Eugen Richter
1838-1906









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Politisches ABC=Buch
9. Auflage, 1898

 
 

Krankenversicherung. [S.211]   Nach Maßgabe der Reichsgesetze von 1883, 1885, 1892 besteht Versicherungszwang in Betreff der Krankheits= und Beerdigungskosten für alle gewerblichen Arbeiter, Arbeiter im Transportgewerbe, im Reichs= und Staatsbetriebe, für Gehilfen der Anwälte, Notare, Gerichtsvollzieher, für Gehilfen und Lehrlinge im Handelsgewerbe (soweit dieselben auf das Recht auf sechswöchige Fortzahlung des Lohnes im Krankheitsfalle verzichtet haben), für Arbeiter im Binnenschiffahrtsbetrieb und Baggerbetrieb. 
 
     Durch Statut der Kommunalverbände kann der Versicherungszwang auch ausgedehnt werden auf landwirtschaftliche Arbeiter und Forstarbeiter, sowie auf Arbeiter der Hausindustrie; auch sonst ist noch mehrfach eine weitere Ausdehnung der Versicherungspflicht auf kommunalstatutarischem Wege oder auf dem Wege der Verfügung des Reichskanzlers oder der Centralbehörde zugelassen.
 
     In den Grenzen dieses Versicherungszwangs waren im Durchschnitt des Jahres 1895 überhaupt 7 525 524 Personen in 21 992 Krankenkassen versicherungspflichtig. Neben den (6770) Fabrik= und Betriebskrankenkassen und den (545) Innungskrankenkassen bestehen die von Obrigkeits wegen eingerichteten (4475) Ortskrankenkassen, die (8449) Gemeindeversicherungen, welchen alle diejenigen angehören, die nicht den vorbezeichneten Kasssen oder den (1388) eingeschriebenen freien Hilfskassen oder den (102) Baukassen oder den (263) landrechtlichen Hilfskassen sich angeschlossen haben.
 
     Die Arbeitgeber sind abgesehen von den eingeschriebenen Hilfskassen und den landrechtlichen Kassen verpflichtet, ein Drittel der durch Beiträge aufzu=[S.212]=bringenden Gelder beizusteuern. Die Beiträge der Arbeitgeber und Arbeitnehmer für diese Krankenkassen beliefen sich 1895 einschl. der Eintrittsgelder auf 117399026 Mark.
 
     Gegen die Einführung des allgemeinen Krankenversicherungszwanges stimmten 1883 die Fortschrittspartei, die Sozialisten und die große Mehrheit der Liberalen Vereinigung; die Freisinnigen stimmten gegen das Gesetz, weil sie die Einführung des Versicherungszwanges wie bisher von dem Erlaß eines Ortsstatuts, zu welchem auch die Zustimmung der Gemeindebehörden erforderlich ist (vor Erlaß des ersten Krankenversicherungsgesetzes waren 560 Ortsstatuten dieser Art in Kraft), abhängig sein lassen wollten; wo danach das freie Krankenkassenwesen hinreichend entwickelt erscheint oder für die Krankenpflege der Arbeiter in anderer Weise genügend gesorgt ist, wollten die freisinnigen Abgeordneten den Versicherungszwang nicht platzgreifen lassen, weil der Versicherungszwang mit der Einführung der obrigkeitlichen Kassen verknüpft ist, welche, an gewisse schematische Vorschriften gebunden, sich den Bedürfnissen der Arbeiter in Bezug auf Krankenversicherung nicht derart anzupassen vermögen, wie dies den freien Kassen möglich ist. Die Freisinnigen wollten also dieselben Normen für industrielle Arbeiter gelten lassen, wie sie (siehe oben) jetzt für die landwirtschaftlichen Arbeiter bestehen, zumal in den Kreisen der industriellen Arbeiter das Interesse und die Befähigung für Selbsthilfe und freie Vereinsbildung mindestens ebenso stark ist wie unter landwirtschaftlichen Arbeitern. -- Die Freisinnige Partei hat auch gegen die Novelle zum Krankenversicherungsgesetz von 1892 gestimmt, und zwar teils wegen der weiteren Ausdehnung des Versicherungszwanges auf ganze Klassen von Arbeitnehmern, sodann auch wegen der nachteiligen Bestimmungen der Novelle für die freien Hilfskassen.
 
     Es sind nämlich die Krankenversicherungsgesetze geeignet, die Entwicklung der eingeschriebenen Hilfskassen zurückzudrängen. Thatsächlich haben von 1891 bis 1895 die eingeschriebenen Hilfskassen sich von 1841 auf 1388, die landesrechtlichen Hilfskassen von 450 auf 263 vermindert. Die Zahl der Mitglieder ist bei den eingeschriebenen Hilfskassen von 838 481 auf 671 668 und bei den landesrechtlichen Hilfskassen von 138 883 azf 60 543 zurückgegangen. Die freien Hilfskassen aber beruhen ausschließlich auf den Beiträgen der Arbeitnehmer, sie sind in der Lage, den Arbeitern mehrfach besondere Vorteile gewähren zu können. So können sie insbesondere durch eine von dem einzelnen Ort unabhängige Organisation (Centralkasse) dem Arbeiter ermöglichen, bei der Uebersiedelung an einen anderen Arbeitsplatz in derselben Kasse zu verbleiben.
 
     Die Novelle von 1892 aber hat solche Centralkassen wesentlich erschwert. Denn während die freien Hilfskassen seither nur die Pflicht hatten, diejenigen Leistungen zu gewähren, welche in der Gemeinde, in deren Bezirk die Kasse ihren Sitz hat, von der Gemeindekrankenversicherung zu gewähren sind, ist seidem die Pflicht auferlegt, sich nach den Mindestleistungen derjenigen Gemeinde zu richten, in deren Bezirk der Versicherungspflichtige beschäftigt ist.
 
     Bis dahin war es den freien Hilfskassen gestattet, ihren Mitgliedern [S.213] höheres Krankengeld zu zahlen und es denselben dafür selbständig zu überlassen, Arzt und Arzenei sich zu beschaffen. Die Kassenmitglieder waren also nicht an einen bestimmten Vereinsarzt gebunden. Durch die Novelle von 1892 aber ist die seitherige Bestimmung fortgefallen, wonach in den eingeschriebenen Hilfskassen statt der freien ärztlichen Behandlung und Arznei ein Viertel des ortüblichen Tagelohnes gewährt werden durfte.
 
     Freie Aerztewahl. Die Anhängigkeit der Kassenmitglieder bei den Krankenkassen von einem bestimmten Kassenarzt hat man neuerlich in einigen Kassen zu beseitigen gesucht dadurch, daß man den Mitgliedern die Wahl freigab zwischen einer größeren Zahl von Aerzten, welche sich der Kasse gegenüber gemeinschaftlich auf eine bestimmte Vergütung pro Kassenmitglied verpflichteten. Der Gesamtbetrag dieser Vergütungen wird an die einzelnen Aerzte im Verhältnis der Zahl der Krankenbesuche verteilt. Mehrfach aber will man beobachtet haben, daß die Konkurrenz der Aerzte unter den Mitgliedern und die größere Unabhängigkeit der Aerzte von der Krankenkasse zu einer erheblichen Vermehrung der Ausgaben der Krankenkasse in Folge größerer Willfährigkeit in der Bewilligung von Krankengeld an die Kassenmitglieder geführt hat.