Politisches
ABC=Buch
9. Auflage, 1898
Nationalsoziale Partei. [S.274]
Unter
diesem Namen hat sich auf dem Parteitag, welcher vom 23. Bis 25. November
1896 in Erfurt abgehalten wurde, eine neue Parteigruppe zusammengefunden.
Dieselbe bezeichnet, wie der Referent Prof. Sohm daselbst ausführte,
als ihren Stammvater und Ahnherrn den Leiter des Rauhen Hauses in Hamburg,
Wichern. Aus dem Werk der inneren Mission desselben sei unter Stöcker's
Führung die christlich=soziale Bewegung hervorgewachsen. Die Jung=Christlichsozialen
seien die Nationalsozialen.
Das in Erfurt angenommene
Programm
der Partei stellt ein Gemisch dar aus konservativen und liberalen Programmen
mit sozialdemokratischen Anklängen. Aus dem konservativen Programm
entnommen ist das Eintreten dür Verstärkung des Heeres und der
Flotte, sowie für die Kolonialpolitik. Dem liberalen Programm ist
entnommen die Aufrechterhaltung des Reichswahlrechts und dessen Ausdehnung
auf den Landtag und auf kommunale Vertretungen, sowie die Verwirklichung
der politischen und wirtschaftlichen Vereinsfreiheit und "die ungeschmälerte
Erhaltung der staatsbürgerlichen Rechte aller Staatsbürger."
Der sozialdemokratischen Partei nähert sich das Programm der Nationalsozialen
an mit der Forderung einer "Vergrößerung des Anteils, den die
Arbeit in ihren verschiedenen Arten und Formen an dem Gesamtertrag der
deutschen Volkswirtschaft hat." Das Programm verwahrt sich zwar gegen "die
Utopien und Dogmen eines revolutionär=marxistischen Kommunismus",
thatsächlich aber nähern sich in wirtschaftlicher Beziehung die
Nationalsozialen mehr oder weniger der Sozialdemokratie in der Forderung
"der geschichtlichen Umgestaltung der vorhandenen Verhältnisse zu
Gunsten der Arbeit." -- Unter den Nationalsozialen sind auch sehr zahlreich
vertreten Bodenreformer, welche die Aufhebung
des Privateigentums an Grund und Boden fordern (siehe "Bodenreformer").
In den Erfurter Verhandlungen äußerte Redakteur v. Gerlach:
"Ich halte vorläufig an dem Privateigentum fest,
möchte mich aber nicht darauf festlegen
lassen."
Bei Erörterung des
Agrarprogramms auf dem zweiten
Parteitag in Erfurt am 30. September 1897 wurde vom Referenten
Landwirt Möser u. a. auch beantragt, "staatliche Monopolisirung des
Getreidehandels, Festlegung der Getreidepreise bei normalen Ernteverhältnissen
auf der Basis der gegenwärtigen Brotpreise", sowie Verstaatlichung
der Hypotheken und Verbot der Privatgeschäfte in Hypotheken. Zu einer
Beschlußfassung in Agrarfragen kam es nicht, indem die vorliegenden
Anträge an eine Kommission überwiesen wurden.
Bei der Konstituirung
der Partei waren unter den 80 Teilnehmern an [S.275]
dem Parteitag mehr als 40 Pfarrer. Daraus
erklärt sich in den "Grundlinien" des Programms auch der § 7:
"Im Mittelpunkt des geistigen und sittlichen Lebens unseres Volkes steht
das Christentum, das nicht zur Parteisache gemacht werden darf, sich aber
auch im öffentlichen Leben als Macht des Friedens und der Gemeinschaftlichkeit
bewähren soll." -- Ueber den Zusammenhang des Christentums, das nicht
zur Parteisache gemacht werden darf, mit den Bestrebungen der Partei im
Einzelnen verbreiteten sich die Redner des Parteitages in verschiedener
und nichts weniger als klarer Weise.
Die nationalsoziale Partei
ist in Form eines Vereins organisirt, der
sich aber über ganz Deutschland erstrecken soll. Erster Vorsitzender
ist Pfarrer Naumann, Zweiter Vorsitzender
Pfarrer Göhre. -- Auf dem zweiten Parteitag
in Erfurt im September 1897 traten verschiedene Richtungen der Partei im
Verhältnis zur Sozialdemokratie hervor, welche einerseits durch Professor
Sohm, andererseits durch Pastor a. D. Göhre, Redakteur v. Gerlach
und Redakteur Damaschke repräsentirt wurden. Während Professor
Sohm das Eigentümliche der Partei in einer Bekämpfung nicht der
konservativen oder sonst einer nationalgesinnten Partei, sondern der Sozialdemokratie
erblicken wollte, verlangten Göhre und Gerlach die Beibehaltung der
Naumann'schen Taktik, die Konservativen zu bekämpfen, die nur noch
brutal und herrisch den Großgrundbesitz vertreten. Nur mühsam
konnte eine Spaltung durch nichtssagende Kompromißresolutionen verhindert
werden. Auch in Bezug auf die Uebertragung des Reichswahlrechts auf Kommunalwahlen
besteht, wie aus den Verhandlungen sich ergab, nichts weniger als Uebereinstimmung
in der Partei, trotzdem diese Forderung 1896 unter die "Grundlinien" aufgenommen
ist.
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