Politisches
ABC=Buch
9. Auflage, 1898
Freizügigkeit.
[S.129] Freizügigkeit
ist das Recht, dorthin zu gehen, wo man für seine Arbeit am besten
bezahlt und behandelt wird. Die Freizügigkeit war in Preußen
schon durch das Gesetz von 1842 begründet und ist, nachdem sie vorübergehend
durch Einzugsgelder eingeschränkt war, durch Reichsgesetz von 1867
garantirt worden. Es können jetzt Personen nur noch ausgewiesen werden,
welche, bevor sie durch zweijährigen Aufenthalt einen Unterstützungswohnsitz
erworben haben, verarmen. Dazu können nach den Landesgesetzen bestrafte
Personen und nach dem Reichsgesetz Jesuiten Aufenthaltsbeschränkungen
unterworfen werden.
Durch die Novelle
vom 12. März 1894 zum Reichsgesetz über den Unterstützungswohnsitz
vom 6. Juni 1870 ist bestimmt worden, daß die Erwerbung und der Verlust
des Unterstützungswohnsitzes nicht erst, wie früher bestimmt
war, mit dem vollendeten 24. Lebensjahr, sondern schon mit dem zurückgelegten
18. Lebensjahr beginnt. Diese Aenderung ist zur Erleichterung namentlich
des platten Landes erfolgt im Hinblick darauf, daß schon mit dem
früheren Lebensjahr die Möglichkeit beginnt, sich selbständig
außerhalb des Heimatortes zu ernähren. Auch ist durch die Novelle
die Verpflichtung der Aufenthaltsgemeinde, Personen, welche gegen Lohn
oder Gehalt in einem [S.130] Dienst= oder Arbeitsverhältnis
stehen, auf Erfordern Kur und Verpflegung in Erkrankungsfällen zu
gewähren, von 6 auf 13 Wochen verlängert und zugleich auf die
landwirtschaftlichen Arbeiter ausgedehnt worden.
Neuerlich ist unter den
Konservativen eine Agitation entstanden,
welche darauf ausgeht, im Interesse niedriger Löhne auf den Gütern
die Freizügigkeit der Arbeiter beschränken. In dem Programm des
"Bundes der Landwirte" finden diese Bestrebungen
einen Ausdruck in der Forderung einer "anderweitigen Regelung der Gesetzgebung
über die Freizügigkeit und den Kontraktbruch der Arbeiter", --
Auch die Deutschsoziale (Antisemiten=) Reformpartei hatte auf ihrem Parteitag
in Nordhausen 1897 beschlossen, zu erörtern, ob die Freizügigkeit
zwar nicht in Bezug auf den Abzug, wohl aber in Bezug auf die Niederlassung
zu beschränken sei. -- Dies läuft nahezu auf dasselbe hinaus;
denn die Arbeiter können nicht dort, wo die Lohnverhältnisse
ungünstig sind, fortziehen, wenn es ihnen erschwert wird, an anderen
Orten mit besseren Lohnverhältnissen ein Unterkommen zu finden.
Der konservative Abgeordnete
Frhr. v. Manteuffel trat im Reichstag im
Dezember 1891 und im Herrenhause am 28. März 1892 für Beschränkung
der Freizügigkeit ein unter den verschiedensten Vorwänden. So
meint er, man müsse minorennen Personen, d. h. Arbeitern unter 21
Jahren, die Freizügigkeit beschränken. Sonst aber wird doch das
Wandern und Reisen gerade für jugendliche Personen aus den verschiedensten
Gründen empfohlen. Auch haben die betreffenden Eltern und Vormünder
über das Verhalten der außerhalb Arbeit suchenden Minorennen
noch nicht Klage erhoben. Auch die Forderung der Wiedereinführung
von Einzugsgeldern wird geltend gemacht,
angeblich um die Städte gegen den Zuzug Verarmter zu schützen.
Aber seitens der Städte wird eine solche Forderung nicht erhoben.
