Eugen Richter
1838-1906









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Politisches ABC=Buch
9. Auflage, 1898

 
 

Christentum. [S.80]  Seit 1881 ist es auf konservativer Seite Mode geworden, bei jeder Gelegenheit zu betonen, daß die Grundlagen des Christentums für den Staat und die Gesetzgebung Anwendung finden müßten. Niemand wird bestreiten, daß unsere ganze Staatsentwickelung, unsere ganze moderne Kulturentwickelung, alle unsere Anschauungen in der Gesetzgebung sehr wesentlich auf den Grundlagen des Christentums und jenen Anschauungen über Moral und Humanität, die weit über die christlichen Kreise hinaus Grundlage unserer Zivilisation geworden sind, beruhen. In dieser allgemeinen Beziehung zu sagen, daß ein Gesetzentwurf den Grundlagen des Christentums entspricht, heißt nicht mehr und nicht weniger, als wenn man von einem Gesetzentwurf sagt, daß er im 19. Jahrhundert eingebracht sei. Etwas anderes ist es, wenn man den Inhalt eines Gesetzentwurfes als den speziellen Ausdruck des Christentums hinzustellen sucht. Das Große und Erhabene der christlichen Religion im Gegensatz zu anderen Religionen besteht gerade darin, daß die christliche Religion keine Normativbestimmungen treffen wollte für staatliche Einrichtungen, für Gesetzgebungsfragen. Eben deshalb steht das Christentum hoch über den individuellen Verhältnissen des einzelnen Staates und den mit der Zeit wechselnden Verhältnissen von Staat und Recht. Jede Staatsverfassung verträgt sich mit dem Christentum, und für ein spezielles Gesetz kann man niemals ein Normalstatut aus der christlichen Offenbarung entnehmen.