Politisches
ABC=Buch
9. Auflage, 1898
Christentum. [S.80]
Seit 1881 ist es auf konservativer Seite Mode geworden, bei jeder
Gelegenheit zu betonen, daß die Grundlagen des Christentums für
den Staat und die Gesetzgebung Anwendung finden müßten. Niemand
wird bestreiten, daß unsere ganze Staatsentwickelung, unsere ganze
moderne Kulturentwickelung, alle unsere Anschauungen in der Gesetzgebung
sehr wesentlich auf den Grundlagen des Christentums und jenen Anschauungen
über Moral und Humanität, die weit über die christlichen
Kreise hinaus Grundlage unserer Zivilisation geworden sind, beruhen. In
dieser allgemeinen Beziehung zu sagen, daß ein Gesetzentwurf den
Grundlagen des Christentums entspricht, heißt nicht mehr und nicht
weniger, als wenn man von einem Gesetzentwurf sagt, daß er im 19.
Jahrhundert eingebracht sei. Etwas anderes ist es, wenn man den Inhalt
eines Gesetzentwurfes als den speziellen Ausdruck des Christentums hinzustellen
sucht. Das Große und Erhabene der christlichen Religion im Gegensatz
zu anderen Religionen besteht gerade darin, daß die christliche Religion
keine Normativbestimmungen treffen wollte für staatliche Einrichtungen,
für Gesetzgebungsfragen. Eben deshalb steht das Christentum hoch über
den individuellen Verhältnissen des einzelnen Staates und den mit
der Zeit wechselnden Verhältnissen von Staat und Recht. Jede Staatsverfassung
verträgt sich mit dem Christentum, und für ein spezielles Gesetz
kann man niemals ein Normalstatut aus der christlichen Offenbarung entnehmen.
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