Politisches
ABC=Buch
9. Auflage, 1898
Koalitionsrecht, Koalitionsfreiheit.[S.187]
Darunter versteht man die Freiheit der Arbeitnehmer und Arbeitgeber,
sich zum Behufe der Erlangung günstiger Lohn= und Arbeitsbedingungen
zu verabreden, sowie auch behufs Durchführung der verabredeten Bedingungen
gemeinsam die Arbeit einzustellen bezw. die Arbeiter zu entlassen. -- Eine
gesetzliche Koalitionsfreiheit datirt in Deutschland allgemein erst seit
1868. Die deutsche Gewerbeordnung von 1869
handelt über das Koalitionsrecht in den §§ 152 und 153.
Dieselben lauten wie folgt:
§
152. Alle Verbote und Strafbestimmungen gegen Gewerbetreibende, gewerbliche
Gehilfen, Gesellen oder Fabrikarbeiter wegen Verabredungen und Vereinigungen
zum Behufe der Erlangung günstiger Lohn= und Arbeitsbedingungen, insbesondere
mittelst Einstellung der Arbeit oder Entlassung der Arbeiter werden aufgehoben.
Jedem Teilnehmer steht der Rücktritt von solchen Vereinigungen und
Verabredungen frei, und findet aus letzterem weder Klage noch Einrede statt.
§
153. Wer Andere durch Anwendung körperlichen Zwanges, durch Drohungen,
durch Ehrverletzungen und durch Verrufserklärungen bestimmt oder zu
bestimmen versucht, an solchen Verabredungen (§ 152) teilzunehmen
oder ihnen Folge zu leisten, oder Andere durch gleiche Mittel hindert oder
zu hindern versucht, von solchen Verabredungen zurückzutreten, wird
mit Gefängnis bis zu 3 Monaten bestraft, sofern nach dem Allgemeine
Strafgesetz nicht eine härtere Strafe eintritt. [S.188]
Die Koalitionsfreiheit nach
Maßgabe dieser Bestimmungen gilt nur für die gewerblichen Arbeiter.
Für die ländlichen Arbeiter besteht
seit 1854 im Bereich der östlichen Provinzen Preußens ein Gesetz,
welches sowohl den Kontraktbruch als die Verleitung zu Arbeitseinstellungen
bestraft. Gleichwohl wird gerade über die ländlichen Arbeiterverhältnisse
im Osten seitens der dortigen Arbeitgeber am meisten Klage geführt.
Man hört weniger von Arbeitseinstellungen unzufriedener Arbeiter,
desto mehr aber von heimlichem Fortzug in andere Gegenden oder von Auswanderungen
über das Meer.
Zum Programm der Freisinnigen
Volkspartei gehört auch Sicherung und Verallgemeinerung
der Koalitionsfreiheit. Demgemäß ist die Partei auch bei der
Beratung der Novelle zur Gewerbeordnung im Jahre 1891 (siehe "Arbeiterschutzgesetzgebung")
eingetreten gegen die darin beabsichtigte Verschärfung der Strafbestimmungen
des § 153 der Gewerbeordnung. Es war allgemein die Einführung
eines Strafminimums von einem Monat, die Beseitigung des Strafmaximums
und eine besonders harte Bestrafung im Falle des gewohnheitsmäßigen
Vergehens vorgesehen. Außerdem sollte die Strafbarkeit auch ausgedehnt
werden auf solche Fälle, wo die Nötigung gegen die Arbeitnehmer
und Arbeitgeber vorkommt, ohne daß es sich dabei um Einstellung der
Arbeit oder um Entlassung von Arbeitern handelt.
