Eugen Richter
1838-1906











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Politisches ABC=Buch
9. Auflage, 1898

 

Vereins- und Versammlungsrecht. [S.357] Obwohl die Zuständigkeit der Reichsgesetzgebung sich seit 1871 auch auf das Vereins= und Versammlungsrecht erstreckt, beschränkt sich die Gesetzgebung des Reiches in dieser Beziehung lediglich auf den § 17 des Reichswahlgesetzes von 1869. Die Wahlberechtigten haben danach das Recht, zum Betriebe der den Reichstag betreffenden Wahl=[S.358]=angelegenheiten Vereine zu bilden und in geschlossenen Räumen unbewaffnet öffentliche Versammlungen zu veranstalten. Die Bestimmungen der Landesgesetze über die Anzeige der Versammlungen und Vereine, sowie über die Ueberwachung derselben bleiben unberührt. -- Diese Bestimmung wurde erlassen, um in den beiden Mecklenburg wenigstens für die Vorbereitung von Reichstagswahlen die Abhaltung öffentlicher Versammlungen von polizeilicher Genehmigung unabhängig zu machen.

     Abgesehen von der vorstehenden Bestimmung gilt also in Bezug auf das Vereins= und Versammlungsrecht überall die Partikulargesetzgebung. Diese ist eine durchaus verschiedene; für einzelne Staaten giebt es überhaupt keine besonderen Vereinsgesetze und herrscht vollständige Vereins= und Versammlungsfreiheit, während in den beiden Mecklenburg die Abhaltung jeder politischen Versammlung von einer Genehmigung des Ministeriums des Innern abhängig ist.

     Nach § 8 des preußischen Vereinsgesetzes von 1850 dürfen Vereine, welche bezwecken, politische Gegenstände in Versammlungen zu erörtern, nicht mit einander in Verbindung treten. Als Herr v. Köller Minister des Innern war, wurde unter Berufung auf diesen Paragraphen im Herbst 1895 der sozialdemokratische Parteivorstand aufgelöst, desgleichen die Wahlorganisation der Sozialdemokraten in Berlin. Dies gab im Reichstage Veranlassung zu Initiativanträgen in Bezug auf die Vereinsgesetzgebung. Die Freisinnige Volkspartei brachte einen Antrag ein, welcher bezweckte, das Koalitionsverbot für politische Vereine aufzuheben. Zugleich sollten auch die Bestimmungen beseitigt werden, welche gegenwärtig in beiden Mecklenburg die Bildung von politischen Vereinen und die Abhaltung von politischen Versammlungen an die Genehmigung der Behörden knüpfen. Von sozialdemokratischer Seite war ein Antrag eingebracht worden, der in radikaler Weise auch alle sonstigen Beschränkungen des Vereins= und Versammlungsrechts beseitigen wollte. Die Freisinnige Volkspartei ließ sich bei der Beschränkung diser Anträge von der Auffassung leiten, daß für das Zustandekommen eines vollständigen Reichsvereinsgesetzes die Aussichten zur Zeit gering wären und daß man sich deshalb, wenn man überhaupt alsbald etwas erreichen wollte, auf das Notwendigste beschränken müsse, hinsichtlich dessen alle politischen Parteien übereinstimmen.

     Die Kommission des Reichstags, welche zur Vorberatung der beiden Anträge niedergesetzt war, stellte zwar den vollständigen Entwurf eines Reichsvereinsgesetzes von 18 Paragraphen auf und nahm diesen Entwurf mit allen gegen eine Stimme an, im Reichstag aber einigten am 17. Juni 1896 alle Parteien mit Ausnahme der beiden konservativen Fraktionen sich dahin, einen Gesetzentwurf anzunehmen, der sich auf den einzigen Artikel beschränkte: Inländische Vereine jeder Art dürfen mit einander in Verbindung treten; entgegenstehende landesgesetzliche Bestimmungen sind aufgehoben.

     Am 27. Juni, als der Reichstag in zweiter Lesung das Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch zu erledigen im Begriff stand, beantragte der Abg. Auer die Uebernahme des beschlossenen Notparagraphen in jenes Einführungsgesetz. Die Mehrheit war geneigt, den Antrag anzunehmen, [S.359] sodaß der Bundesrat gezwungen gewesen wäre, das Bürgerliche Gesetzbuch mit jenem Notparagraphen oder gar nicht anzunehmen. Nun aber erhob der Reichskanzler Einspruch: Der Paragraph gehöre nicht in das Bürgerliche Gesetzbuch, weil er nicht das Privat=, sondern das öffentliche Recht betreffe; er würde überdies ganz überflüssig werden, da die beteiligten Regierungen die Absicht hätten, das Verbot der Verbindung unter politischen Vereinen, wo es noch bestehe, aufzuheben. Die Aufhebung würde unter allen Umständen früher eintreten, als dies durch eine Aufnahme in das Bürgerliche Gesetzbuch möglich wäre, da dieses erst mit dem Beginn des nächsten Jahrhunderts Rechtsgültigkeit erlange. Während von Seiten der Linken Mißtrauen in diese Zusicherung des Reichskanzlers gesetzt wurde, begrüßten die Abgg. Dr. Lieber und v. Bennigsen hoffnungsvoll die Erklärung des Reichskanzlers.

