Politisches
ABC=Buch
9. Auflage, 1898
Befähigungsnachweis
der Handwerker. [S.41] In
der Novelle von 1897, betreffend die Handwerksorganisation (s. "Gewerbeordnung"
und "Handwerksorganisation"), sind Bestimmungen enthalten in Bezug auf
den Befähigungsnachweis für die Anleitung von
Lehrlingen wie folgt:
In Handwerksbetrieben soll
die Befugnis zur Anleitung von Lehrlingen fortan nur Personen zustehen,
welche das 24. Lebensjahr vollendet haben und in dem betreffenden Handwerk
entweder die von der Handwerkskammer vorgeschriebene Lehrzeit oder,
solange eine solche nicht vorgeschrieben ist, mindestens eine dreijährige
Lehrzeit zurückgelegt und die Gesellenprüfung bestanden
haben oder 5 Jahre hindurch persönlich
das Handwerk selbständig ausgeübt
haben oder als Werkmeister in ähnlicher Stellung thätig gewesen
sind. Ausnahmen bestimmt die höherer Verwaltungsbehörde. [S.42]
Diese Einschränkungen
in Bezug auf das Halten von Lehrlingen sind weder durch Erfahrungen gerechtfertigt
noch an sich zweckmäßig. Die Ablegung der Gesellenprüfung
und der Nachweis, daß jemand "die in seinem Gewerbe gebräuchlichen
Handgriffe und Fertigkeiten mit genügender Sicherheit ausübt",
beweist nicht das Mindeste für die besondere Befähigung zum Lehrmeister.
Es ist auch nicht einzusehen, warum im Handwerksbetriebe für eine
Lehrmeister der Befähigungsnachweis verlangt werden soll, während
niemand daran denkt, ähnliche Vorschriften zu befürworten für
den Handelsstand und für die Landwirtschaft, für Künstler
u. dgl. Die Personen, welche die Lehrlinge "anleiten", können sehr
verschieden sein von den Inhabern der Betriebe. Welche Personen mit der
Anleitung der Lehrlinge beauftragt sind, ist ein Internum des Geschäftsbetriebes
und der Werkstatt. Will man im Ernste solchen solchen Gesellen in einer
Werkstatt, die die formelle Befähigung zum Anleiten von Lehrlingen
nicht erworben haben, es verbieten, überhaupt die mitten unter ihnen
thätigen Lehrlinge irgend wie bei der Ausübung des Handwerks
anzuleiten? Zur Ueberwachung dessen müßte man in jeder Werkstätte
einen besonderen Polizeibeamten aufstellen. Die ganze Richtung des Gesetzes,
das Lehrlingswesen durch besondere Einschränkungen zu regeln, ist
eine verkehrte. Man kann allgemein durch die Gesetzgebung die Verwendung
jugendlicher Arbeiter einschränken, aber Bestimmungen, welche sich
nur auf die Lehrlinge beziehen, haben höchstens zur Folge, daß
zur Vermeidung von Uebertretungen weniger gelehrt
wird und die jungen Leute nur mit mechanischen Hilfeleistungen
befaßt werden.
Das Gesetz ermächtigt
auch den Bundesrat, für einzelne Gewerbszweige Vorschriften über
die
höchste Zahl der Lehrlinge zu erlassen, welche in den
Betrieben dieser Gewerbszweige gehalten werden dürfen. Auch kann die
Verwaltungsbehörde den Lehrherren die Entlassung eines entsprechenden
Teils der Lehrlinge auferlegen, wenn die Zahl der Lehrlinge im Mißverhältnis
zu dem Umfang oder der Art des Gewerbebetriebs steht. Aber jede Einschränkung
der Zahl der Lehrmeister erschwert den Eltern der Lehrlinge, dieselben
in der Lehre unterzubringen, und giebt die Lehrlinge um so öfter solchen
Lehrmeistern preis, die das Lehrverhältnis zum Schaden der jungen
Leute mißbrauchen.
Die Bestimmung in dem
Gesetz über die Gesellenprüfung
führt auch notwendig zu einer genaueren Abgrenzung
der Handwerkszweige unter einander, weil die Ablegung der Gesellenprüfung
nur befähigen soll zum Anleiten von Lehrlingen in demselben Gewerbe
oder in einem verwandten Gewerbe. (S. unten "über die Nachteile einer
solchen Abzweigung.")