Thatsächlich haben die Städte während des Bestehens des
Einzugsgeldes in den 50er Jahren in Preußen die Erfahrung gemacht,
daß gerade das Einzugsgeld die Verarmung befördert, weil die
letzten Barmittel der Zuziehenden oft angewendet werden, um das Einzugsgeld
entrichten zu können. Hieran würde auch die Einrichtung eines
Einzugsgeldes zum Zweck der Kautionsstellung nichts ändern. Außerdem
verhindert das Einzugsgeld bei einem Ueberfluß von Arbeitskräften
in einem bestimmten Geschäftszweige den Fortzug der Arbeiter an solche
Plätze, wo dieselben dringender benötigt sind.
Endlich weist man auf
konservativer Seite auch hin auf die ungesunde Unterkunft,
welche die Arbeiter in den Städten in Schlafstellen usw. finden. Man
müsse die Erlaubnis des Fortzugs in einen andern Ort abhängig
machen von dem Nachweis, daß der Fortziehende an seinem neuen Wohnort
eine nach den Normen der Gesundheitslehre genügende Wohnung für
sich und seine Familie finden werde. Dieser Gedanke mutet um so seltsamer
an, als die Wohnungsverhältnisse der Arbeiter auf vielen großen
Gütern weit schlechter sind, als in den Städten. Aus den Städten
und Industriecentren selbst sind auch diese Vorschläge als ebenso
überflüssig und praktisch unausführbar zurückgewiesen
worden.
Von konservativer Seite
wird es auch so dargestellt, als ob der Zuzug vom platten Lande nach den
Städten durch die Sucht nach Ungebundenheit und [S.131]
Zerstreuung hervorgerufen werde, während in Wahrheit das industrielose
platte Land nicht im Stande ist, den Zuwachs der Bevölkerung zu ernähren.
Dort, wo wie in den östlichen Provinzen auf dem platten Lande die
Bevölkerung sich thatsächlich vermindert, liegt dies auch an
einer künstlichen Gebundenheit der Verhältnisse, die es dem Einzelnen
erschwert, sich vorwärts zu bringen und namentlich Grundeigentum zu
erwerben.
Eine Beschränkung
der Freizügigkeit im Innern Deutschlands würde diejenigen, welche
sich jetzt den Städten und Industriecentren zuwenden, veranlassen,
sich dem Auswanderungsstrom nach Amerika anzuschließen.
In derselben Richtung
wie die vorgedachten Bestrebungen auf konservativer Seite liegt auch die
Agitation derselben gegen Ermäßigung der Personentarife
auf den Eisenbahnen (siehe unter "Eisenbahnwesen").
Zur Rechtfertigung solcher
Bestrebungen wird auf eine angebliche Entvölkerung
des platten Landes hingewiesen. Die Statistik erweist dies Alles als Märchen.
In dem Jahrfünft 1880/85 wuchs die Bevölkerung der Landgemeinden
und Gutsbezirke in Preußen allerdings
nur um 192 566 Köpfe, im folgenden Jahrfünft dagegen um 450 025
und im letzten Jahrfünft (1890-1895)
sogar um 800 202 Köpfe. Dagegen hat
die Bevölkerung der Städte in dem Jahrfünft 1890/95 um rund
93 000 Köpfe weniger (1 092 226 statt 1 184 786) zugenommen als im
vorhergehenden Jahrfünft.
Das Statistische Bureau
führt jene stärkere Bevölkerungszunahme in erster Reihe
zurück auf die Verdichtung des Eisenbahnnetzes und eine ausgiebige
Benutzung der auf dem Lande vorhandenen Wasserkräfte. Infolgedessen
vermöge die Fabrikindustrie mit Vorteil ihre Betriebsstätten
auf das platte Land zu verlegen.
Die seitdem stattgehabte
Veröffentlichung der Ergebnisse der Berufszählung
vom 14. Juni 1895 hat ergeben, daß auch die Zahl der in der Landwirtschaft,
Gärtnerei, Tierzucht Erwerbsthätigen
im Hauptberuf in Preußen zugenommen
hat, nämlich von 4 625 893 im Jahr 1892 auf 4 701 475 im Jahr 1895.
