Politisches
ABC=Buch
9. Auflage, 1898
Sonntagsruhe. [S.301]
Die
Novelle zur Gewerbeordnung vom 1. Juni 1891
hat über die Sonntagsruhe für das Handelsgewerbe und die industriellen
Arbeiter neue Bestimmungen getroffen. Die Novelle verbietet bei Strafe
die Beschäftigung von Arbeitern an Sonn= und Festtagen in Fabriken
und Werkstätten, Bergwerken und auf Bauplätzen. Die
den Arbeitern zu gewährende Ruhe hat mindestens für jeden Sonn=
und Festtag 24 Stunden, für je zwei aufeinander folgende Sonn= und
Festtage 36 Stunden, für das Weihnachts=, Oster= und Pfingstfest 48
Stunden zu dauern. Die Ruhezeit ist von 12 Uhr Nachts zu rechnen und muß
bei zwei auf einander folgenden Sonn= und Festtagen bis 6 Uhr Abends des
zweiten Tages dauern. Besondere Bestimmungen betreffen die Betriebe mit
regelmäßíger Tag= und Nachtschicht.
Im Handelsgewerbe
dürfen Gehilfen, Lehrlinge und Arbeiter am ersten Weihnachts=, Oster=
und Pfingstfeiertage überhaupt nicht, im Übrigen an Sonn= und
Festtagen nicht länger als 5 Stunden beschäftigt werden. Durch
statutarische Bestimmung einer Gemeinde kann diese Zeit verkürzt werden.
Die [S.302] Stunden, während welcher die Beschäftigung
stattfinden darf, werden unter Berücksichtigung der für den öffentlichen
Gottesdienst bestimmten Zeit von der Polizeibehörde festgestellt.
In derjenigen Zeit, in welcher Arbeitnehmer im Handelsgewerbe nicht beschäftigt
werden dürfen, darf auch in offenen Verkaufsstellen ein Gewerbebetrieb
an diesen Tagen nicht stattfinden.
Gewisse Ausnahmen
für industrielle Arbeiter in Bezug der Inventur, Bewachung, Reinigung,
Instandhaltung der Betriebe, Verhütung des Verderbens von Rohstoffen,
Befriedigung täglich hervortretender Bedürfnisse der Bevölkerung,
Verhütung eines unverhältnismäßigen Schadens bei einem
nicht vorherzusehenden Bedürfnisse, sowie für die Betriebe mit
Triebwerken, welche durch Wind oder unregelmäßige Wasserkraft
bewegt werden, sind in Verordnungen des Bundesrats vorgesehen.
In Betreff des Handelsgewerbes
können nach den zur Ausführung des Gesetzes erlassenen preußischen
Ministerialbestimmungen Bäcker, Konditoren,
Fleisch= und Wursthändler, Milchhändler und Vorkosthändler
am Sonntag Morgen schon um 5 Uhr mit dem Handel beginnen, Zeitungsspediteure
schon um 4 Uhr Morgens. Nach 2 Uhr Nachmittags ist nur noch ein Handel
zulässig für die Verkäufer von Blumen und Kränzen bis
4 Uhr Nachmittags. Außerdem darf für den Verkauf von Back= und
Konditorwaren, sowie für den Milchhandel eine weitere nach den örtlichen
Verhältnissen festzusetzende Stunde des Nachmittags freigegeben werden.
Nur an Badeorten, Luftkurorten und Plätzen mit starkem Touristenverkehr
darf während der Saison die fünfstündige Handelszeit so
gelegt werden, daß der Schluß derselben erst um 5 Uhr Nachmittags
stattfindet.
Die sachgemäße
Normirung der an Sonntagen zulässigen Arbeitsstunden findet zunächst
an vielen Orten ein Hindernis in der Bestimmung, wonach auf die Zeit des
Hauptgottesdienstes Rücksicht genommen werden muß. In Folge
dessen wird die Arbeitszeit an Vormittagen durch die Zeit des Gottesdienstes
unterbrochen und in zwei Abschnitte derart verlegt, daß das Ende
des letzten Abschnitts der Arbeitszeit erst in den Nachmittag fällt.
