Politisches
ABC=Buch
9. Auflage, 1898
Gewerkvereine, Berufsvereine.
[S.145]
Gewerkvereine werden Vereine genannt,
in denen Arbeitnehmer desselben Berufs sich verbunden haben zur gemeinschaftlichen
Wahrnehmung ihrer Interessen als Arbeiter dieses Berufs. Auch werden solche
Vereine als "Fachvereine" bezeichnet.
Im Interesse sämtlicher
Berufsvereine, also nicht blos derjenigen der Arbeitnehmer,
sondern auch der Arbeitgeber, sowie aller Berufsklassen, also auch beispielsweise
derjenigen der Aerzte, Rechtsanwälte, Lehrer usw., ist im Reichstag
seit 1890 zuerst von freisinniger Seite, dann auch von Seiten der Centrumspartei
wiederholt ein Gesetzentwurf eingebracht und von der Mehrheit des Reichstag
angenommen worden, welcher beabsichtigt, "den Vereinigungen von nicht geschlossener
Mitgliederzahl, welche die Beförderung der Berufsinteressen und gegenseitige
Förderung ihrer Mitglieder bezwecken," Rechtspersönlichkeit zu
verschaffen nach dem Muster der eingetragenen Genossenschaften. Der Gesetzentwurf
schreibt die gerichtliche Eintragung des Statuts und die gerichtliche Anmeldung
der Vorstände dieser Vereine vor und trifft für diese Vereine
Normativbestimmungen. Die Vereine sollen durch diese Eintragung ohne weitere
Konzessionen Rechtspersönlichkeit erlangen und können unter ihrem
Namen Rechte erwerben, Verbindlichkeiten eingehen usw. -- Das neue Bürgerliche
Gesetzbuch hat zwar bestimmt, daß Vereine, deren Zweck
nicht auf einen wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb gerichtet ist, Rechtsfähigkeit
durch Eintragung in das Vereinsregister des zuständigen Amtsgerichts
erlangen können; auch sind für solche Vereine Rechtsnormen in
dem Bürgerlichen Gesetzbuch enthalten, aber zugleich ist der Verwaltungsbehörde
das Recht eingeräumt worden, gegen die Eintragung und damit gegen
die Erlangung der Rechtsfähigkeit Einspruch zu erheben, wenn der Verein
nach dem öffentlichen Vereinsrecht unerlaubt ist oder verboten werden
kann, oder wenn er einen politischen, sozialpolitischen
oder religiösen Zweck verfolgt. Ueber den Einspruch kann
im Wege des Verwaltungsstreitverfahrens oder, wo solches nicht besteht,
im Wege des Rekurses nach der Gewerbeordnung entschieden werden. Auch kann
einem Vereine, der nach den Satzungen einen politischen, sozialpolitischen
oder religiösen Zweck nicht hat, die erlangte Rechtsfähigkeit
wieder entzogen werden, wenn er einen solchen Zweck verfolgt. Auf diese
Weise ist die Erlangung und Behauptung der Rechtsfähigkeit für
Berufs= und Gewerkvereine davon abhängig, ob die Verwaltungsgerichte
bezw. Verwaltungsbehörden solchen Berufsvereinen oder Gewerkvereinen
den erwähnten Charakter beimessen oder nicht. Eine gesicherte Rechtsgrundlage
der Berufsvereine dagegen würde es auch den Arbeitern er=[S.146]=möglichen,
nur Vertretung ihrer Interessen sich auf dauernder Grundlage unabhängig
von den Leidenschaften des Augenblicks im Falle eines Streiks, zu organisiren.
Erfahrungsgemäß tragen gerade solche dauernden Organisationen
die meisten Bürgschaften in sich gegen eine ungerechtfertigte Arbeitseinstellung,
weil letztere alsbals die ganze Vereinsorganisation und die Früchte
derselben in Frage stellt.
Was die Gewerkvereine,
d. h. Berufsvereine der Arbeitnehmer insbesondere
betrifft, so sind solche zuerst als Schöpfungen der Selbsthilfe gleich
den Erwerbs= und Wirtschaftsgenossenschaften nach Schulze=Delitzsch 1868
entstanden unter der Anregung von Dr. Max Hirsch und Franz Duncker. Dr.
Max Hirsch hatte auf einer Reise nach England kurz vorher die Trades=Unions
kennen gelernt. Am 1. April 1897 bestanden in dem Verbande, dem Dr. Max
Hirsch als Anwalt vorsteht, an 829 Orten 1578 Ortsvereine mit 76 000 Mitgliedern.
Die mit den Gewerkvereinen verbundenen Hilfskassen haben seit ihrem Bestehen
bis 1895 für 11 000 000 Mark Kranken= und Begräbnisgeld ausgezahlt.
Mit den Gewerkvereinen verbunden sind Einrichtungen für Rechtsschutz,
für Unterstützungen bei Reisen, Arbeitslosigkeit und anderen
Notfällen, für Bildungszwecke usw. Hierfür wurden bis 1895
2 850 000 Mk. Seit dem Bestehen der Gewerkvereine verausgabt. Dazu kommen
1 750 000 Mark für Invalidenunterstützung. Das Gesamtvermögen
betrug 1897 ca. 2 500 000 Mark. Die Ortsvereine der verschiedenen Berufe
bilden zusammen 18 Gewerkvereine. Die Gewerkvereine sind auch auf die Verbesserung
der Arbeitsbedingungen ihrer Mitglieder bedacht. Sie erachten aber den
Streik nur als das äußerste Mittel des Notfalles und befürworten
grundsätzlich die friedliche Einigung durch Einigungsämter und
Schiedsgerichte. Die Gewerkvereine schließen im Interesse des sozialen
Friedens Sozialdemokraten von ihrer Mitgliedschaft aus.
Die Sozialdemokratie
hat Fachvereine von Arbeitnehmern unter der Bezeichnung von Gewerkschaften
begründet. Nach einer Zusammenstellung des "Vorwärts" vom 29.
August 1897 zählte die Organisation der Verbände 1896 in 49 verschiedenen
Industriezweigen 322 896 Mitglieder, das sind 5,73 Prozent der in diesen
Berufsklassen Beschäftigten. Die Jahreseinnahme der Organisationen
wurde mit 3 563 878 Mk. Angegeben. Unter den Ausgaben sind u. A. angeführt
355 874 Mk. Für Verbandsorgane, 855 950 M. Streikunterstützung
im Beruf, 81 036 Mk. Streikunterstützung für andere Gewerkschaften,
310 000 Mk. Reiseunterstützungen, 243 072 Mk. Unterstützungen
für Arbeitslose, 430 038 Mk. Krankenunterstützungen. Die Verwaltungskosten
beliefen sich auf 292 003 Mk. An der Spitze dieser Organisation steht eine
Generalkommission.
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