Politisches
ABC=Buch
9. Auflage, 1898
Kurpfuschereiverbot.
[S.215] Durch die Gewerbeordung von 1869 sind
die Bestimmungen beseitigt worden, welche die Ausübung der Heilkunde
von einer vorherigen Prüfung und Approbation abhängig machen.
Neuerlich wird unter dem Titel der Beseitigung der Kurpfuscherei in ärztlichen
Kreisen, insbesondere auch von der Mehrheit der Mitglieder der vor Kurzem
in Preußen eingerichteten Ärztekammern, die Wiedereinführung
des Prüfungszwanges befürwortet. Dafür hat sich auch die
wissenschaftliche Deputation für das Medizinalwesen im Kultusministerium
jüngst mit großer Mehrheit ausgesprochen.
Die Reichsregierung
hat zu dieser Frage eine Stellung noch nicht eingenommen. Abg. Virchow,
welcher selbst zu der wissenschaftlichen Deputation des Kultusministeriums
gehört, erinnerte bei der Erörterung dieser Frage im Abgeordnetenhause
am 7. Mai 1897 daran, daß 1869 gerade die Berliner Medizinische Gesellschaft
eingetreten ist für die Aufhebung des damals noch bestehenden Kurpfuschereiverbots.
Wenn die junge Generation jetzt auch gegen die Kurpfuscherei vorgehen,
sich das Monopol der Krankenbehandlung sichern
will, so erklärt sich dies nur daraus, daß sie aller
Erfahrung bar ist. Damals aber
sah man täglich den negativen Effekt des Verbots, man sah, wie das
Martyrium, welches hier und da ein Kurpfuscher zu erleiden hatte, eine
Empfehlung für ihn war. Die höchsten Kreise der Gesellschaft,
namentlich in der Aristokratie, wurden immer mehr geneigt, die Kurpfuscherei
mit besonderer Huld anzusehen, wenn sie einmal bestraft worden war; daß
aber die Bestrafung irgend eine reprimirende Wirkung gehabt hätte,
war nicht wahrnehmbar. Die Kurpfuscher nahmen von Tag zu Tag damals eine
mehr geachtete Stellung ein, ja, es gelang ihnen endlich, bis an den Hof
vorzudringen. Wenn die Menschen einmal dumm sind, so ist ihnen nicht zu
helfen, dann müssen sie eben aus ihren Erfahrungen lernen.
In Ergänzung dieser
Darstellung mag daran erinnert sein, wie in jener Zeit einfache Schäfer,
die nicht allein der wissenschaftlichen Bildung, sondern der gewöhnlichen
Schulbildung entbehrten, einen unglaublichen Zulauf hatten. Der Schäfter
Prießnitz begründete die erste
Kaltwasserheilanstalt in [S.216] Gräfenberg,
und unmittelbar vor dem Jahre 1866 genoß der Kräuterdoktor Lampe
in Goslar eines ebenso großen Rufes wie der eben verstorbene Pfarrer
Kneipp in der Gegenwart. Als Polizei und Staatsanwaltschaft sich anschickten,
dem Kräuterdoktor Lampe das Handwerk zu legen, beliebte es dem König
Georg von Hannover, sich selbst in die Kur dieses Mannes zu begeben, der
dadurch selbstverständlich vor allen Anfechtungen sichergestellt wurde.
In Berlin mußte auch der Apfelweinhändler
Petsch die Anklagebank einnehmen und wiederholt Geldstrafen
zahlen, weil er den Gästen, die ihn besuchten und über ein eingebildetes
Leiden klagten, den Rat gab, recht viel von seinem Apfelwein zu trinken,
gelegentlich auch wohl, den Apfelwein mit Milch zu mischen.
In Fällen, wo wirklich
Betrug eines Kurpfuschers vorliegt, ist auch
heute schon nach dem Strafgesetzbuch die Verfolgung zulässig und gerechtfertigt.