Allerdings ist die landwirtschaftliche Bevölkerung nicht entfernt
im Verhältnis von Bevölkerungszunahme im Industrie
und Handel gewachsen. Aber diese Zunahme von Industrie und
Handel ist das Kennzeichen jedes in einer höheren Kulturentwicklung
sich befindenden Landes. Diese Zunahme ist die erste Voraussetzung eines
steigenden Wohlstandes, einer vermehrten Bevölkerung und damit auch
einer entsprechenden Wehrkraft. Grund und Boden sind begrenzt, die Bodenbearbeitung
ist keiner schrankenlosen Ausdehnung fähig; zudem ermöglicht
es die Ausbreitung des Maschinenwesens, auch in der Landwirtschaft mit
einer geringeren Zahl menschlicher Arbeitskräfte eine größere
Produktenmenge als vordem zu erzielen. Dies gilt namentlich für die
Großbetriebe der Landwirtschaft und erklärt es, warum in den
Gutsbezirken eine Bevölkerungsabnahme stattfindet. Die Dreschmaschinen
gewähren nur für kurze Zeit Arbeitsgelegenheit, während
die Handdrescher den Winter hindurch Arbeit fanden.
Nach Regierungsbezirken
hat die Bevölkerung in der Zählungsperiode 1890/95 nur abgenommen
in Deutschland in Hohenzollern (964 Einw.), [S.132] in
Niederbayern (8942 Einw.) und im würt. Jagstkreis (4475 Einw.). Eine
Kreisstatistik liegt noch nicht vor, ebensowenig eine Statistik über
die ländliche Bevölkerung in den
einzelnen Regierungsbezirken und Kreisen. Von 1885 bis 1890 hatte dieselbe
in 7 ostelbische Regierungsbezirken und 148 ostelbischen Kreisen abgenommen.
Für die Periode 1890/95 dürfte dies nur in beschränktem
Umfang der Fall gewesen sein.
Die
Gründe dieser Abnahme erklären sich für die
östlichen Provinzen aus der Gebundenheit der ländlichen Verhältnisse,
aus den Schwierigkeiten, welche dort die kleinen Landgemeinden und Gutsbezirke
in öffentlich=rechtlicher Beziehung jeder Kolonisation entgegenstellen,
aus dem Vorwiegen des Großgrundbesitzes und der künstlichen
Befestigung eines Teils dieses Grundbesitzes, wodurch die Vermehrung des
kleinen und mittleren Besitzes erschwert wird. Die Abnahme der Bevölkerung
ist daher auch weit stärker gewesen in den Gutsbezirken als in den
Landgemeinden (in Gutsbezirken durchweg das Doppelte im Verhältnis
zur Bevölkerung). Die Provinzen Pommern, Posen, Westpreußen,
Ostpreußen, Brandenburg, Schlesien, in welchen die Betriebe von 100
Hektar und mehr zwischen 42 und 65 % der landwirtschaftlichen bebauten
Fläche ausmachen, zeigen die verhältnismäßig stärkste
Abnahme der Bevölkerung. Auch die überseeische Auswanderung ist
hier am stärksten.
Andere Gründe sind
zu suchen in der durch das Schutzzollsystem noch besonders gesteigerten
Entwicklung der Industrie, welche durch neue industrielle Anlagen in den
großen Städten und industriellen Bezirken des Westens die Heranziehung
neuer Arbeitskräfte aus dem Osten zur Folge hat, während die
landwirtschaftlichen Schutzzölle eine Vermehrung der Arbeiter nicht
nach sich ziehen, denn die landwirtschaftlichen Zölle haben nur eine
Steigerung der Grundrente zur Folge, ziehen aber nicht eine Vermehrung
der Produktion und der Verwendung von Arbeitskräften nach sich.
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