Das neue Gesetz erklärt
zwar die Meisterprüfung nach keiner
Richtung für obligatorisch, bestimmt aber, daß Handwerker bei
Geldstrafe den Meistertitel nur führen dürfen,
wenn sie in ihrem Gewerbe die Befugnis zur Anleitung von Lehrlingen erworben
und die Meisterprüfung bestanden haben. Die Prüfung soll den
Nachweis der Befähigung zur selbständigen Ausführung "der
gewöhnlichen Arbeiten des Gewerbes und der zum selbständigen
Betriebe sonst notwendigen Kenntnisse" bezwecken. Zur Meisterprüfung
sind die Handwerker in der Regel nur zugelassen, wenn sie mindestens 3
Jahre als Gesellen in ihrem Gewerbe thätig gewesen sind. [S.43]
Bisher
war nur vorgeschrieben, daß lediglich Mitglieder der Innung sich
als "Innungsmeister" bezeichnen dürfen. Irgend eine praktische Bedeutung
wird die neue Bestimmung nicht erlangen; denn das Publikum geht überhaupt
von der Ansicht aus, daß das Werk den Meister loben
muß und es auf den Titel des Geschäftshabers nicht
ankommt. Mancher Inhaber eines selbständigen Handwerksbetriebes bezeichnet
sich auch lieber als Fabrikant denn als Meister. Was bedeutet auch überhaupt
der Meistertitel, der schon beim Nachweis der "gewöhnlichen
Fertigkeit" erteilt werden soll! Da ein solcher Titel ganz und gar nicht
geeignet ist, die Kundschaft zu vermehren, so müßte ein junger
Handwerker von seltsamer Titelsucht befallen sein, um sich den Umständen,
Kosten und dem Zeitverlust zu unterziehen, die solches formales Prüfungswesen
mit sich bringt.
Die Zünftlerparteien
im Reichstage waren Anfangs geteilter Ansicht in Betreff ihrer
Haltung gegenüber dem neuen Gesetz, weil dasselbe nicht wie der ursprüngliche
Entwurf des preußischen Staatsministeriums die Zwangsinnungen allgemein
einführte und weil in dem Entwurf nicht die Ausübung des Handwerks
von dem obligatorischen Befähigungsnachweis
abhängig gemacht ist, wie es von den Konservativen, der Centrumspartei
und den Antisemiten gefordert wird. Aus diesem Grunde stimmte auch eine
kleine Gruppe von Konservativen und Antisemiten schließlich gegen
das Gesetz im Ganzen. (Siehe über die Abstimmung am Schlusse des Artikels
"Handwerksorganisation".) Das Gros der Zünftlerparteien beruhigte
sich dagegen in dem Bewußtsein, daß das Gesetz nur eine
weitere Stufe zur Durchführung einer vollständigen
zünftlerischen Organisation in dem vorgedachten Sinne sein werde.
In diesem Sinne wurde
nach Annahme des Gesetzes noch eine Resolution im Reichstag angenommen,
in welche die Regierung ersucht wird, baldmöglichst einen Gesetzentwurf
vorzulegen, in welchem der Befähigungsnachweis verlangt
wird für alle handwerksmäßigen Gewerbe, insbesondere
für das Baugewerbe und die anderen Gewerbe, deren Ausübung mit
erheblichen Gefahren für Leben und Gesundheit verbunden ist.
Was bezweckt die Einführung
des Befähigungsnachweises? Wird Jemand im Ernste behaupten wollen,
daß die Gewerbefreiheit das Gewerbe zurückgebracht habe? Im
Gegenteil zeigen alle Gewerbeausstellungen gegen früher ungeahnte
Leistungen. Die neuen Verhältnisse des Maschinen- und Eisenbahnwesens
haben allerdings die Gewerbe von Grund aus umgestaltet. Der Großbetrieb,
welcher für manche Gewerbezweige vorteilhafter geworden ist, und die
Konkurrenz des Auslandes haben damit auch die Verhältnisse des Handwerks
vielfach verändert. Darum aber hat das Handwerk doch noch immer auf
bestimmten Gebieten seinen natürlichen Boden , von welchem es nicht
verdrängt werden kann. Das Handwerk bleibt überall berechtigt,
wo es vorzugsweise auf die Anpassung zum individuellen
Gebrauch ankommt und die Geschicklichkeit der Hand und der
Scharfsinn des Kopfes durch keine Schablone der Großindustrie ersetzt
werden kann. Der Fortschritt des Handwerks liegt auch mehrfach in der Richtung
der Entwicklung zum Kunst-[S.44]-gewerbe. Damit hat
aber der Befähigungsnachweis, welcher sich nur auf die gewöhnlich
vorkommenden Arbeiten bezieht, von vornherein nichts gemein.
