Politisches
ABC=Buch
9. Auflage, 1898
Genossenschaften. [S.132]
Genossenschaften nennt man Gesellschaften für Erwerbs= und
Wirtschaftszwecke, welche nicht auf eine bestimmte Zahl von Mitgliedern
und nicht auf ein bestimmtes Genossenschaftskapital beschränkt sind,
sondern bei einer größeren Mitgliederzahl den Eintritt und Austritt
der einzelnen Mitglieder zulassen, ohne dadurch in ihrem rechtlichen Bestande
berührt zu werden. Die Genossenschaften unterscheiden sich dadurch
einerseits von den Aktiengesellschaften und andererseits von den Sozietäten,
den offenen Handelsgesellschaften und Kommanditgesellschaften.
Es ist das hervorragende
Verdienst des 1881 verstorbenen Abg. Schulze=Delitzsch,
für die Vereinigung zu solchen Gesellschaften zuerst Muster und Beispiele
geschaffen zu haben. Schulze=Delitzsch gründete zuerst 1849 in seinem
Geburtsort Delitzsch zur Hebung insbesondere des Handwerkerstandes Kreditvereine,
Rohstoff= und Konsumvereine. Die Zahl der Genossenschaften vermehrte sich
sehr rasch mit der Verlautbarung der Erfolge. Doch erst im Jahre 1867 wurde
durch das preußische Genossenschaftsgesetz diesen Vereinigungen die
Möglichkeit gegeben, Rechtspersönlichkeit zu erlangen durch Eintragung
in ein gerichtliches Register. -- Durch die Reichsgründung ist alsdann
nach und nach den [S.133] Genossenschaften Rechtspersönlichkeit
gewährt worden, daß sie auf Solidarbürgschaft und unbeschränkte
Nachschußpflicht, auf beschränkter Haftpflicht oder unbeschränkter
Nachschußpflicht beruhen. Bei der letzteren ist ein Eingriff des
Gläubigers auf das einzelne Mitglied ausgeschlossen und kann die Befriedigung
der Gläubiger nur durch fortgesetztes Umlageverfahren erlangt werden.
Der Jahresbericht für
1896 von Dr. Hans Crüger über die auf Selbsthilfe gegründeten
Deutschen Erwerbs= und Wirtschaftsgenossenschaften beziffert die Zahl der
vorhandenen Genossenschaften auf 14 842; darunter sind 226 nicht eingetragene,
also außerhalb des Genossenschaftsgesetzes stehende Genossenschaften.
Was die Haftpflicht
der dem Genossenschaftsgesetz unterstellten Genossenschaften anbetrifft,
so sind auf unbeschränkter Haftpflicht 11 224, auf beschränkter
Haftpflicht 2870 und auf unbeschränkter Nachschußpflicht 122
Genossenschaften begründet.
Unter den Genossenschaften
sind 9417 Kreditvereine, 1469 Konsumvereine,
3360 landwirtschaftliche Genossenschaften;
unter den letzteren sind 1128 Rohstoffgenossenschaften, 277 Werkgenossenschaften,
45 Magazingenossenschaften, 1765 Produktivgenossenschaften; unter den letzteren
wiederum 1650 Molkerei= und Käsereigenossenschaften. Die Zahl der
gewerblichen Genossenschaften in den einzelnen
Gewerbszweigen beträgt nur 329; dazu kommen noch 165 Bau= und 207
sonstige Genossenschaften.
Bei den Kreditvereinen
unterscheidet man das System Schulze=Delitzsch
und das System Raiffeisen. (Bürgermeister
Raiffeisen, gestorben 1888 in Flammersfeld, hatte zuerst Hilfsvereine an
seinem Wohnort ins Leben gerufen. Diesen verwandelte er 1864 in einen Darlehnskassenverein,
welcher nunmehr mustergiltig wurde für viele ähnliche Kreditvereine.)
Das System Schulze=Delitzsch
beruht streng auf dem Grundsatz der Selbsthilfe
und der wirtschaftlichen Leistung und Gegenleistung.
Die Kreditvereine nach dem System Raiffeisen
haben mehr den Charakter von Wohlthätigkeitsvereinen oder gemeinnützigen
Einrichtungen, da sie auch Unterstützungen aus öffentlichen Mitteln
annehmen und unentgeltliche Geschäftsleistung und billige Darlehen
von Wohlthätern zu erhalten trachten. Die Raiffeisen'schen Darlehnsvereine
sind nur für Landwirte bestimmt; sie geben bis zu 10 Jahren Kredit
(mit dem Vorbehalt vierwöchentlicher Kündigung in außerordentlichen
Fällen), obwohl sie Gelder mit nur 4 Monaten Frist dazu aufnehmen.