Die Sozialdemokratie
möchte es so darstellen, als ob die Anerkennung des Koalitionsrechts
gleichbedeutend sei mit der Lobpreisung jedes Streiks. Aber man
kann ein Recht sachgemäß gebrauchen und kann auch das Recht
mißbrauchen. Bei der sozialdemokratischen Agitation wird Abgeordneten
der Freisinnigen Volkspartei u. a. auch dem Abg. Richter der Vorwurf gemacht,
daß er in Berlin den Buchdruckerstreik, den Brauerstreik, den Streik
der Konfektionsarbeiter, der Cottbuser Textilarbeiter und den Streik der
Hutmacher bekämpft habe. Zu dem Streik der Cottbuser Textilindustrie,
der Konfektionsarbeiter und der Hutmacher hat Abg. Richter sich weder schriftlich
noch mündlich irgendwie geäußert. Der vor mehreren Jahren
stattgehabte Buchdruckerstreik war für die Buchdrucker überaus
nachteilig; er war eine maßlose Unklugheit seiner sozialdemokratischen
Veranstalter, welche der Gesamtheit der Buchdrucker und auch vielen Einzelnen
großen Schaden zugefügt hat. Gerade diejenigen, welche damals
vor dem Streik warnten, haben sich, wie der nachherige Mißerfolg
erwies, als die wahren Freunde der Arbeiter erwiesen. Ebenso war der Brauer=Streik
durchaus ungerechtfertigt und hat kein für die Anstifter rühmliches
Ende gefunden.
Ob ein Streik gerechtfertigt
ist oder nicht, geht zunächst die beiderseitig Beteiligten allein
an. Politische Parteien haben nur Veranlassung, sich damit zu befassen,
wenn auf irgend einer Seite Rechtsverletzungen vorkommen oder größere
öffentliche Interessen dadurch in Mitleidenschaft gezogen werden.
Die sozialdemokratische Presse aber ergreift grundsätzlich bei jedem
Streik der Arbeitnehmer nach dem Ausbruch eines solchen für die Letzteren
Partei, wenn sie auch noch sehr von dem Ungerechtfertigten oder Vergeblichen
eines solchen Streiks überzeugt ist.
Als ein taugliches Mittel
zur Verminderung der Arbeitseinstellungen sind durch das Gewerbegerichtsgesetz
von 1890 die Einigungsämter eingeführt [S.189]
worden. Das Einigungsamt besteht aus dem Vorsitzenden des Gewerbegerichts
und aus mindestens je 2 Arbeitnehmern und Arbeitgebern, welche an dem betreffenden
Streik nicht beteiligt sind und von dem Vorsitzenden ausgewählt werden.
-- Das Einigungsamt kann nur in Wirksamkeit treten, wenn beide streikenden
Teile sich damit einverstanden erklären. Es hat nicht das Recht und
die Macht, seinen Schiedsspruch durch Zwang zu verwirklichen; denn es kann
weder ein Arbeitnehmer gezwungen werden, unter den vom Einigungsamt festgelegten
Bedingungen Arbeit zu nehmen, noch kann ein Arbeitgeber angehalten werden,
nach Maßgabe der vom Einigungsamt festgesetzten Normen Arbeiter zu
beschäftigen.
Im Jahre 1896
hat eine Anrufung der Einigungsämter in ganz Deutschland in 42 Fällen
stattgefunden. Nach der Berechnung der Generalkommission der sozialdemokratischen
Gewerkschaften Deutschlands fanden aber im Jahre 1896 483 Streiks statt.
Es entfiel also auf je 10 Streiks noch nicht eine Anrufung des Einigungsamts.
Was die erwähnten 42 Fälle betrifft, so ist in 25 Fällen
eine Einigung die Folge der Einwirkung des Einigungsamts gewesen, und zwar
in 18 Fällen durch Vereinbarung, in 3 Fällen durch Unterwerfung
unter die schiedsrichterlichen Sprüche und in 4 Fällen durch
außeramtliche Thätigkeit des Vorsitzenden. Den 3 Fällen,
in denen sich die Parteien den Schiedssprüchen unterwarfen, standen
11 Fälle gegenüber, in denen die Unterwerfung nicht stattfand.
4 Mal wurden die Schiedssprüche von den Unternehmern, 6 Mal von den
Arbeitern und 1 Mal von beiden Parteien abgelehnt.
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