Politisches
ABC=Buch
9. Auflage, 1898
Krankenversicherung. [S.211]
Nach Maßgabe der Reichsgesetze von 1883, 1885, 1892 besteht
Versicherungszwang in Betreff der Krankheits= und Beerdigungskosten für
alle gewerblichen Arbeiter, Arbeiter im Transportgewerbe, im Reichs= und
Staatsbetriebe, für Gehilfen der Anwälte, Notare, Gerichtsvollzieher,
für Gehilfen und Lehrlinge im Handelsgewerbe (soweit dieselben auf
das Recht auf sechswöchige Fortzahlung des Lohnes im Krankheitsfalle
verzichtet haben), für Arbeiter im Binnenschiffahrtsbetrieb und Baggerbetrieb.
Durch Statut
der Kommunalverbände kann der Versicherungszwang auch ausgedehnt werden
auf landwirtschaftliche Arbeiter und Forstarbeiter,
sowie auf Arbeiter der Hausindustrie; auch
sonst ist noch mehrfach eine weitere Ausdehnung der Versicherungspflicht
auf kommunalstatutarischem Wege oder auf dem Wege der Verfügung des
Reichskanzlers oder der Centralbehörde zugelassen.
In den Grenzen dieses
Versicherungszwangs waren im Durchschnitt des Jahres 1895 überhaupt
7 525 524 Personen in 21 992 Krankenkassen versicherungspflichtig. Neben
den (6770) Fabrik= und Betriebskrankenkassen und den (545) Innungskrankenkassen
bestehen die von Obrigkeits wegen eingerichteten (4475) Ortskrankenkassen,
die (8449) Gemeindeversicherungen, welchen alle diejenigen angehören,
die nicht den vorbezeichneten Kasssen oder den (1388) eingeschriebenen
freien Hilfskassen oder den (102) Baukassen oder den (263) landrechtlichen
Hilfskassen sich angeschlossen haben.
Die Arbeitgeber sind
abgesehen von den eingeschriebenen Hilfskassen und den landrechtlichen
Kassen verpflichtet, ein Drittel der durch Beiträge aufzu=[S.212]=bringenden
Gelder beizusteuern. Die Beiträge der Arbeitgeber und Arbeitnehmer
für diese Krankenkassen beliefen sich 1895 einschl. der Eintrittsgelder
auf 117399026 Mark.
Gegen
die Einführung des allgemeinen Krankenversicherungszwanges stimmten
1883 die Fortschrittspartei, die Sozialisten und die große Mehrheit
der Liberalen Vereinigung; die Freisinnigen stimmten gegen das Gesetz,
weil sie die Einführung des Versicherungszwanges wie bisher von dem
Erlaß eines Ortsstatuts, zu welchem auch die Zustimmung der Gemeindebehörden
erforderlich ist (vor Erlaß des ersten Krankenversicherungsgesetzes
waren 560 Ortsstatuten dieser Art in Kraft), abhängig sein lassen
wollten; wo danach das freie Krankenkassenwesen hinreichend entwickelt
erscheint oder für die Krankenpflege der Arbeiter in anderer Weise
genügend gesorgt ist, wollten die freisinnigen Abgeordneten den Versicherungszwang
nicht platzgreifen lassen, weil der Versicherungszwang mit der Einführung
der obrigkeitlichen Kassen verknüpft ist, welche, an gewisse schematische
Vorschriften gebunden, sich den Bedürfnissen der Arbeiter in Bezug
auf Krankenversicherung nicht derart anzupassen vermögen, wie dies
den freien Kassen möglich ist. Die Freisinnigen wollten also dieselben
Normen für industrielle Arbeiter gelten lassen, wie sie (siehe oben)
jetzt für die landwirtschaftlichen Arbeiter bestehen, zumal in den
Kreisen der industriellen Arbeiter das Interesse und die Befähigung
für Selbsthilfe und freie Vereinsbildung mindestens ebenso stark ist
wie unter landwirtschaftlichen Arbeitern. -- Die Freisinnige Partei hat
auch gegen die Novelle zum Krankenversicherungsgesetz
von 1892 gestimmt, und zwar teils wegen der weiteren Ausdehnung des Versicherungszwanges
auf ganze Klassen von Arbeitnehmern, sodann auch wegen der nachteiligen
Bestimmungen der Novelle für die freien Hilfskassen.
Es sind nämlich
die Krankenversicherungsgesetze geeignet, die Entwicklung
der eingeschriebenen Hilfskassen zurückzudrängen.
Thatsächlich haben von 1891 bis 1895 die eingeschriebenen Hilfskassen
sich von 1841 auf 1388, die landesrechtlichen Hilfskassen von 450 auf 263
vermindert. Die Zahl der Mitglieder ist bei den eingeschriebenen Hilfskassen
von 838 481 auf 671 668 und bei den landesrechtlichen Hilfskassen von 138
883 azf 60 543 zurückgegangen. Die freien Hilfskassen aber beruhen
ausschließlich auf den Beiträgen der Arbeitnehmer, sie sind
in der Lage, den Arbeitern mehrfach besondere Vorteile gewähren zu
können. So können sie insbesondere durch eine von dem einzelnen
Ort unabhängige Organisation (Centralkasse) dem Arbeiter ermöglichen,
bei der Uebersiedelung an einen anderen Arbeitsplatz in derselben Kasse
zu verbleiben.
Die Novelle von 1892
aber hat solche Centralkassen wesentlich erschwert. Denn während die
freien Hilfskassen seither nur die Pflicht hatten, diejenigen Leistungen
zu gewähren, welche in der Gemeinde, in deren Bezirk die Kasse ihren
Sitz hat, von der Gemeindekrankenversicherung zu gewähren sind, ist
seidem die Pflicht auferlegt, sich nach den Mindestleistungen derjenigen
Gemeinde zu richten, in deren Bezirk der Versicherungspflichtige beschäftigt
ist.
Bis dahin war es den
freien Hilfskassen gestattet, ihren Mitgliedern [S.213]
höheres Krankengeld zu zahlen und es denselben dafür selbständig
zu überlassen, Arzt und Arzenei sich zu beschaffen.
Die Kassenmitglieder waren also nicht an einen bestimmten Vereinsarzt gebunden.
Durch die Novelle von 1892 aber ist die seitherige Bestimmung fortgefallen,
wonach in den eingeschriebenen Hilfskassen statt der freien ärztlichen
Behandlung und Arznei ein Viertel des ortüblichen Tagelohnes gewährt
werden durfte.
Freie Aerztewahl.
Die Anhängigkeit der Kassenmitglieder bei den Krankenkassen von einem
bestimmten Kassenarzt hat man neuerlich in einigen Kassen zu beseitigen
gesucht dadurch, daß man den Mitgliedern die Wahl freigab zwischen
einer größeren Zahl von Aerzten, welche sich der Kasse gegenüber
gemeinschaftlich auf eine bestimmte Vergütung pro Kassenmitglied verpflichteten.
Der Gesamtbetrag dieser Vergütungen wird an die einzelnen Aerzte im
Verhältnis der Zahl der Krankenbesuche verteilt. Mehrfach aber will
man beobachtet haben, daß die Konkurrenz der Aerzte unter den Mitgliedern
und die größere Unabhängigkeit der Aerzte von der Krankenkasse
zu einer erheblichen Vermehrung der Ausgaben der Krankenkasse in Folge
größerer Willfährigkeit in der Bewilligung von Krankengeld
an die Kassenmitglieder geführt hat.
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