In den Schulze'schen Vereinen wird die den
Mitgliedern gewährte Kreditfrist in strenger Uebereinstimmung gehalten
mit der Kreditfrist für die vom Verein aufgenommenen Gelder.
Der Wohlthätigkeitscharakter
der Raiffeisen'schen Genossenschaften und
die Beschränkung auf einen einzelnen Berufskreis und Ort zieht ihrer
Wirksamkeit engere Grenzen. Die Zahl der Kreditgenossenschaften nach Raiffeisen
ist größer als diejenige nach Schulze=Delitzsch; dafür
sind aber die Leistungen der einzelnen Schulze=Delitzschen Vereine desto
größer. Der Statistiker Dr. Hirschberg hat in einer Privatarbeit
die Zahl der Genossenschafter in den Kreditvereinen auf im ganzen 1 430
000 veranschlagt, von denen 951 000 auf die Schulze=Delitzschen Genossenschaften
entfallen. Unter diesen 951 000 Per=[S.134]=sonen
sind rund 304 000 Landwirte, ein Beweis, in wie hohem Maße gerade
diese allgemeinen Kreditvereine, welche sich nicht auf eine besondere Berufsklasse
beschränken, auch den Interessen der Landwirtschaft entsprechen.
Die 1055 Kreditvereine,
über welche der Jahresbericht der Genossenschaften nach Schulze=Delitzsch
im Einzelnen Rechnung ablegt, zählen 527765 Mitglieder und haben bei
einem eigenen Vermögen von 130 Millionen Mark im Jahre 1896 für
1674 Millionen Mark Kredit gewährt.
Die Kreditgenossenschaften
nach Schulze=Delitzsch sind nicht
für einzelne Berufszweige wie Landwirte oder Handwerker
bestimmt -- in der richtigen Erkenntnis, daß in den einzelnen Berufskreisen
Angebot und Nachfrage von Kredit zeitlich auseinander fallen, während
in allgemeinen Kreditvereinen die Ausgleichung von Angebot und Nachfrage
sich gleichzeitig vollzieht. Gleichwohl suchen neuerlich die
Behörden ganz besonders auf Bildung von Kreditvereinen
einerseits besonders für die Landwirte nach Raiffeisen, andererseits
besonders für die Handwerker hinzuwirken, insbesondere auch durch
Wanderredner, welche aus staatlichen Mitteln unterhalten werden. Auf diese
Weise entstehen vielfach Kreditvereine als Scheingenossenschaften, ohne
irgendwelche nennenswerte genossenschaftliche Thätigkeit zu entfalten,
wenn nicht ihre Auflösung schon in kurzer Zeit erfolgt. So sind im
Jahre 1896 62 ländliche Darlehnskassenvereine in Liquidation getreten,
von denen 40 erst in den letzten zwei Jahren errichtet worden waren. Bei
mehreren findet sich sogar die Bemerkung in der Liquidationsanzeige des
"Reichsanz.", daß die Auflösung erfolgt sei, ohne daß
der Geschäftsbetrieb eröffnet worden war.
Die Haltung der Regierungen
gegenüber den Genossenschaften ist eine durchaus widerspruchsvolle.
Auf der einen Seite suchen sie die allgemeinen Konsumvereine
durch die Gesetzgebung und durch Besteuerung zu beschränken und im
Verhältnis zu den gewerbsmäßigen Händlern zu benachteiligen.
Auf der anderen Seite werden umgekehrt alle landwirtschaftlichen Genossenschaften
bevorzugt im Verhältnis zum Handel. So insbesondere auch die Genossenschaften
für die Errichtung und Verwaltung von Kornhäusern.
Durch die neuere Gesetzgebung
ist den Konsumvereinen untersagt, an Nichtmitglieder
zu verkaufen, und ist die Uebertretung dieser Bestimmung durch die Gewerbenovelle
vom 6. August 1896 noch besonders unter Strafe gestellt worden. Der praktische
Erfolg des Gesetzes ist nach dem oben erwähnten Jahresbericht entgegengesetzt
den Erwartungen, die die Gegner an dasselbe knüpften. Das Gesetz hat
nicht zu einer Einschränkung des Geschäftsbetriebes der Konsumvereine
geführt, sondern zum Teil zu einer großen Ausbreitung, indem
die Mitgliederzahl sich vielfach stark vermehrt hat. Nicht zum wenigsten
ist dies auf die lebhafte Agitation gegen die Konsumvereine zurückführen,
durch die das Publikum auf diese Genossenschaften aufmerksam gemacht worden
ist. So hat thatsächlich das Gesetz den Konsumvereinen als Reklame
gedient. -- Ebenfalls durch die Gewerbenovelle vom 6. August 1896 sind
die Konsumvereine, auch soweit sie sich auf den Verkauf an Mitglieder beschränken,
in Bezug auf Spirituosen der Konzessionspflicht
unterworfen worden.
