Eugen Richter
1838-1906










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Politisches ABC=Buch
9. Auflage, 1898

 
 

Nationalsoziale Partei. [S.274] Unter diesem Namen hat sich auf dem Parteitag, welcher vom 23. Bis 25. November 1896 in Erfurt abgehalten wurde, eine neue Parteigruppe zusammengefunden. Dieselbe bezeichnet, wie der Referent Prof. Sohm daselbst ausführte, als ihren Stammvater und Ahnherrn den Leiter des Rauhen Hauses in Hamburg, Wichern. Aus dem Werk der inneren Mission desselben sei unter Stöcker's Führung die christlich=soziale Bewegung hervorgewachsen. Die Jung=Christlichsozialen seien die Nationalsozialen. 

     Das in Erfurt angenommene Programm der Partei stellt ein Gemisch dar aus konservativen und liberalen Programmen mit sozialdemokratischen Anklängen. Aus dem konservativen Programm entnommen ist das Eintreten dür Verstärkung des Heeres und der Flotte, sowie für die Kolonialpolitik. Dem liberalen Programm ist entnommen die Aufrechterhaltung des Reichswahlrechts und dessen Ausdehnung auf den Landtag und auf kommunale Vertretungen, sowie die Verwirklichung der politischen und wirtschaftlichen Vereinsfreiheit und "die ungeschmälerte Erhaltung der staatsbürgerlichen Rechte aller Staatsbürger." Der sozialdemokratischen Partei nähert sich das Programm der Nationalsozialen an mit der Forderung einer "Vergrößerung des Anteils, den die Arbeit in ihren verschiedenen Arten und Formen an dem Gesamtertrag der deutschen Volkswirtschaft hat." Das Programm verwahrt sich zwar gegen "die Utopien und Dogmen eines revolutionär=marxistischen Kommunismus", thatsächlich aber nähern sich in wirtschaftlicher Beziehung die Nationalsozialen mehr oder weniger der Sozialdemokratie in der Forderung "der geschichtlichen Umgestaltung der vorhandenen Verhältnisse zu Gunsten der Arbeit." -- Unter den Nationalsozialen sind auch sehr zahlreich vertreten Bodenreformer, welche die Aufhebung des Privateigentums an Grund und Boden fordern (siehe "Bodenreformer"). In den Erfurter Verhandlungen äußerte Redakteur v. Gerlach: "Ich halte vorläufig an dem Privateigentum fest, möchte mich aber nicht darauf festlegen lassen."

     Bei Erörterung des Agrarprogramms auf dem zweiten Parteitag in Erfurt am 30. September 1897 wurde vom Referenten Landwirt Möser u. a. auch beantragt, "staatliche Monopolisirung des Getreidehandels, Festlegung der Getreidepreise bei normalen Ernteverhältnissen auf der Basis der gegenwärtigen Brotpreise", sowie Verstaatlichung der Hypotheken und Verbot der Privatgeschäfte in Hypotheken. Zu einer Beschlußfassung in Agrarfragen kam es nicht, indem die vorliegenden Anträge an eine Kommission überwiesen wurden.

     Bei der Konstituirung der Partei waren unter den 80 Teilnehmern an [S.275] dem Parteitag mehr als 40 Pfarrer. Daraus erklärt sich in den "Grundlinien" des Programms auch der § 7: "Im Mittelpunkt des geistigen und sittlichen Lebens unseres Volkes steht das Christentum, das nicht zur Parteisache gemacht werden darf, sich aber auch im öffentlichen Leben als Macht des Friedens und der Gemeinschaftlichkeit bewähren soll." -- Ueber den Zusammenhang des Christentums, das nicht zur Parteisache gemacht werden darf, mit den Bestrebungen der Partei im Einzelnen verbreiteten sich die Redner des Parteitages in verschiedener und nichts weniger als klarer Weise.

     Die nationalsoziale Partei ist in Form eines Vereins organisirt, der sich aber über ganz Deutschland erstrecken soll. Erster Vorsitzender ist Pfarrer Naumann, Zweiter Vorsitzender Pfarrer Göhre. -- Auf dem zweiten Parteitag in Erfurt im September 1897 traten verschiedene Richtungen der Partei im Verhältnis zur Sozialdemokratie hervor, welche einerseits durch Professor Sohm, andererseits durch Pastor a. D. Göhre, Redakteur v. Gerlach und Redakteur Damaschke repräsentirt wurden. Während Professor Sohm das Eigentümliche der Partei in einer Bekämpfung nicht der konservativen oder sonst einer nationalgesinnten Partei, sondern der Sozialdemokratie erblicken wollte, verlangten Göhre und Gerlach die Beibehaltung der Naumann'schen Taktik, die Konservativen zu bekämpfen, die nur noch brutal und herrisch den Großgrundbesitz vertreten. Nur mühsam konnte eine Spaltung durch nichtssagende Kompromißresolutionen verhindert werden. Auch in Bezug auf die Uebertragung des Reichswahlrechts auf Kommunalwahlen besteht, wie aus den Verhandlungen sich ergab, nichts weniger als Uebereinstimmung in der Partei, trotzdem diese Forderung 1896 unter die "Grundlinien" aufgenommen ist.