Politisches
ABC=Buch
9. Auflage, 1898
Sozialistengesetz. [S.322]
Ein Ausnahmegesetz, welches die Preßfreiheit, die Vereins=
und Versammlungsfreiheit und die Freizügigkeit der Sozialisten beschränkte,
hat in Deutschland vom 21. Oktober 1878 bis zum 1. Oktober 1890 gegolten.
Das Gesetz kam zu stande nach der Auflösung des Reichstags im Jahre
1878 unter dem Eindruck der Attentate auf Kaiser Wilhelm I. (Hödel
und Nobiling) durch eine aus Konservativen und Nationalliberalen gebildete
Mehrheit. Das Gesetz war zuerst nur für 2 1/2 Jahre erlassen worden
und wurde dann mehrmals und zuletzt in der Reichstagssession 1887/88 bis
zum 1. Oktober 1890 verlängert.
Das Gesetz verbot Vereine,
welche durch sozialdemokratische, sozialistische oder kommunistische Bestrebungen
den Umsturz der bestehenden Staats= und Gesellschaftsordnung bezwecken,
oder bei denen sozialdemokratische, sozialistische oder kommunistische,
auf den Umsturz der bestehenden Staats= und Gesellschaftsordnung gerichtete
Bestrebungen in einer den öffentlichen Frieden, insbesondere die Eintracht
der Bevölkerungsklassen gefährdenden Weise zu Tage treten. Ebenso
waren nach diesem Gesetz Versammlungen, in denen Bestrebungen der gedachten
Art zu Tage treten, aufzulösen und Versammlungen, von denen durch
Thatsachen die Annahme gerechtfertigt ist, daß sie zur Förderung
solcher Bestrebungen bestimmt sind, zu verbieten. Desgleichen waren Druckschriften,
in welchen Bestrebungen der gedachten Art in einer den öffentlichen
Frieden, insbesondere die Eintracht der Bevölkerungsklase gefährdenden
Weise zu Tage treten, zu verbieten. Bei periodischen Druckschriften konnte
das Verbot sich auch auf das fernere Erscheinen erstrecken, sobald auf
Grund dieses Gesetzes das Verbot einer einzigen Nummer erfolgte. Zuständig
in Betreff der Ausübung dieser Befugnisse waren die Polizeibehörden.
Ueber Beschwerden entschied eine Reichskommission, zu welcher der Bundesrat
4 Mitglieder aus seiner Mitte und 5 aus den Mitgliedern der höchsten
Gerichte des Reiches oder einzelnen Bundesstaaten wählte.
Ferner bestimmte §
28 des Gesetzes, daß für Bezirke oder Ortschaften, welche durch
die oben bezeichneten Bestrebungen mit Gefahr für die öffentliche
[S.323] Sicherheit bedroht sind, von den Centralbehörden
der Bundesstaaten mit Genehmigung des Bundesrats gewisse Einschränkungen
für die Dauer von längstens einem Jahr getroffen werden konnten
(kleiner Belagerungszustand). Versammlungen
durften darnach nur mit vorgängiger Genehmigung der Polizeibehörde
stattfinden. Auf Versammlungen zu einer ausgeschriebenen Wahl zum Reichstag
erstreckte sich diese Beschränkung nicht. Die Verbreitung von Druckschriften
auf öffentlichen Wegen, Straßen, Plätzen oder an anderen
öffentlichen Orten durfte nicht stattfinden. Personen, von denen eine
Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung zu befürchten
ist, konnte der Aufenthalt in den Bezirken oder Ortschaften versagt werden.
Der Besitz, das Tragen, die Einführung und der Verkauf von Waffen
konnte verboten, beschränkt oder an bestimmte Voraussetzungen geknüpft
werden.
Die Sozialistenpartei
hat sich unter diesem Gesetz nicht vermindert, sondern ist, nach kurzem
Rückgang unter den ersten Einwirkungen der Verbote, mit jeder Reichstagswahl
an Stimmenzahl gewachsen. Es waren 1877 vor dem Sozialistengesetz 493 288
Stimmen abgegeben worden und bei der Auflösung unmittelbar vor der
Annahme des Sozialistengesetzes 438 158. Im Jahre 1881 sank die Stimmenzahl
auf 311 991, stieg dann 1884 auf 549 990, 1887 auf 763 128 und im Februar
1890 auf 1 427 298.
