gewerbefreiheit das Gewerbe zurückgebracht habe? Im Gegenteil zeigen alle Gewerbeausstellungen gegen früher ungeahnte Leistungen. Die neuen Verhältnisse des Maschinen- und Eisenbahnwesens haben allerdings die Gewerbe von Grund aus umgestaltet. Der Großbetrieb, welcher für manche Gewerbezweige vorteilhafter geworden ist, und die Konkurrenz des Auslandes haben damit auch die Verhältnisse des Handwerks vielfach verändert. Darum aber hat das Handwerk doch noch immer auf bestimmten Gebieten seinen natürlichen Boden , von welchem es nicht verdrängt werden kann. Das Handwerk bleibt überall berechtigt, wo es vorzugsweise auf die Anpassung zum individuellen Gebrauch ankommt und die Geschicklichkeit der Hand und der Scharfsinn des Kopfes durch keine Schablone der Großindustrie ersetzt werden kann. Der Fortschritt des Handwerks liegt auch mehrfach in der Richtung der Entwicklung zum Kunst-[S.44]-gewerbe. Damit hat aber der Befähigungsnachweis, welcher sich nur auf die gewöhnlich vorkommenden Arbeiten bezieht, von vornherein nichts gemein.

     Die Einführung des Befähigungsnachweises würde auf dem platten Lande geradezu einen Notstand hervorrufen, weil hier nicht für jeden Handwerkszweig geprüfte Personen vorhanden sein würden und nicht zu jeder kleinen Reparatur der gelernte zünftige Handwerker herangezogen werden kann. Hier werden, wie jetzt gebräuchlich, Stellmacher- usw. Arbeiten verrichtet von demjenigen, der sie zur Not leisten kann. Es wird häufig vorkommen, daß der Schmied eine kleine Schlosserarbeit, der Stellmacher oder Zimmermann eine kleine Tischlerarbeit übernimmt; es giebt auf dem Lande Maurer und Tüncher, die im Sommer Tüncher- und Maurerarbeiten verrichten und die im Winter als Hausschlächter und dergleichen thätig sind.

     Die Einführung des Befähigungsnachweises setzt auch eine Abgrenzung in den Handwerksbefugnissen voraus. Diese Abgrenzung verhindert den einzelnen Handwerker vielfach, dasjenige herzustellen, dessen Herstellung nach der obwaltenden Konjunktur für ihn vorteilhaft ist. Dadurch erleidet der einzelne Handwerker nicht nur an sich einen Nachteil, sondern es wird das gesamte Handwerk in der Konkurrenz mit verwandten Zweigen der Großindustrie, welche keinerlei Schranken unterliegt, noch besonders geschädigt.

     Das Bestehen der Prüfung bietet dem Publikum von vornherein überhaupt keine Garantie dafür, daß der Betreffende auch später immer tüchtig und geschickt, und namentlich nicht, daß er immer solide und reell arbeiten wird. Unter der scharfen Konkurrenz ist der Kunde im Stande, selbst wirksamer zu prüfen nach eigener Erfahrung oder nach der Erfahrung Anderer, als es irgend eine obrigkeitliche Kommission zu thun vermag. Gerade das unmittelbare Eigeninteresse veranlaßt das Publikum zu dieser Prüfung in jedem einzelnen Falle. Allerdings darf jeder -- wie man sich ausdrückt -- Pfuscher jetzt ein Handwerk betreiben; aber ebenso ist es jedem gestattet, Kaufmann, Musiker oder Landwirt zu werden. Es fragt sich nur, ob der Kaufmann und der Handwerker Kunden und der Musiker Zuhörer bekommt. Wie es in dem 1868 vom Fürsten Bismarck im Reichstage eingebrachten Gesetzentwurf über die Gewerbefreiheit heißt, vermögen Handwerkerprüfungen nicht diejenige Garantie zu gewähren, welche sie zu gewähren beabsichtigen, und werden dadurch nachteilig, daß sie den Handwerker zur Aufwendung von Zeit und Kosten zu einer Zeit zwingen, wo er all sein Kapital und seine Arbeitskraft auf die Gründung seiner Existenz verwenden muß.

     Dazu kommt, daß erfahrungsgemäß das Prüfungswesen im Handwerk Mißbräuche aller Art nach sich zieht. Die an der Prüfung Mitwirkenden haben vielfach ein Interesse daran, sich neue Konkurrenten fern zu halten und denselben deshalb das Bestehen der Prüfung möglichst zu erschweren.

     Auch die Wiedereinführung des obligatorischen Befähigungsnachweises im Bauhandwerk, für welche sich besonders die Nationalliberalen ausgesprochen haben, würde ebensowenig einen Wert haben wie der Befähigungsnachweis in anderen Handwerkszweigen. Solange dieser Prüfungszwang bestand, hat man von Unglücksfällen bei Bauten und von [S.45] Einsturz von Bauten mehr gehört als seit Einführung der Gewerbefreiheit i. J. 1869. Die Prüfung giebt auch keinerlei Gewähr für die Verwendung guten Materials und für die unausgesetzte Beaufsichtigung der Neubauten. In der Zeit des Prüfungszwangs für das Bauhandwerk ist es vielfach vorgekommen, daß Personen, welche die Berechtigung zur selbständigen Vornahme von Bauten nicht besaßen, gegen geringes Entgelt nominell einen geprüften Bauhandwerker annahmen; dieser figurirte nur den Behörden gegenüber als Bauleiter, thatsächlich aber trug unter solchen Verhältnissen niemand die volle Verantwortlichkeit für die sachgemäße Ausführung der Bauten. Der Prüfungszwang verhieß also eine Garantie, ohne dieselbe thatsächlich zu gewähren. Die Trennung der Verantwortlichkeit für den Bau von der thatsächlichen Leitung des Baues stumpfte das Gefühl der Verantwortlichkeit gerade bei denjenigen Personen ab, von deren Gewissenhaftigkeit die Solidität des Baues abhängt.