Die praktische Durchführung
der Bestimmungen über die Sonntagsruhe im Handelsgewerbe hat vielfach
zu lebhaften Klagen Veranlassung gegeben, und hat der preußische
Handelsminister infolgedessen Gutachten über die Einführung der
Bestimmungen eingefordert, namentlich was den Gewerbebetrieb im Umherziehen
und den Handel mit Lebensmitteln, mit Zigarren und Tabak anbetrifft. --
Ueber Petitionen, welche an den Reichstag
auf Abänderung der Reichsgesetze ergangen sind, ist der Reichstag
am 16. Januar 1897 zur Tagesordnung übergegangen mit Rücksicht
darauf, daß es sich zur Zeit noch nicht empfiehlt, an eine Aenderung
dieser Gesetze heranzugehen, sondern erst weitere Erfahrungen über
die Wirkungen derselben abzuwarten. In den Verhandlungen der Petitionskommission
erklärte der Regierungskommissar sich
in diesem Sinne, wenn er auch dem einen oder anderen Wunsche sei es nach
Milderung oder nach Verschärfung des bestehenden Rechtszustandes eine
gewisse Berechtigung nicht von vornherein absprechen wollte. Das Publikum
fange eben an, in die vielfach bis vor Kurzem völlig ungewohnte gewerbliche
[S.303] Sonntagsruhe sich einzuleben. Einen solchen
Uebergangs= und Befestigungsprozeß durch Aenderungen an dem eben
erst Geschaffenen zu stören, empfehle sich nicht.
Neuerlich sind im Wege
der Polizeiverordnung mehrfach in Preußen anderweitige Beschränkungen
des Publikums für den Sonntag eingeführt worden. So ist durch
eine westfälische Provinzialordnung
1897 auch die Abhaltung von Jagden während
des Sonntags überhaupt verboten worden. Ebenso ist es verboten worden,
während der Zeit, in welcher der Handelsbetrieb untersagt ist, auch
nur die Schaufensterwaren in den Schaufenstern unverhüllt dem Publikum
zu zeigen. -- Andere Polizeiverordnungen, z. B. in Berlin vom 1. Nov 1896
ab, verbieten während des Hauptgottesdienstes in öffentlichen
Lokalen alle auffälligen und geräuschvollen Spiele, alle Musikaufführungen,
theatralischen Vorstellungen oder mit Geräusch verbundene gesellschaftliche
Vereinigungen, desgleichen alle die Sonntagsruhe störenden Belustigungen
in Privaträumen. Tanzmusiken, Bälle und ähnliche Lustbarkeiten
in Gasthäusern, Schankwirtschaften und sonstigen Vergnügungslokalen,
auch wenn sei in geschlossenen Gesellschaften stattfinden, dürfen
nicht vor 3 Uhr Nachmittags beginnen. Diejenigen Schankwirtschaften, in
denen ausschließlich oder vorwiegend der Ausschank von Branntwein
betrieben wird, sind während der Zeit des Hauptgottesdienstes nach
der Straße zu verschlossen zu halten.
Als König
Jacob von England einmal, so erzählt Lothar Bucher, durch
Lancashire reiste, wurde ihm angezeigt, daß die Grafschaft von "Quäkern
und anderem präzisen Volk verpestet sei", da sich Sonntags der Vergnügungen
enthalte. Nach seiner Rückkehr erließ er eine Verordnung, welche
die strenge Sonntagsfeier als gefährlich bezeichnete für Staat,
Religion, Gesellschaft und Heerwesen. Für den Staat, weil die Menschen
den Sonntag über grübeln und auf unzufriedene Gedanken kommen
würden; für die Religion, weil die Menschen kein Gefallen finden
können an einer Religion, die ihnen solche Langeweile auferlegt; für
die Gesellschaft, weil Müßiggang zum Trunk führe; für
das Heerwesen, weil die Rasse sich schnell verschlechtern würde, wenn
sie nicht einmal die Woche "tanze, froschhüpfe, Mohrentänze aufführe
usw." Geistliche und weltliche Obrigkeiten wurden angewiesen, die Uebelgesinnten
zu verwarnen und, wenn das nicht helfe, aus dem Lande zu treiben.
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