Eugen Richter
1838-1906











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Politisches ABC=Buch
9. Auflage, 1898

 
 

Freizügigkeit. [S.129]  Freizügigkeit ist das Recht, dorthin zu gehen, wo man für seine Arbeit am besten bezahlt und behandelt wird. Die Freizügigkeit war in Preußen schon durch das Gesetz von 1842 begründet und ist, nachdem sie vorübergehend durch Einzugsgelder eingeschränkt war, durch Reichsgesetz von 1867 garantirt worden. Es können jetzt Personen nur noch ausgewiesen werden, welche, bevor sie durch zweijährigen Aufenthalt einen Unterstützungswohnsitz erworben haben, verarmen. Dazu können nach den Landesgesetzen bestrafte Personen und nach dem Reichsgesetz Jesuiten Aufenthaltsbeschränkungen unterworfen werden.

     Durch die Novelle vom 12. März 1894 zum Reichsgesetz über den Unterstützungswohnsitz vom 6. Juni 1870 ist bestimmt worden, daß die Erwerbung und der Verlust des Unterstützungswohnsitzes nicht erst, wie früher bestimmt war, mit dem vollendeten 24. Lebensjahr, sondern schon mit dem zurückgelegten 18. Lebensjahr beginnt. Diese Aenderung ist zur Erleichterung namentlich des platten Landes erfolgt im Hinblick darauf, daß schon mit dem früheren Lebensjahr die Möglichkeit beginnt, sich selbständig außerhalb des Heimatortes zu ernähren. Auch ist durch die Novelle die Verpflichtung der Aufenthaltsgemeinde, Personen, welche gegen Lohn oder Gehalt in einem [S.130] Dienst= oder Arbeitsverhältnis stehen, auf Erfordern Kur und Verpflegung in Erkrankungsfällen zu gewähren, von 6 auf 13 Wochen verlängert und zugleich auf die landwirtschaftlichen Arbeiter ausgedehnt worden.

     Neuerlich ist unter den Konservativen eine Agitation entstanden, welche darauf ausgeht, im Interesse niedriger Löhne auf den Gütern die Freizügigkeit der Arbeiter beschränken. In dem Programm des "Bundes der Landwirte" finden diese Bestrebungen einen Ausdruck in der Forderung einer "anderweitigen Regelung der Gesetzgebung über die Freizügigkeit und den Kontraktbruch der Arbeiter", -- Auch die Deutschsoziale (Antisemiten=) Reformpartei hatte auf ihrem Parteitag in Nordhausen 1897 beschlossen, zu erörtern, ob die Freizügigkeit zwar nicht in Bezug auf den Abzug, wohl aber in Bezug auf die Niederlassung zu beschränken sei. -- Dies läuft nahezu auf dasselbe hinaus; denn die Arbeiter können nicht dort, wo die Lohnverhältnisse ungünstig sind, fortziehen, wenn es ihnen erschwert wird, an anderen Orten mit besseren Lohnverhältnissen ein Unterkommen zu finden.

     Der konservative Abgeordnete Frhr. v. Manteuffel trat im Reichstag im Dezember 1891 und im Herrenhause am 28. März 1892 für Beschränkung der Freizügigkeit ein unter den verschiedensten Vorwänden. So meint er, man müsse minorennen Personen, d. h. Arbeitern unter 21 Jahren, die Freizügigkeit beschränken. Sonst aber wird doch das Wandern und Reisen gerade für jugendliche Personen aus den verschiedensten Gründen empfohlen. Auch haben die betreffenden Eltern und Vormünder über das Verhalten der außerhalb Arbeit suchenden Minorennen noch nicht Klage erhoben. Auch die Forderung der Wiedereinführung von Einzugsgeldern wird geltend gemacht, angeblich um die Städte gegen den Zuzug Verarmter zu schützen. Aber seitens der Städte wird eine solche Forderung nicht erhoben. Thatsächlich haben die Städte während des Bestehens des Einzugsgeldes in den 50er Jahren in Preußen die Erfahrung gemacht, daß gerade das Einzugsgeld die Verarmung befördert, weil die letzten Barmittel der Zuziehenden oft angewendet werden, um das Einzugsgeld entrichten zu können. Hieran würde auch die Einrichtung eines Einzugsgeldes zum Zweck der Kautionsstellung nichts ändern. Außerdem verhindert das Einzugsgeld bei einem Ueberfluß von Arbeitskräften in einem bestimmten Geschäftszweige den Fortzug der Arbeiter an solche Plätze, wo dieselben dringender benötigt sind.

     Endlich weist man auf konservativer Seite auch hin auf die ungesunde Unterkunft, welche die Arbeiter in den Städten in Schlafstellen usw. finden. Man müsse die Erlaubnis des Fortzugs in einen andern Ort abhängig machen von dem Nachweis, daß der Fortziehende an seinem neuen Wohnort eine nach den Normen der Gesundheitslehre genügende Wohnung für sich und seine Familie finden werde. Dieser Gedanke mutet um so seltsamer an, als die Wohnungsverhältnisse der Arbeiter auf vielen großen Gütern weit schlechter sind, als in den Städten. Aus den Städten und Industriecentren selbst sind auch diese Vorschläge als ebenso überflüssig und praktisch unausführbar zurückgewiesen worden.

     Von konservativer Seite wird es auch so dargestellt, als ob der Zuzug vom platten Lande nach den Städten durch die Sucht nach Ungebundenheit und [S.131] Zerstreuung hervorgerufen werde, während in Wahrheit das industrielose platte Land nicht im Stande ist, den Zuwachs der Bevölkerung zu ernähren. Dort, wo wie in den östlichen Provinzen auf dem platten Lande die Bevölkerung sich thatsächlich vermindert, liegt dies auch an einer künstlichen Gebundenheit der Verhältnisse, die es dem Einzelnen erschwert, sich vorwärts zu bringen und namentlich Grundeigentum zu erwerben.

