Eugen Richter
1838-1906










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Politisches ABC=Buch
9. Auflage, 1898

 

Gewerkvereine, Berufsvereine. [S.145] Gewerkvereine werden Vereine genannt, in denen Arbeitnehmer desselben Berufs sich verbunden haben zur gemeinschaftlichen Wahrnehmung ihrer Interessen als Arbeiter dieses Berufs. Auch werden solche Vereine als "Fachvereine" bezeichnet.
 
     Im Interesse sämtlicher Berufsvereine, also nicht blos derjenigen der Arbeitnehmer, sondern auch der Arbeitgeber, sowie aller Berufsklassen, also auch beispielsweise derjenigen der Aerzte, Rechtsanwälte, Lehrer usw., ist im Reichstag seit 1890 zuerst von freisinniger Seite, dann auch von Seiten der Centrumspartei wiederholt ein Gesetzentwurf eingebracht und von der Mehrheit des Reichstag angenommen worden, welcher beabsichtigt, "den Vereinigungen von nicht geschlossener Mitgliederzahl, welche die Beförderung der Berufsinteressen und gegenseitige Förderung ihrer Mitglieder bezwecken," Rechtspersönlichkeit zu verschaffen nach dem Muster der eingetragenen Genossenschaften. Der Gesetzentwurf schreibt die gerichtliche Eintragung des Statuts und die gerichtliche Anmeldung der Vorstände dieser Vereine vor und trifft für diese Vereine Normativbestimmungen. Die Vereine sollen durch diese Eintragung ohne weitere Konzessionen Rechtspersönlichkeit erlangen und können unter ihrem Namen Rechte erwerben, Verbindlichkeiten eingehen usw. -- Das neue Bürgerliche Gesetzbuch hat zwar bestimmt, daß Vereine, deren Zweck nicht auf einen wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb gerichtet ist, Rechtsfähigkeit durch Eintragung in das Vereinsregister des zuständigen Amtsgerichts erlangen können; auch sind für solche Vereine Rechtsnormen in dem Bürgerlichen Gesetzbuch enthalten, aber zugleich ist der Verwaltungsbehörde das Recht eingeräumt worden, gegen die Eintragung und damit gegen die Erlangung der Rechtsfähigkeit Einspruch zu erheben, wenn der Verein nach dem öffentlichen Vereinsrecht unerlaubt ist oder verboten werden kann, oder wenn er einen politischen, sozialpolitischen oder religiösen Zweck verfolgt. Ueber den Einspruch kann im Wege des Verwaltungsstreitverfahrens oder, wo solches nicht besteht, im Wege des Rekurses nach der Gewerbeordnung entschieden werden. Auch kann einem Vereine, der nach den Satzungen einen politischen, sozialpolitischen oder religiösen Zweck nicht hat, die erlangte Rechtsfähigkeit wieder entzogen werden, wenn er einen solchen Zweck verfolgt. Auf diese Weise ist die Erlangung und Behauptung der Rechtsfähigkeit für Berufs= und Gewerkvereine davon abhängig, ob die Verwaltungsgerichte bezw. Verwaltungsbehörden solchen Berufsvereinen oder Gewerkvereinen den erwähnten Charakter beimessen oder nicht. Eine gesicherte Rechtsgrundlage der Berufsvereine dagegen würde es auch den Arbeitern er=[S.146]=möglichen, nur Vertretung ihrer Interessen sich auf dauernder Grundlage unabhängig von den Leidenschaften des Augenblicks im Falle eines Streiks, zu organisiren. Erfahrungsgemäß tragen gerade solche dauernden Organisationen die meisten Bürgschaften in sich gegen eine ungerechtfertigte Arbeitseinstellung, weil letztere alsbals die ganze Vereinsorganisation und die Früchte derselben in Frage stellt.
 
     Was die Gewerkvereine, d. h. Berufsvereine der Arbeitnehmer insbesondere betrifft, so sind solche zuerst als Schöpfungen der Selbsthilfe gleich den Erwerbs= und Wirtschaftsgenossenschaften nach Schulze=Delitzsch 1868 entstanden unter der Anregung von Dr. Max Hirsch und Franz Duncker. Dr. Max Hirsch hatte auf einer Reise nach England kurz vorher die Trades=Unions kennen gelernt. Am 1. April 1897 bestanden in dem Verbande, dem Dr. Max Hirsch als Anwalt vorsteht, an 829 Orten 1578 Ortsvereine mit 76 000 Mitgliedern. Die mit den Gewerkvereinen verbundenen Hilfskassen haben seit ihrem Bestehen bis 1895 für 11 000 000 Mark Kranken= und Begräbnisgeld ausgezahlt. Mit den Gewerkvereinen verbunden sind Einrichtungen für Rechtsschutz, für Unterstützungen bei Reisen, Arbeitslosigkeit und anderen Notfällen, für Bildungszwecke usw. Hierfür wurden bis 1895 2 850 000 Mk. Seit dem Bestehen der Gewerkvereine verausgabt. Dazu kommen 1 750 000 Mark für Invalidenunterstützung. Das Gesamtvermögen betrug 1897 ca. 2 500 000 Mark. Die Ortsvereine der verschiedenen Berufe bilden zusammen 18 Gewerkvereine. Die Gewerkvereine sind auch auf die Verbesserung der Arbeitsbedingungen ihrer Mitglieder bedacht. Sie erachten aber den Streik nur als das äußerste Mittel des Notfalles und befürworten grundsätzlich die friedliche Einigung durch Einigungsämter und Schiedsgerichte. Die Gewerkvereine schließen im Interesse des sozialen Friedens Sozialdemokraten von ihrer Mitgliedschaft aus.
 
     Die Sozialdemokratie hat Fachvereine von Arbeitnehmern unter der Bezeichnung von Gewerkschaften begründet. Nach einer Zusammenstellung des "Vorwärts" vom 29. August 1897 zählte die Organisation der Verbände 1896 in 49 verschiedenen Industriezweigen 322 896 Mitglieder, das sind 5,73 Prozent der in diesen Berufsklassen Beschäftigten. Die Jahreseinnahme der Organisationen wurde mit 3 563 878 Mk. Angegeben. Unter den Ausgaben sind u. A. angeführt 355 874 Mk. Für Verbandsorgane, 855 950 M. Streikunterstützung im Beruf, 81 036 Mk. Streikunterstützung für andere Gewerkschaften, 310 000 Mk. Reiseunterstützungen, 243 072 Mk. Unterstützungen für Arbeitslose, 430 038 Mk. Krankenunterstützungen. Die Verwaltungskosten beliefen sich auf 292 003 Mk. An der Spitze dieser Organisation steht eine Generalkommission.