Eugen Richter
1838-1906









Homepage

Einleitung

Biographie

Reden

--->Schriften

Ansichten

Hintergrund

Rezeption

Literatur

Bilder

Links

Email

 


 
Politisches ABC=Buch
9. Auflage, 1898

 
 

Dissidentenkinder. [S.85] Bis zum Kultusminister Grafen v. Zedlitz 1891 hatte man seit 1872 in Preußen unter den Ministern Falk und v. Goßler die Dissidentenkinder von jedem Religionsunterricht in der Volksschule dispensirt, wenn die Eltern erklärt hatten, selbst für den Religionsunterricht der Kinder anderweit sorgen zu wollen. Im Januar 1892 aber änderte sich die Rechtsauffassung des Ministeriums unter Berufung auf neuere gerichtliche Urteile. Während Artikel 12 der Verfassung die Freiheit des Religionsunterrichts gewährleistet, berief man sich auf Art. 21 der Verfassung, welcher die Eltern ver=[S.86]=pflichtet, ihre Kinder nicht ohne den Unterricht zu lassen, welcher in der öffentlichen Volksschule vorgeschrieben ist. Zu dem vorgeschriebenen Unterricht, so folgerte man, gehöre auch der Religionsunterricht. Ein Dispens von diesem Unterricht könne aber nur erteilt werden nach Führung des Nachweises, daß die Kinder anderweitig Religionsunterricht erhalten. Einen solchen Nachweis zu führen aber seien die Dissidenten gar nicht im Stande, weil sie keine Religion hätten; denn eine Religion sei nicht denkbar ohne Glauben an einen persönlichen Gott.
 
     Auf diese Weise konstruirt man von Staatswegen einen Religionsbegriff und schreibt ein gewisses Minimum solcher Religion vor. Allerdings ist der Religionsunterricht für die öffentliche Volksschule vorgeschrieben, aber nur der Religionsunterricht derjenigen Konfession, welcher die Kinder angehören. Aus dem Art. 21 der Verfassung kann daher nur gefolgert werden, daß die dissidentischen Eltern ihre Kinder nicht dem dissidentischen Religionsunterricht, der in der Volksschule oder anderwärts erteilt wird, entziehen dürfen. Der Zuweisung dagegen zum Religionsunterricht einer anderen Konfession steht direkt entgegen nicht blos Artikel 12 der Verfassung, welcher die Freiheit des religiösen Bekenntnisses gewährleistet, sondern auch § 11 Teil 2 Titel 12 des Allgemeinen Landrechts, wonach "Kinder, die in einer anderen Religion, als welche in der öffentlichen Schule gelehrt wird, nach den Gesetzen des Staates erzogen werden sollen, dem Religionsunterricht beizuwohnen nicht gehalten werden können."
 
     Die Frage des Religionsunterrichts der Dissidentenkinder kam auch in dem Schulgesetzentwurf in Frage, den das Ministerium des Grafen Zedlitz 1892 dem Abgeordnetenhause vorlegte. Die Kommission zur Vorberatung dieses Gesetzes, welches bekanntlich nachher von der Regierung zurückgezogen wurde, nahm ihre Bestimmung gegen die Stimmen der Konservativen mit großer Mehrheit an, wonach Kinder, welche nicht einer vom Staate anerkannten Religionsgesellschaft angehören, an dem Religionsunterricht in der Schule teilnehmen, sofern nicht die Eltern oder deren Stellvertreter das Gegenteil verlangen. Für die erwähnte Fassung stimmten in der damaligen Kommission nicht nur alle Liberalen, sondern auch das Centrum und selbst die Freikonservativen (s. "Volksschulwesen")
 
     Kultusminister Dr. Bosse tritt neuerlich nicht blos formell unter Berufung auf die Auslegung des geltenden Rechts durch die Gerichte, sondern auch materiell für die neuere Praxis ein. Er meint, es wäre ganz nützlich, wenn die Dissidentenkinder in der Schule etwas Anderes hörten über religiöse Dinge als zu Hause. Nun kann es aber doch für die Erziehung und für die Ersprießlichkeit des Unterrichts nichts Nachteiligeres geben, als wenn Schule und Haus in Fragen dieser Art in grell verschiedener Weise auf das Kindergemüt einwirken. Auch kann nicht bestritten werden, daß die Teilnahme von Dissidentenkindern an dem evangelischen oder katholischen Religionsunterricht auf das Verhalten und den Unterricht der anderen Kinder ungünstig einwirkt. Kultusminister Bosse findet dies freilich nur "unbequem", meint aber, es sei kein Unglück, wenn die Kinder wenigstens bei Gelegenheit dieses Religionsunterrichts Kenntnis erhielten von den religiösen Auffassungen der [S.87] großen Mehrheit des Volks. Von diesem Standpunkt aus, der den Religionsunterricht gewissermaßen nur als eine Beschreibung religiöser Auffassungen und Gebräuche ansieht, könnte man zuletzt auch dahin kommen, jüdische Kinder zu zwingen, am christlichen Religionsunterricht teilzunehmen. Minister Bosse meint, auch im Schulunterricht in der vaterländischen Geschichte würde manches vorgetragen, was den Ansichten sozialdemokratischer Eltern widerspricht. Soweit dies wirklich der Fall ist, kann doch die Darstellung der äußeren Vorgänge der Geschichte nicht in Vergleich gestellt werden mit einem Unterricht, der zugleich auf Herz und Gemüt und das ganze innere Wesen des Kindes einzuwirken bestimmt ist.
 
     Ebenso wie im Kultusministerium hat sich nun aber auch die Stellungnahme im Abgeordnetenhause verändert. Nur auf freisinniger und nationalliberaler Seite verwahrt man sich nach wie vor gegen die zwangsweise Zuführung der Dissidentenkinder zum Religionsunterricht. Die Centrumspartei erklärt zwar materiell noch denselben Standpunkt einzunehmen, versteckt sich aber formell dahinter, daß die Frage nur in einem allgemeinen Schulgesetz geregelt werden könne. Hinter diesem Vorhang trifft die Centrumspartei zusammen mit den Konservativen, welche ebenfalls auf den künftigen Erlaß eines allgemeinen Schulgesetzes verweisen, aber außerdem kein Hehl daraus machen, daß ihnen die Ausübung eines Zwanges zu Gunsten der privilegirten Konfessionen auch auf religiösem Gebiet genehm ist.
 
     Ein von den freisinnigen Parteien 1897 im Abgeordnetenhause eingebrachter Gesetzentwurf mit jenen Bestimmungen, welche im März 1892 die Kommission für das Zedlitz'sche Unterrichtsgesetz angenommen hatte (s. oben), ist am 22. Juni 1897 an eine Kommission verwiesen und damit für diese Session begraben worden. In dem Abgeordnetenhause in seiner gegenwärtigen Zusammensetzung ist keine Aussicht vorhanden, daß der gegenwärtige Zustand, der von den Dissidenten als brutaler Zwang empfunden wird und jedenfalls, mag man einen religiösen Standpunkt einnehmen, wie man will, in keinem Falle den religiösen Interessen zur Förderung gereicht, beseitigt oder auch nur gemildert wird.