Eugen Richter
1838-1906











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Politisches ABC=Buch
9. Auflage, 1898

 
 

Eisenbahnwesen in Preußen.[S.94]  In Preußen ist seit 1879 eine Verstaatlichung fast aller Privateisenbahnen vollzogen worden mit Hilfe der Konservativen und der überwiegenden Mehrzahl der Nationalliberalen gegen die Stimmen der Fortschrittspartei bezw. der Freisinnigen Partei. Für die späteren Verstaatlichungen hat auch ein Teil der Centrumspartei gestimmt. Nach dem Etat für 1897/98 wird die Länge der preußischen Staatseisenbahnen einschließlich der außerhalb Preußens belegenen Strecken in mittlerem Jahresdurchschnitt 29 011 Kilometer betragen. Die Einnahmen der preußischen Staatseisenbahnen sind im Staatshaushalt für 1897/98 veranschlagt auf 1112 Millionen Mk., die Ausgaben der Eisenbahnverwaltung auf 634 Millionen Mk. Dies ergiebt einen Ueberschuß von 477 Millionen Mk. Es werden vom Ueberschuß verwandt für die einmaligen Ausgaben der Eisenbahnverwaltung 48 Millionen Mk. Nicht in Abzug gebracht von dem Ueberschuß sind die Ausgaben für Verzinsung und Tilgung des Anlagekapitals. Die Eisenbahnkapitalschuld wurde pro 1897/98 veranschlagt ohne Rücksicht auf die inzwischen stattgefundenen Abschreibungen aus Ueberschüssen auf 7024 Millionen Mk. und wurde nach Abschreibungen der Ueberschüsse berechnet für den 1. April 1896 auf 5230 Millionen Mark. Hiernach wurde der Reinüberschuß veranschlagt auf 286 Mill. Mark (ohne Abzug der einmaligen Ausgaben von 48 Millionen Mark). Derselbe Reinüberschuß hat betragen 1893/94 165, 1894/95 174, 1895/96 261 Millionen Mark. Nicht in Abzug gebracht sind vom Reinüberschuß die Pensionen der Eisenbahnbeamten. Auch sind Tilgungsprozente der Kapitalschuld nicht in Abzug gebracht.

     Der Staat hat mit der Verstaatlichung, insbesondere auch durch die Herabsetzung des Zinsfußes von 4 1/2 und 4 Prozent auf 3 1/2 Prozent ein gutes Geschäft gemacht.

     Um so lebhafter klagt man namentlich in industriellen Kreisen darüber, [S.95] daß die Voraussetzungen der Eisenbahnverstaatlichung für Handel und Vekehr nicht in Erfüllung gehen. Der Staatsfiskus vermag aus den Eisenbahnen mehr Ueberschüsse zu ziehen, als andernfalls die Aktionäre Dividenden würden bezogen haben. Denn solange eine Konkurrenz von Privatbahnen und Staatsbahnen bestand, wirkte diese Konkurrenz fortgesetzt herabmindernd auf die Tarife zur Erleichterung des Güterverkehrs und des Personenverkehrs. Anders infolge der Eisenbahnverstaatlichung. So klagte Abgeordneter Dr. Hammacher als früherer Freund und Beförderer des Staatseisenbahnsystems schon am 19. Januar 1892 in der Budgetkommission des Reichstags, daß nach der Art, wie die Verstaatlichung in Preußen durchgeführt worden sei und gehandhabt werde, Preußen in seiner Verkehrsentwicklung auf dem toten Punkt angelangt sei. Es bliebe jetzt nichts anderes mehr übrig, als die Frage zu entscheiden, ob man die Staatseisenbahnen besser verpachtet oder wieder an Private verkauft, um aus der jetzigen ungünstigen Situation herauszukommen. In ähnlicher Weise führte Abgeord. Hammacher am 18. Januar 1892 im preußischen Abgeordnetenhause aus: Vor 13 Jahren habe die Regierung, als man den großen Staatseisenbahngedanken in der Landesvertretung diskutirte, gesagt: die Verstaatlichung sei notwendig, weil man den Privaten die Eisenbahnen des Landes nicht zum Zwecke des Profits überlassen könne; die Staatseisenbahnverwaltung werde ein leuchtendes Beispiel der Eisenbahnleistungen für ganz Europa sein, und jetzt müsse die Staatsregierung erklären, daß sie aus finanziellen Gründen nicht im Stande sei, dasjenige zu thun, was sie im Interesse des Landes für notwendig halte.
 