Im Jahre 1896 ist in
Preußen eine neue Staatsbank nach Art
der [S.135] Seehandlung unter dem Titel einer Centralgenossenschaftskasse
begründet und zuerst mit 5, dann mit 20 Millionen Mark dotirt worden
zu dem Zwecke, zinsbare Darlehen zu gewähren an die Vereinigungen
und Verbandskassen von Genossenschaften,
sowie an die Landschaften und ritterschaftlichen Darlehnskassen und an
die von den Provinzen errichteten gleichartigen Institute. Die neue Bank
soll also nicht Kredit gewähren an einzelne Privatpersonen und an
einzelne Genossenschaften. -- Die Freisinnige Volkspartei
stimmte gegen diese Gründung, weil sie
einerseits ein Bedürfnis in der gedachten Richtung nicht anzuerkennen
vermochte, andererseits eine solche Bank alle Nachteile und Gefahren einer
Staatsbank in konstituioneller und wirtschaftlicher Beziehung mit sich
bringt. Auch ist eine solche Staatsbank geeignet, das Prinzip der Selbsthilfe,
welche die Grundlage und das Lebenselement der Genossenschaften bildet,
zu gefährden.
Der Verband
der Genossenschaften nach Schulze=Delitzsch hat auf seinem Verbandstage
in einer Resolution erklärt, es können nicht
empfohlen werden, Centralkassen zu dem Zweck zu errichten,
um mit der preußischen Centralgenossenschaftskasse in Verbindung
treten zu können. Der Verband der Schulzeschen Genossenschaften hält
also getreu nach seinem Altmeister Schulze fest an den Grundsätzen
der Selbsthilfe, denen er seine, die anderen Verbände überragende
Bedeutung verdankt.
Die Genossenschaftsbildung
ist keineswegs ein unfehlbares Mittel für die Beseitigung aller wirtschaftlichen
Schäden; an sich ist die Arbeitsteilung im Wirtschaftsleben vielfach
das vorteilhaftere. Der Zwischenhandel und das Vermittlungsgeschäft
sind ein natürliches Glied in der Arbeitsteilung, indem sie Käufern
und Verkäufern, Kreditnehmern und Kreditgebern Mühe und Arbeit
abnehmen. Aber nicht überall haben Handel und Gewerbe eine für
diese wirtschaftliche Rolle ausreichende Entwickelung genommen. Die Kreditgenossenschaften
haben dem Mangel eines für den Kreditbedarf der kleineren Leute geeigneten
Standes solider und vertrauenswürdiger Bankiers abgeholfen. Die Bildung
der Konsumvereine erklärt sich daraus,
daß der Detailhandel mit Kolonialwaren durch unwirtschaftliches
Kreditgeben in vielen Gegenden eine falsche Richtung eingeschlagen
hat und an anderen Orten infolge seiner Zersplitterung nicht im Stande
gewesen ist, derart den Absatz zu konzentriren, wie es im Interesse der
wohlfeileren Lebensmittelversorgung wünschenswert ist. Ebenso hat
auf dem platten Lande sich die geschäftliche Vermittlung in mancher
Richtung nicht dem Bedürfnis der Landwirte entsprechend entwickelt.
Die Konsumenten aller Art haben ein natürliches
Recht darauf, sich in denjenigen Formen für ihre Bedürfnisse
zu versorgen, welche sie als die für sich vorteilhaftesten erachten.
Nur die Praxis kann die Probe darauf geben, ob und in wie weit die Ausdehnung
der Genossenschaftsbildung auf einen neuen Geschäftszweig vorteilhaft
ist. Der Staat hat nicht die Aufgabe, in die Konkurrenz
von Genossenschaften und Gewerbetreibenden zu Gunsten der einen oder anderen
Seite einzuschreiten. Die jetzt so vielfach empfohlene Staatshilfe
für Genossenschaften ist nur geeignet, die Genossenschaftsbildung
zu übertragen auf Verhältnisse und auf Personen, für welche
dieselbe nicht geeignet ist. Der dann [S.136] unausbleibliche
Mißerfolg trägt zugleich eine Gefahr für das Ansehen der
gesamten Genossenschaftsbewegung in sich.
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