Je mehr man den Sozialismus
in der Oeffentlichkeit unterdrückte, desto stärker ist die Agitation
insgeheim betrieben worden. Die Sozialisten erschienen in den Augen des
Volkes als Märtyrer und gewannen dadurch Sympathien, die sie vielfach
sonst nicht erlangt hätten. Die geheimen Verbindungen wirkten auf
viele Personen erst recht verführerisch. Das Sozialistengesetz bewirkte,
daß zahlreiche bürgerliche Elemente sich der Sozialdemokratie
anschlossen, teils weil sie die wahren sozialdemokratischen Ziele nicht
kannten, teils weil sie glaubten, sich der ungerecht Verfolgten annehmen
zu müssen. Das Gesetz erzeugte unter den Arbeiterklassen das äußerste
Mißtrauen gegen alle Maßregeln der Staatsgewalt im Interesse
der Arbeiter, weil deren Absicht im Widerspruch stand mit der Versagung
der politischen Gleichberechtigung an ihre Berufsgenossen. Es gab den Anhängern
der sozialdemokratischen Partei den Anlaß, unter Berufung auf ein
ihnen versagtes, allen Uebrigen gewährtes Recht sich ungesetzlicher
Mittel zu bedienen, und es erzog damit gerade zu dem, was vor Allem verhindert
werden sollte, zu revolutionärer Gesinnung.
Bei den verschiedenen
Verlängerungen des Sozialistengesetzes schrumpfte im Reichstage
die Mehrheit für dasselbe allmählich zusammen. Im Jahre 1884
stimmte ein großer Teil der Nationalliberalen, welche 1878 für
das Gesetz gestimmt hatten, inzwischen aus der nationalliberalen Partei
ausgeschieden waren und sich mit der Fortschrittspartei zur Freisinnigen
Partei verbunden hatten, gegen die weitere Verlängerung dieses Gesetzes.
Doch geschah dies nicht seitens sämtlicher aus der Liberalen Vereinigung
der Freisinnigen Partei beigetretenen Abgeordneten (über die angeblichen
"Abkommandirungen" bei dieser Abstimmung siehe unter "Abkommandirungen").
In der Reichstagssession
1889/90 wurde ein Gesetzentwurf vorgelegt, welcher das bestehende
Gesetz in einigen Punkten milderte, dagegen ohne Endtermin das Gesetz zu
einem dauernden machen sollte. In der Reichstags=[S.324]=kommission
stimmte die nationalliberale Partei für die Aufhebung des § 28,
also gegen die weitere Zulassung eines Ausweisungsrechts. In Folge dessen
kam dasselbe in Wegfall. Der Gesetzentwurf wurde alsdann im Plenum nach
den Vorschlägen der Kommission im Einzelnen angenommen. Bei der Gesamtabstimmung
über das Gesetz im Ganzen am 25. Februar 1890 aber stimmten die Konservativen
gegen das Gesetz im Ganzen, weil sie ohne die Ausweisungsbefugnis das Gesetz
nicht mehr für ein taugliches Mittel zur Bekämpfung der Sozialdemokratie
erachteten; ebenfalls gegen das Gesetz stimmte die Centrumspartei, weil
sie kein dauerndes Gesetz bewilligen wollte, die Freisinnigen und die Sozialdemokraten,
weil sie überhaupt von einer Verlängerung des Gesetzes nichts
wissen wollten. Auf diese Weise traten nur die Nationalliberalen und die
Freikonservativen für den Gesetzentwurf ein. Derselbe wurde demgemäß
mit 169 gegen 98 Stimmen abgelehnt. -- Im März 1890 wurde der Reichskanzler
Fürst Bismarck verabschiedet. In den folgenden Sessionen ist der Versuch,
das Sozialistengesetz zu verlängern oder zu erneuern, nicht gemacht
worden.
Ueber die auf gemeinrechtlichem
Boden stehende Umsturzvorlage, welche in
der Session 1894/95 gemacht wurde, siehe "Umsturzvorlage". In der Novelle
zum Vereinsgesetz, welche 1897 dem preußischen Abgeordnetenhause
gemacht wurde, waren Bestimmungen enthalten, welche zur Auflösung
von Versammlungen und zum Verbot von Vereinen ermächtigten, deren
Zweck oder Thätigkeit den Strafgesetzen zuwiderläuft oder die
öffentliche Sicherheit insbesondere die Sicherheit des Staates oder
den öffentlichen Frieden gefährdet. Nachdem im Abgeordnetenhause
diese Bestimmungen abgelehnt waren, nahm das Herrenhaus an deren Stelle
Bestimmungen an, welche die Behörden ermächtigten, Versammlungen
aufzulösen und Vereine zu schließen, in welchen anarchistische
und sozialdemokratische, auf den Umsturz der bestehenden Staats= und Gesellscharfsordnung
gerichtete Bestrebungen in einer die öffentliche Sicherheit, insbesondere
die Sicherheit des Staates gefährdenden Weise zu Tage treten. Diese
Bestimmungen, wegen deren man den Gesetzentwurf auch als "kleines
Sozialistengesetz" bezeichnete, wurden im Abgeordnetenhausse
mit einer Mehrheit von 4 Stimmen abgelehnt. Das Gesetz kam infolgedessen
überhaupt nicht zu stande. (Siehe das Nähere darüber unter
"Vereins= und Versammlungsrecht".)
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