     Die Rücksicht auf die Staatsfinanzen hat es auch verhindert, daß die vom früheren Eisenbahnminister Maybach bis zum Sommer 1891 eingeleiteten Tarifreformen zur Ausführung gelangt sind. Der Finanzminister fürchtet den Ausfall einer Tarifermäßigung für die Staatsfinanzen und erachtet die Deckung des Ausfalls durch vermehrten Verkehr als unsicher. Auch wird geltend gemacht, daß eine probeweise Durchführung von Tarifreformen für Teile des Staatseisenbahnwesens nicht abgängig sei. Im Privateisenbahnsystem dagegen würde die Durchführung einer Tarifreform im beschränkten Gebiet einer einzelnen Bahnverwaltung Erfahrungen ermöglichen, welche alsbald auch von der Gesamtheit der Eisenbahnen demnächst nutzbar gemacht werden könnten. Bei den bis jetzt zurückgestellten Tarifreformenen handelt es sich um eine Reform des Personentarifs. Die Grundzüge desselben waren im Reichsanzeiger am 5. März 1891 dargelegt worden. Der damalige Eisenbahnminister beabsichtigte die Tarife unter Aufhebung der vierten Wagenklasse so umzugestalten, daß künftig an Fahrgeld pro Kilometer zu zahlen sind die nachstehenden Pfennigbeträge. In Klammern geben wir die bisherigen Sätze an:
 

Personenzug. Schnellzug. Hin und zurück.
I. Klasse: 6 (8) 7 (9) 14 (12)
II. Klasse: 4 (6)  5 (6,67) 10 (9)
III. Klasse:  2 (4) 3 (4,67) 6 (6)
IV. Klasse: - (2) - (-) -

     Den möglichen Ausfall aus den vorstehenden Ermäßigungen der Personentarife schätzte die Regierung im ungünstigsten Falle auf 35-40 Mill. M. [S.96]  Hierbei waren aber nicht in Abzug gebracht diejenigen Mehreinnahmen, welche sich notwendig ergeben müssen aus der Zunahme der Reisenden im Ganzen und in den höheren Klassen als eine Folge der Herabsetzung des Tarifs.
 
     Bei den Gütertarifen hat im Jahre 1897/98 die Ausdehnung des Rohstofftarifs auf Brennstoffe stattgefunden. Der Ausfall daraus ist auf 16 500 000 Mk. veranschlagt, jedoch ohne Gegenrechnung von Mehreinnahmen infolge Vermehrung des Verkehrs unter dem billigeren Tarif.
 
     Die unbedingte Herrschaft der Staatseisenbahnverwaltung über die Gütertarife ist vielfach ausgenutzt worden zur Verschärfung des Schutzzollsystems durch die Aufhebung billiger, die Einfuhr fördernder Tarife, auch zur Begünstigung einzelner Produktionszweige, wie z. B. für Kohlen durch billige Ausfuhrtarife, und zwar oft zum Nachteil der gesamten inländischen Konsumtion für den betr. Artikel. Angesichts der Teuerung des Getreides im Herbst 1891 wurden Staffeltarife für Getreide eingeführt, nachher aber im Mai 1894 wieder aufgehoben, um die Agrarier des Westens dadurch für die Genehmigung des russischen Handelsvertrages zu gewinnen (siehe "Staffeltarife"). Derart sind mehrfach nach der Eisenbahnverstaatlichung in einem weit größeren Umfange als je zuvor in dem Eisenbahnverkehr fremdartige Gesichtspunkte für die Gestaltung der Gütertarife maßgebend geworden.
 
     Dieselben Gründe, welche die Konservativen veranlassen, gesetzliche Beschränkungen der Freizügigkeit zu verlangen, erklären auch die Opposition der Konservativen gegen billige Personentarife auf den Eisenbahnen. So traten im Abgeordnetenhause am 15. März 1889 die Abgeordneten v. Tiedemann (Bomst) und Graf von Limburg-Stirum ein für die Verteuerung der Eisenbahnfahrt in der IV. Klasse. Sie klagten über die "Eisenbahnvagabondage" der Arbeiter. In dasselbe Horn bliesen im Herrenhause Graf Udo Stolberg und Graf Frankenberg. Während andererseits Graf Mirbach im Herrenhause "ein menschenwürdiges Dasein in der I. Eisenbahnklasse" verlangte, wurde von dieser Seite gefordert, daß die ermäßigten Fahrpreise, welche die Eisenbahnverwaltung allen größeren Gesellschaften gewährt für die "Sachsengänger" nicht Anwendung finden sollten.
 