Es ist aber auch heute keineswegs nur die breite Masse der Ungebildeten,
die der Kurpfuscherei anhangen. In dem jüngst vom preußischen
Medizinalministerium veröffentlichten Sanitätsberichte wird dies
ausdrücklich hervorgehoben. Lehrreich ist die Liste der Stände,
denen unzweifelhaft gewerbsmäßige Kurpfuscher nach den Erfahrungen
der Regierungsmedizinalräte angehörten. Unter den Kurpfuschern
im Regierungsbezirk Kassel waren Apotheker, Geistliche, Lehrer, unter denjenigen
im Bezirk Frankfurt a. O. ein Ortsvorsteher, im Stettiner Bezirk ein Beigeordneter,
im Bezirk Oppeln ein Kaplan.
Man kann den Laien die
Kurpfuscherei verbieten, man kann aber nicht den approbirten
Aerzten selbst verbieten, Kurpfuscherei zu treiben, sei es
für eigene Rechnung, sei es zur Deckung eines gewerbsmäßigen
Kurpfuschers. Den größten Schwindel
hat doch in jüngster Zeit ein approbirter Arzt,
Dr. Volbeding in Düsseldorf, getrieben.
Auch Pfarrer Kneipp und der ehemalige Rechtsanwalt Glünicke fanden
approbirte Aerzte zu ihrer Assistenz. Als eine Naturheilkünstler die
Konzession zur Errichtung einer Heilanstalt verlangte und dieses Gesuch
Schwierigkeiten fand, erbot sich ein Berliner Arzt, von Berlin aus die
Oberleitung der Anstalt zu übernehmen. -- Was fällt überhaupt
unter den Begriff der Kur? Wie ist die Grenze
zu ziehen für verbotene und erlaubte Behandlung?
Man sagt, die Aerzte
dürften nicht unter die Gewerbeordnung gestellt sein. Aber ob diese
Verhältnisse nun in einer allgemeinen Gewerbeordnung oder in einer
Erwerbsordnung oder in einer Aerzteordnung geregelt werden, ist eine bloße
Formsache. Die Hauptsache bei den Eiferern gegen die Gewerbeordnung ist
doch, daß man durch Polizeiverbote sich eine unliebsame Konkurrenz
fern halten will. Das Publikum selbst, um dessen Gesundheit es sich doch
handelt, hat den Erlaß eines Verbots gegen die Kurpfuscherei nirgends
verlangt. Die Aerzte aber sind in dieser Frage ebenso Interessenten, wie
es die Zünftler unter den Handwerkern sind. Genau dieselben Stimmungen
und Verstimmungen, wie sie unter den Zünftlern Platz greifen gegen
die nicht zünftlerisch gelernten Handwerker, bestimmen die Aerzte
zu der Forderung, den nicht approbirten Aerzten die Ausübung der Heilkunde
zu verbieten. [S.217]
Die Stimmung der Aerzte
für Einschränkung der freien Konkurrenz erklärt sich allerdings
wesentlich aus der ungünstigen wirtschaftlichen
Lage, mit der viele Aerzte zu kämpfen haben. Diese mißliche
Lage ist wiederum zum Teil durch die gepriesene Zwangsversicherung verschuldet.
Diese Zwangsversicherung erleichtert zwar die Krankenpflege, organisirt
dieselbe aber zugleich derartig, daß ein und derselbe Arzt in der
Lage ist, eine größere Zahl von Kranken zu behandeln, als es
sonst der Fall ist. Zugleich ermöglicht es die Konzentration der Nachfrage
nach ärztlicher Hilfe in der Hand der Kassenvorstände, einen
Druck auf die Normirung der Honorare zu üben. Die Durchführung
der freien Arztwahl in den Kassenverbänden
aber ist wiederum geeignet, die hieraus erwachsenden Uebelstände zu
vermindern.
Mit der Wiederherstellung
eines Monopols der approbirten Aerzte für die Ausübung der Heilkunde
müßte auch jener zur Zeit des Kurpfuschereiverbots bestehende
Paragraph des Strafgesetzbuchs wiederhergestellt werden,
wonach der Arzt in Strafe zu nehmen ist, wenn er eine von ihm verlangte
Hilfe nicht gewährt. Zu welchen Chikanen und Belästigungen insbesondere
während der Nachtzeit dieser Paragraph seiner Zeit benutzt werden
konnte, beweist die Medizinalgeschichte jener Zeit.
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