Eugen Richter
1838-1906









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Politisches ABC=Buch
9. Auflage, 1898

 
 

Koalitionsrecht, Koalitionsfreiheit.[S.187]   Darunter versteht man die Freiheit der Arbeitnehmer und Arbeitgeber, sich zum Behufe der Erlangung günstiger Lohn= und Arbeitsbedingungen zu verabreden, sowie auch behufs Durchführung der verabredeten Bedingungen gemeinsam die Arbeit einzustellen bezw. die Arbeiter zu entlassen. -- Eine gesetzliche Koalitionsfreiheit datirt in Deutschland allgemein erst seit 1868. Die deutsche Gewerbeordnung von 1869 handelt über das Koalitionsrecht in den §§ 152 und 153. Dieselben lauten wie folgt:

     § 152. Alle Verbote und Strafbestimmungen gegen Gewerbetreibende, gewerbliche Gehilfen, Gesellen oder Fabrikarbeiter wegen Verabredungen und Vereinigungen zum Behufe der Erlangung günstiger Lohn= und Arbeitsbedingungen, insbesondere mittelst Einstellung der Arbeit oder Entlassung der Arbeiter werden aufgehoben. Jedem Teilnehmer steht der Rücktritt von solchen Vereinigungen und Verabredungen frei, und findet aus letzterem weder Klage noch Einrede statt.
 
     § 153. Wer Andere durch Anwendung körperlichen Zwanges, durch Drohungen, durch Ehrverletzungen und durch Verrufserklärungen bestimmt oder zu bestimmen versucht, an solchen Verabredungen (§ 152) teilzunehmen oder ihnen Folge zu leisten, oder Andere durch gleiche Mittel hindert oder zu hindern versucht, von solchen Verabredungen zurückzutreten, wird mit Gefängnis bis zu 3 Monaten bestraft, sofern nach dem Allgemeine Strafgesetz nicht eine härtere Strafe eintritt. [S.188] 
     Die Koalitionsfreiheit nach Maßgabe dieser Bestimmungen gilt nur für die gewerblichen Arbeiter. Für die ländlichen Arbeiter besteht seit 1854 im Bereich der östlichen Provinzen Preußens ein Gesetz, welches sowohl den Kontraktbruch als die Verleitung zu Arbeitseinstellungen bestraft. Gleichwohl wird gerade über die ländlichen Arbeiterverhältnisse im Osten seitens der dortigen Arbeitgeber am meisten Klage geführt. Man hört weniger von Arbeitseinstellungen unzufriedener Arbeiter, desto mehr aber von heimlichem Fortzug in andere Gegenden oder von Auswanderungen über das Meer.
 
     Zum Programm der Freisinnigen Volkspartei gehört auch Sicherung und Verallgemeinerung der Koalitionsfreiheit. Demgemäß ist die Partei auch bei der Beratung der Novelle zur Gewerbeordnung im Jahre 1891 (siehe "Arbeiterschutzgesetzgebung") eingetreten gegen die darin beabsichtigte Verschärfung der Strafbestimmungen des § 153 der Gewerbeordnung. Es war allgemein die Einführung eines Strafminimums von einem Monat, die Beseitigung des Strafmaximums und eine besonders harte Bestrafung im Falle des gewohnheitsmäßigen Vergehens vorgesehen. Außerdem sollte die Strafbarkeit auch ausgedehnt werden auf solche Fälle, wo die Nötigung gegen die Arbeitnehmer und Arbeitgeber vorkommt, ohne daß es sich dabei um Einstellung der Arbeit oder um Entlassung von Arbeitern handelt.
 