     Als am 11. März 1897 im Abgeordnetenhause eine Petition um Einführung von Kilometerheften zur Verhandlung stand, sprach sich Abg. Graf Limburg entschieden gegen jede Verbilligung der Personentarife aus. Abg. Graf Kanitz klagte darüber, daß die bestehenden Personentarife den Wandertrieb beförderten. Die östlichen Provinzen litten unter diesen außerordentlich billigen Personentarifen, und der billige Berliner Vorortsverkehr übe eine erhebliche Anziehungskraft aus auf die Bevölkerung in der Provinz. Im Sommer 1897 beantragte der Vorstand der ostpreußischen Landwirtschaftskammer bei dem Ministerium, die Arbeiter auszuschließen, von der allgemein geltenden Vergünstigung, wonach Gesellschaften von mindestens dreißig Personen in der vierten Wagenklasse zu dem Tarif für Militärbillets zu befördern sind. Auch für diesen Antrag war die Rücksicht maßgebend, es den Arbeitern zu erschweren, sich dorthin zu begeben, wo ihnen höhere Löhne geboten werden. Das Ministerium hat die Antragsteller abschlägig beschieden, indem es ein "öffent-[S.97]-liches Interesse" anerkannte dahin, auch den Arbeitern solche billigen Preise unter den gedachten Voraussetzungen zu gewähren.
 
     Die Verstaatlichung der Eisenbahnen hat auch nachteilig eingewirkt auf die weitere Vermehrung der Eisenbahnlinien. Glücklicherweise waren vor Beginn der Eisenbahnverstaatlichung die Hauptverkehrswege in Preußen fast sämtlich ausgebaut. Doch ereignet es sich auch jetzt wiederholt, daß eine neue Hauptlinie deshalb nicht zu Stande kommt, weil die Regierung aus Besorgnis vor einer finanziellen Konkurrenz mit bestehenden Staatsbahnlinien die Konzession zum Bau einer Privatbahn ablehnt, auch wenn eine Staatsunterstützung nicht verlangt wurde, wie z. B. für den Bau einer Linie Köln-Kassel. Die Regierung erklärt, daß sie solche Hauptlinien sich für den eigenen Bahnbau vorbehalten müsse, hält sich darum aber nicht verpflichtet, den Bau, welchen sonst die Privatbahngesellschaft unternommen hätte, nunmehr selbst auszuführen.
 
     In Bezug auf die Kleinbahnen ist am 28. Juni 1892 ein besonderes Gesetz erlassen worden über Bahnen, welche dem öffentlichen Verkehr dienen, aber wegen ihrer geringen Bedeutung für den allgemeinen Eisenbahnverkehr dem Gesetz über die Eisenbahn-Unternehmungen vom 3. November 1838 nicht unterliegen. Dieses Gesetz rechnet zwar mit dem Bau von Kleinbahnen durch das Privatkapital und durch Kommunalverbände, indessen ist die Vielheit der bei der Konzessionserteilung und der Aufsicht konkurrirenden Behörden, sowie die Summe der Verpflichtungen, welche dem Betriebe von verschiedenen Seiten auferlegt werden kann, ein Hindernis für die sonst stattfindende raschere Vermehrung der Kleinbahnen außerhalb des Staatseisenbahnnetzes. Auch die Zuschüsse der engeren und weiteren Kommunalverbände für den Bau von Kleinbahnen erscheinen so wenig ausreichend, daß man seit 1895 dazu übergegangen ist, in den Eisenbahnkreditgesetzen Staatsfonds zur Unterstützung des Baues von Kleinbahnen auszusetzen, -- eine zweischneidige Maßregel, da dieselbe geeignet ist, andererseits die zunächst berufenen Kommunalverbände und Interessentenkreise in der eigenen Opferwilligkeit zu lähmen. Bisher sind dazu insgesamt 21. Mill. Mark ausgesetzt worden.
 
     Die Mehrung der Eisenbahnunfälle im Sommer 1897 wird vielfach auf die Sparsamkeitspolitik der Eisenbahnverwaltung zurückgeführt, welche unter dem Einfluß des Finanzministers v. Miquel in den letzten Jahren maßgebend gewesen ist. Denn letztere rühmte sich bei der Einbringung des letzten Etats im Januar 1897 im Abgeordnetenhause, daß es der Regierung gelungen sei, die Betriebsausgaben in den letzten Jahren im Verhältnis zu den Einnahmen von 63 auf 53 herabzudrücken, und daß er hoffe, noch eine weitere Herabdrückung dieser Ausgaben erzielen zu können.
 
     Dem gegenüber wird vielfach die Ansicht ausgesprochen, daß sowohl bei den sachlichen Ausgaben für Bahnhofseinrichtungen, Oberbau, Betriebsmittel, als auch hinsichtlich der personellen Ausgaben in Bezug auf die Vermehrung und die Qualifikation des Personals dem gesteigerten Verkehr nicht entsprechend Rechnung getragen worden sei.