Politisches
ABC=Buch
9. Auflage, 1898
Polengesetze in
Preußen. [S.278]
Fürst
Bismarck hat in den Jahren 1885 und 1886 eine Reihe von Maßnahmen
eingeleitet, um die Zunahme der polnischen Bevölkerung in den Provinzen
Westpreußen und Posen zu verhindern und das Deutschtum in diesen
Provinzen zu stärken. Zu diesen Maßnahmen gehörten Massenausweisungen
russischer und österreichischer Polen aus diesen Provinzen, ferner
ein besonderes Gesetz in Betreff des Volksschulwesens in diesen Provinzen,
endlich die Inanspruchnahme eines Kredits von 100 Millionen Mark zum Ankauf
von polnischen Gütern behufs Begründung deutscher Kolonien.
Die Freisinnige
Partei hat gleich der Centrumspartei im Reichstage und im preußíschen
Abgeordnetenhausse ihren Widerspruch gegen diese Maßnahmen kundgegeben.
Auch die Freisinnigen wünschen eine möglichste Assimilirung der
Polen mit dem Deutschtum und begünstigen nichts weniger als die Wiederherstellung
eines selbständigen Polens oder einer selbständigen Organisation
polnischer Landesteile. Auch die letzteren sollen einen Bestandtei[l] Preußens
und Deutschlands bilden, aber eben deshalb haben sie auch auf das gleiche
verfassungsmäßige Recht mit allen Einwohnern Preußens
und Deutschlands Anspruch. Die Freisinnige Partei hat gegen die sogenannten
Polengesetze im Abgeordnetenhause schon darum gestimmt, weil dieselben
einen Ausnahmecharakter haben und die Staatsbürger
polnischer Herkunft durch diese Gesetze schlechter gestellt werden als
die Deutschen, lediglich wegen ihrer Abstammung. Die Freisinnige Partei
hat auch gegen die sogenannten Polengesetze gestimmt, weil sie in denselben
kein taugliches Mittel erkennt, die Assimilirung
der Polen mit dem Deutschtum zu fördern.
Die Massenausweisungen
russischer und österreichischer Polen haben nicht nur die wirtschaftlichen
Verhältnisse vieler Orte durch den Verlust von Steuerzahlern und wirtschaftlich
nützlicher Existenzen geschädigt, sondern auch Repressalien namentlich
in Rußland gegen die Deutschen hervorgerufen, welche zu den lebhaftesten
Beschwerden Veranlassung gaben. Auch haben diese Maßnahmen den Arbeitermangel
für die Landwirtschaft in den Provinzen Westpreußen und Posen
herbeigeführt. Neuerlich sind deshalb polnische Arbeiter aus Rußland
und Oesterreich unter gewissen Bedingungen für die Landwirtschaft
in großem Umfang während der Sommer= und Herbstzeit wieder zugelassen.
Demjenigen Polengesetz
von 1886, welches sich auf die Volksschulen
bezug, widersprach die Freisinnige Partei, weil sie es nicht für richtig
hält, die Berufung der Volksschullehrer in den Provinzen Westpreußen
und Posen (nur die großen Städte und vier westpreußischen
Kreise sind davon ausgenommen), allein in die Hände der Staatsbehörden
zu legen und den Gemeinden, welche mit ihren Mitteln für die Volksschule
aufkommen müssen, nur den Anspruch zu gewähren, bei der Berufung
der Volksschullehrer gehört zu werden.
Was sodann den Hundertmillionenkredit
von 1886 zum Aufkauf polnischer Güter und zur Begründung deutscher
Kolonien anbetrifft, so haben auch hier die Erfahrungen der freisinnigen
Opposition nach allen Richtungen Recht gegeben. Es sind bis Ultimo März
1896 von jenem Credit 69 921 789 M. verbraucht worden. Bis zum Schluß
des Jahres 1896 waren 92724 ha. an=[S.279]=gekauft
und zwar 148 Güter und 35 Bauernwirtschaften. Das angekaufte Areal
stellt indeß nur 1,70 % der Gesamtfläche der beteiligten Kreise
dar und 3,29 % des in den beteiligten Kreisen auf die Gutsbezirke (Großgrundbesitz)
entfallenden Areals. Von dem Gesamterwerbe von 92724 ha. waren bis Ende
1896 erst 39,7 %, nämlich 36470 ha., begeben, und zwar an 1975 Ansiedler,
welche in ihren Haushaltungen eine Kopfzahl von 10000 Personen umfassen.