     Die Sozialdemokratie möchte es so darstellen, als ob die Anerkennung des Koalitionsrechts gleichbedeutend sei mit der Lobpreisung jedes Streiks. Aber man kann ein Recht sachgemäß gebrauchen und kann auch das Recht mißbrauchen. Bei der sozialdemokratischen Agitation wird Abgeordneten der Freisinnigen Volkspartei u. a. auch dem Abg. Richter der Vorwurf gemacht, daß er in Berlin den Buchdruckerstreik, den Brauerstreik, den Streik der Konfektionsarbeiter, der Cottbuser Textilarbeiter und den Streik der Hutmacher bekämpft habe. Zu dem Streik der Cottbuser Textilindustrie, der Konfektionsarbeiter und der Hutmacher hat Abg. Richter sich weder schriftlich noch mündlich irgendwie geäußert. Der vor mehreren Jahren stattgehabte Buchdruckerstreik war für die Buchdrucker überaus nachteilig; er war eine maßlose Unklugheit seiner sozialdemokratischen Veranstalter, welche der Gesamtheit der Buchdrucker und auch vielen Einzelnen großen Schaden zugefügt hat. Gerade diejenigen, welche damals vor dem Streik warnten, haben sich, wie der nachherige Mißerfolg erwies, als die wahren Freunde der Arbeiter erwiesen. Ebenso war der Brauer=Streik durchaus ungerechtfertigt und hat kein für die Anstifter rühmliches Ende gefunden.
 
     Ob ein Streik gerechtfertigt ist oder nicht, geht zunächst die beiderseitig Beteiligten allein an. Politische Parteien haben nur Veranlassung, sich damit zu befassen, wenn auf irgend einer Seite Rechtsverletzungen vorkommen oder größere öffentliche Interessen dadurch in Mitleidenschaft gezogen werden. Die sozialdemokratische Presse aber ergreift grundsätzlich bei jedem Streik der Arbeitnehmer nach dem Ausbruch eines solchen für die Letzteren Partei, wenn sie auch noch sehr von dem Ungerechtfertigten oder Vergeblichen eines solchen Streiks überzeugt ist.
 
     Als ein taugliches Mittel zur Verminderung der Arbeitseinstellungen sind durch das Gewerbegerichtsgesetz von 1890 die Einigungsämter eingeführt [S.189] worden. Das Einigungsamt besteht aus dem Vorsitzenden des Gewerbegerichts und aus mindestens je 2 Arbeitnehmern und Arbeitgebern, welche an dem betreffenden Streik nicht beteiligt sind und von dem Vorsitzenden ausgewählt werden. -- Das Einigungsamt kann nur in Wirksamkeit treten, wenn beide streikenden Teile sich damit einverstanden erklären. Es hat nicht das Recht und die Macht, seinen Schiedsspruch durch Zwang zu verwirklichen; denn es kann weder ein Arbeitnehmer gezwungen werden, unter den vom Einigungsamt festgelegten Bedingungen Arbeit zu nehmen, noch kann ein Arbeitgeber angehalten werden, nach Maßgabe der vom Einigungsamt festgesetzten Normen Arbeiter zu beschäftigen.
 
     Im Jahre 1896 hat eine Anrufung der Einigungsämter in ganz Deutschland in 42 Fällen stattgefunden. Nach der Berechnung der Generalkommission der sozialdemokratischen Gewerkschaften Deutschlands fanden aber im Jahre 1896 483 Streiks statt. Es entfiel also auf je 10 Streiks noch nicht eine Anrufung des Einigungsamts. Was die erwähnten 42 Fälle betrifft, so ist in 25 Fällen eine Einigung die Folge der Einwirkung des Einigungsamts gewesen, und zwar in 18 Fällen durch Vereinbarung, in 3 Fällen durch Unterwerfung unter die schiedsrichterlichen Sprüche und in 4 Fällen durch außeramtliche Thätigkeit des Vorsitzenden. Den 3 Fällen, in denen sich die Parteien den Schiedssprüchen unterwarfen, standen 11 Fälle gegenüber, in denen die Unterwerfung nicht stattfand. 4 Mal wurden die Schiedssprüche von den Unternehmern, 6 Mal von den Arbeitern und 1 Mal von beiden Parteien abgelehnt.