     Eine Beschränkung der Freizügigkeit im Innern Deutschlands würde diejenigen, welche sich jetzt den Städten und Industriecentren zuwenden, veranlassen, sich dem Auswanderungsstrom nach Amerika anzuschließen.

     In derselben Richtung wie die vorgedachten Bestrebungen auf konservativer Seite liegt auch die Agitation derselben gegen Ermäßigung der Personentarife auf den Eisenbahnen (siehe unter "Eisenbahnwesen").

     Zur Rechtfertigung solcher Bestrebungen wird auf eine angebliche Entvölkerung des platten Landes hingewiesen. Die Statistik erweist dies Alles als Märchen. In dem Jahrfünft 1880/85 wuchs die Bevölkerung der Landgemeinden und Gutsbezirke in Preußen allerdings nur um 192 566 Köpfe, im folgenden Jahrfünft dagegen um 450 025 und im letzten Jahrfünft (1890-1895) sogar um 800 202 Köpfe. Dagegen hat die Bevölkerung der Städte in dem Jahrfünft 1890/95 um rund 93 000 Köpfe weniger (1 092 226 statt 1 184 786) zugenommen als im vorhergehenden Jahrfünft.

     Das Statistische Bureau führt jene stärkere Bevölkerungszunahme in erster Reihe zurück auf die Verdichtung des Eisenbahnnetzes und eine ausgiebige Benutzung der auf dem Lande vorhandenen Wasserkräfte. Infolgedessen vermöge die Fabrikindustrie mit Vorteil ihre Betriebsstätten auf das platte Land zu verlegen.

     Die seitdem stattgehabte Veröffentlichung der Ergebnisse der Berufszählung vom 14. Juni 1895 hat ergeben, daß auch die Zahl der in der Landwirtschaft, Gärtnerei, Tierzucht Erwerbsthätigen im Hauptberuf in Preußen zugenommen hat, nämlich von 4 625 893 im Jahr 1892 auf 4 701 475 im Jahr 1895. Allerdings ist die landwirtschaftliche Bevölkerung nicht entfernt im Verhältnis von Bevölkerungszunahme im Industrie und Handel gewachsen. Aber diese Zunahme von Industrie und Handel ist das Kennzeichen jedes in einer höheren Kulturentwicklung sich befindenden Landes. Diese Zunahme ist die erste Voraussetzung eines steigenden Wohlstandes, einer vermehrten Bevölkerung und damit auch einer entsprechenden Wehrkraft. Grund und Boden sind begrenzt, die Bodenbearbeitung ist keiner schrankenlosen Ausdehnung fähig; zudem ermöglicht es die Ausbreitung des Maschinenwesens, auch in der Landwirtschaft mit einer geringeren Zahl menschlicher Arbeitskräfte eine größere Produktenmenge als vordem zu erzielen. Dies gilt namentlich für die Großbetriebe der Landwirtschaft und erklärt es, warum in den Gutsbezirken eine Bevölkerungsabnahme stattfindet. Die Dreschmaschinen gewähren nur für kurze Zeit Arbeitsgelegenheit, während die Handdrescher den Winter hindurch Arbeit fanden.

     Nach Regierungsbezirken hat die Bevölkerung in der Zählungsperiode 1890/95 nur abgenommen in Deutschland in Hohenzollern (964 Einw.), [S.132] in Niederbayern (8942 Einw.) und im würt. Jagstkreis (4475 Einw.). Eine Kreisstatistik liegt noch nicht vor, ebensowenig eine Statistik über die ländliche Bevölkerung in den einzelnen Regierungsbezirken und Kreisen. Von 1885 bis 1890 hatte dieselbe in 7 ostelbische Regierungsbezirken und 148 ostelbischen Kreisen abgenommen. Für die Periode 1890/95 dürfte dies nur in beschränktem Umfang der Fall gewesen sein.

     Die Gründe dieser Abnahme erklären sich für die östlichen Provinzen aus der Gebundenheit der ländlichen Verhältnisse, aus den Schwierigkeiten, welche dort die kleinen Landgemeinden und Gutsbezirke in öffentlich=rechtlicher Beziehung jeder Kolonisation entgegenstellen, aus dem Vorwiegen des Großgrundbesitzes und der künstlichen Befestigung eines Teils dieses Grundbesitzes, wodurch die Vermehrung des kleinen und mittleren Besitzes erschwert wird. Die Abnahme der Bevölkerung ist daher auch weit stärker gewesen in den Gutsbezirken als in den Landgemeinden (in Gutsbezirken durchweg das Doppelte im Verhältnis zur Bevölkerung). Die Provinzen Pommern, Posen, Westpreußen, Ostpreußen, Brandenburg, Schlesien, in welchen die Betriebe von 100 Hektar und mehr zwischen 42 und 65 % der landwirtschaftlichen bebauten Fläche ausmachen, zeigen die verhältnismäßig stärkste Abnahme der Bevölkerung. Auch die überseeische Auswanderung ist hier am stärksten.

     Andere Gründe sind zu suchen in der durch das Schutzzollsystem noch besonders gesteigerten Entwicklung der Industrie, welche durch neue industrielle Anlagen in den großen Städten und industriellen Bezirken des Westens die Heranziehung neuer Arbeitskräfte aus dem Osten zur Folge hat, während die landwirtschaftlichen Schutzzölle eine Vermehrung der Arbeiter nicht nach sich ziehen, denn die landwirtschaftlichen Zölle haben nur eine Steigerung der Grundrente zur Folge, ziehen aber nicht eine Vermehrung der Produktion und der Verwendung von Arbeitskräften nach sich.