Was will diese Ziffer bedeuten gegenüber einer Bevölkerung, die
in den beiden Provinzen Posen und Westpreußen zusammengenommen 3
1/2 Millionen Köpfe zählen. Bei den Reichstagswahlen von 1893
sind 229531 polnische Stimmen abgegeben worden. Dabei kommt in Betracht,
daß von den 1975 Ansiedlern 808 aus den beiden Ansiedlungsprovinzen
selbst stammen.
Die zwischenzeitliche
Verwaltung zwischen dem Ankauf und der Begebung der Güter hat in den
9 Jahren der Ausführung des Gesetzes nicht bloß keine Verzinsung
des Kaufgeldes gebracht, sondern auch einen Zuschuß von 4 633 238
Mk. erheischt. Nach Maßgabe der Rentenbeträge und der Pachtbeträge
verzinste sich das Anlagekapital des Staates in diesen Ansiedlungen nur
mit 2,60 bis 2,80 %. Um die Ansiedlungen dauernd im Besitz von Deutschen
zu erhalten, sind unablösbare Renten zugleich mit Beschränkungen
in der freien Benutzung und Veräußerung der Güter auf dieselben
eingetragen worden. Neuerlich ist für diese Ansiedlungen auch durch
Gesetz vom 8. 6. 1896 das Anerbenrecht obligatorisch eingeführt worden
zugleich mit weiteren Beschränkungen des Besitzes (siehe "Anerbenrecht"
und "Rentengüter").
Ein Teil der angekauften
Güter war schon bis dahin in deutscher Hand.
Von den ausgekauften polnischen Besitzern haben sich eine Anzahl wieder
anderweitig angekauft und zwar teilweise auf bisher deutschem Besitztum.
Die Verwendung des Millionenkredits hat minder gut situirten polnischen
Gutsbesitzern recht annehmbare Kaufpreise für ihre Güter verschafft,
mit welchen sie sich entweder in den Städten eine neue und gesicherte
Existenz begründeten und das polnische Bürgertum daselbst verstärkten
oder andererseits neue Güter vorteilhaft erwarben. Die Polen
selbst haben eine Bank "Ziemski" gegründet, welche es sich mit gutem
Erfolge zur Aufgabe macht, die polnische Kolonisation
zu fördern. Dazu ist noch das neue Rentengütergesetz
gekommen, welches es dieser Bank und polnischen Gutsbesitzern ermöglicht,
sogar mit Hilfe des Staatskredits auch polnische Kolonisationen zu fördern.
Es befinden sich schon 1975 neue Rentengüter in polnischer Hand; also
zufällig genau soviel, wie neue deutsche Ansiedlungen aus dem Hundertmillionenkredit
geschaffen sind (siehe "Rentengüter"). Auf diese Weise wird also der
Staatskredit gleichzeitig vor und hinter den Wagen gespannt. Es stößt
die Gewinnung von neuen Ansiedlern aus den westlichen Provinzen Deutschlands
auf immer größere Schwierigkeit. Wer über das erforderliche
Kapitalvermögen verfügt, hat wenig Neigung anderweitig im Osten
ein Unterkommen zu suchen.
Gleichwohl wurde Anfang
November 1897 offiziös angekündigt, daß die Regierung in
der bevorstehenden Landtagssession beabsichtige eine Erweiterung
des bisherigen Hundertmillionenkredits zu beantragen.
Während zeitweilig
die Staatsregierung den Polen gegenüber eine freundlichere Haltung
einnahm (der polnische Landtagsabgeordnete v. Stablewski [S.280]
wurde Erzbischof von Posen; Konzessionen wurden gemacht in Bezug auf den
Religionsunterricht in polnischer Sprache; polnische Rekruten wurden, was
früher nicht der Fall war, in Garnisonen der Provinzen Posen und Westpreußen
eingestellt), hat man neuerlich insbesondere das Vereins= und Versammlungswesen,
wofern man sich dabei der polnischen Sprache bedient, einer schärferen
Polizeiaufsicht unterworfen, und ist über Polizeivexationen mancher
Art hierbei mit Recht im preußischen Abgeordnetenhause in den letzten
Jahren lebhafte Klage geführt worden.
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