Die Einführung des
Befähigungsnachweises würde auf dem platten
Lande geradezu einen Notstand hervorrufen, weil hier nicht
für jeden Handwerkszweig geprüfte Personen vorhanden sein würden
und nicht zu jeder kleinen Reparatur der gelernte zünftige Handwerker
herangezogen werden kann. Hier werden, wie jetzt gebräuchlich, Stellmacher-
usw. Arbeiten verrichtet von demjenigen, der sie zur Not leisten kann.
Es wird häufig vorkommen, daß der Schmied eine kleine Schlosserarbeit,
der Stellmacher oder Zimmermann eine kleine Tischlerarbeit übernimmt;
es giebt auf dem Lande Maurer und Tüncher, die im Sommer Tüncher-
und Maurerarbeiten verrichten und die im Winter als Hausschlächter
und dergleichen thätig sind.
Die Einführung des
Befähigungsnachweises setzt auch eine Abgrenzung
in den Handwerksbefugnissen voraus. Diese Abgrenzung verhindert den einzelnen
Handwerker vielfach, dasjenige herzustellen, dessen Herstellung nach der
obwaltenden Konjunktur für ihn vorteilhaft ist. Dadurch erleidet der
einzelne Handwerker nicht nur an sich einen Nachteil, sondern es wird das
gesamte Handwerk in der Konkurrenz mit verwandten Zweigen
der Großindustrie, welche keinerlei Schranken unterliegt,
noch
besonders geschädigt.
Das Bestehen der Prüfung
bietet dem Publikum von vornherein überhaupt keine
Garantie dafür, daß der Betreffende auch später
immer tüchtig und geschickt, und namentlich nicht, daß er immer
solide und reell arbeiten wird. Unter der scharfen Konkurrenz ist der Kunde
im Stande, selbst wirksamer zu prüfen nach eigener Erfahrung oder
nach der Erfahrung Anderer, als es irgend eine obrigkeitliche Kommission
zu thun vermag. Gerade das unmittelbare Eigeninteresse veranlaßt
das Publikum zu dieser Prüfung in jedem einzelnen Falle. Allerdings
darf jeder -- wie man sich ausdrückt -- Pfuscher jetzt ein Handwerk
betreiben; aber ebenso ist es jedem gestattet, Kaufmann, Musiker oder Landwirt
zu werden. Es fragt sich nur, ob der Kaufmann und der Handwerker Kunden
und der Musiker Zuhörer bekommt. Wie es in dem 1868 vom Fürsten
Bismarck im Reichstage eingebrachten Gesetzentwurf über die Gewerbefreiheit
heißt, vermögen Handwerkerprüfungen nicht diejenige Garantie
zu gewähren, welche sie zu gewähren beabsichtigen, und werden
dadurch nachteilig, daß sie den Handwerker zur Aufwendung von Zeit
und Kosten zu einer Zeit zwingen, wo er all sein Kapital und seine Arbeitskraft
auf die Gründung seiner Existenz verwenden muß.
Dazu kommt, daß
erfahrungsgemäß das Prüfungswesen im Handwerk Mißbräuche
aller Art nach sich zieht. Die an der Prüfung Mitwirkenden haben vielfach
ein Interesse daran, sich neue Konkurrenten fern zu halten und denselben
deshalb das Bestehen der Prüfung möglichst zu erschweren.
Auch die Wiedereinführung
des obligatorischen Befähigungsnachweises
im Bauhandwerk, für welche sich besonders die Nationalliberalen
ausgesprochen haben, würde ebensowenig einen Wert haben wie der Befähigungsnachweis
in anderen Handwerkszweigen. Solange dieser Prüfungszwang bestand,
hat man von Unglücksfällen bei Bauten und von [S.45]
Einsturz von Bauten mehr gehört als seit Einführung der Gewerbefreiheit
i. J. 1869. Die Prüfung giebt auch keinerlei Gewähr für
die Verwendung guten Materials und für die unausgesetzte Beaufsichtigung
der Neubauten. In der Zeit des Prüfungszwangs für das Bauhandwerk
ist es vielfach vorgekommen, daß Personen, welche die Berechtigung
zur selbständigen Vornahme von Bauten nicht besaßen, gegen geringes
Entgelt nominell einen geprüften Bauhandwerker annahmen; dieser figurirte
nur den Behörden gegenüber als Bauleiter, thatsächlich aber
trug unter solchen Verhältnissen niemand die volle Verantwortlichkeit
für die sachgemäße Ausführung der Bauten. Der Prüfungszwang
verhieß also eine Garantie, ohne dieselbe thatsächlich zu gewähren.
Die Trennung der Verantwortlichkeit für den Bau von der thatsächlichen
Leitung des Baues stumpfte das Gefühl der Verantwortlichkeit gerade
bei denjenigen Personen ab, von deren Gewissenhaftigkeit die Solidität
des Baues abhängt.
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