     Bei der Eröffnung der preußischen Landtagssession im November 1896 wurde zwar die Vorlage einer Novelle zum Vereinsgesetz angekündigt, aber erst unter dem 10. Mai 1897 gelangte im Abgeordnetenhause eine Novelle zur Vorlage. Dieselbe beschränkte sich aber nicht darauf, das Koalitionsverbot aufzuheben, sondern erweiterte auch das Recht, Versammlungen aufzulösen und Vereine zu verbieten. Während nach dem preußischen Vereinsgesetz Versammlungen in der Hauptsache nur aufgelöst werden dürfen, wenn Anträge oder Vorschläge erörtert werden, die eine "Aufforderung oder Aufreizung zu strafbaren Handlungen enthalten", wollte diese Novelle der Behörde das Recht geben, alle "Versammlungen, welche den Strafgesetzen zuwiderlaufen oder welche die öffentliche Sicherheit, insbesondere die Sicherheit des Staates oder den öffentlichen Frieden, gefährden", aufzulösen. Auch sollten unter denselben Voraussetzungen Vereine von der Landespolizeibehörde geschlossen werden können. Ferner war in dieser Novelle die Bestimmung enthalten, daß an Versammlungen, in denen politische Angelegenheiten erörtert und beraten werden, Minderjährige nicht teilnehmen dürfen. Dasselbe sollte gelten von den Versammlungen und Sitzungen solcher Vereine.

     Somit war die Aufhebung des Koalitionsverbots an Bedingungen geknüpft schnurstracks im Gegensatz zu der Richtung, welche bei den Verhandlungen über das Reichsvereinsgesetz in der großen Mehrheit des Reichstags zum Ausdruck gekommen war. Dieser Versuch, den preußischen Landtag gegen den Reichstag auszuspielen und die dem Reichstag gegebene Zusage illusorisch zu machen, gab im Reichstage den beiden freisinnigen Parteien, der Centrumspartei, den Polen, Antisemiten und Sozialdemokraten Veranlassung, sogleich einen Gesetzentwurf einzubringen mit der Bestimmung, daß inländische Vereine jeder Art mit einander in Verbindung treten dürfen. Der Gesetzentwurf gab zu einer erregten Verhandlung am 18. März 1897 Veranlassung und wurde alsdann in namentlicher Abstimmung mit 207 Stimmen gegen 53 der Konservativen und Freikonservativen angenommen. Am 20. Mai erfolgte die Annahme des Gesetzentwurfs in dritter Lesung.

     Bald darauf kam im preußischen Abgeordnetenhause am 28. Mai die Novelle zum Vereinsgesetz in zweiter Lesung zur Verhandlung. In der Kommission war die Erweiterung des Rechts zur Auflösung von Versammlungen und zum Verbot von Vereinen gegen die Stimmen der beiden konservativen [S.360] Parteien abgelehnt worden. Dagegen hatte eine Mehrheit, aus Konservativen, Freikonservativen, Nationalliberalen bestehend, das Verbot der Teilnahme an politischen Versammlungen und Vereinen für Minderjährige unter gewissen Beschränkungen, welche die Auflösung von Versammlungen wegen Uebertretung eines solchen Verbots verhindern sollten, angenommen. In dieser Beschränkung auf die Aufhebung des Koalitionsverbots für politische Vereine und das Verbot der Teilnahme von Minderjährigen an politischen Vereinen und Versammlungen gelangte am 31. März in dritter Beratung der Gesetzentwurf im Abgeordnetenhause zur Annahme, nachdem in namentlicher Abstimmung am 28. Mai mit 206 gegen 193 Stimmen die freikonservativen Anträge abgelehnt worden waren. Dieselben wollten der Polizeibehörde das Recht gewähren, "Versammlungen, in welchen anarchistische, sozialistische oder kommunistische, auf den Umsturz der bestehenden Staats= und Gesellschaftsordnung gerichtete Bestrebungen in einer die öffentliche Sicherheit, insbesondere die Sicherheit des Staats gefährdenden Weise zu Tage treten, aufzulösen." Unter denselben Voraussetzungen sollten Vereine geschlossen werden können. Für diese Anträge stimmten nur die Konservativen und die Freikonservativen. Mit Recht hat man diese Anträge als den Versuch bezeichnet, ein "kleines Sozialistengesetz" in der Beschränkung auf Preußen wiederherzustellen.

     Da dieser Gesetzentwurf eine Abänderung der verfassungsmäßig garantirten Vereins= und Versammlungsfreiheit enthielt, so mußte die Abstimmung nach Ablauf von 3 Wochen am 22. Juni wiederholt werden. Diese Abstimmung bestätigte die Annahme der Novelle in der Fassung der ersten Abstimmung.

     Nunmehr gelangte der Gesetzentwurf an das Herrenhaus. Das Herrenhaus nahm die im Abgeordnetenhause abgelehnten Anträge (kleines Sozialistengesetz) an. Hierauf kam die Novelle am 24. Juni nochmals im Abgeordnetenhause zur Verhandlung. Hierbei wurde Artikel I der Vorlage des Herrenhauses mit 209 gegen 205 Stimmen abgelehnt. Für Artikel I stimmten die Konservativen, die Freikonservativen und die nationalliberalen Abgg. Bueck und Schoof. Der nationalliberale Abg. von Sanden enthielt sich der Abstimmung. Darauf wurde auch der übrige Teil des Gesetzentwurfes abgelehnt.