Politisches
ABC=Buch
9. Auflage, 1898
Wucher und Wuchergesetz.
[S.394] Von jeher haben es die Freisinnigen
für ihre besondere Aufgabe erachtet, der Kreditnot und dem Wucher
wirksam zu begegnen, und zu diesem Zweck sich überall bemüht,
positive Einrichtungen zu begründen
und zu unterstützen, welche die Nachteile von Notfällen ausgleichen
durch Versicherungen oder auch den kleineren Leuten für Erwerbszwecke
einen geeigneten Kredit zu mäßigem Preise zu gewähren.
Letzteres bezwecken die Vorschußvereine,
die Kreditvereine und ähnliche Genossenschaften, wie sie namentlich
nach dem Muster von Schulze=Delitzsch durch Selbsthilfe der Beteiligten
zu Tausenden, insbesondere auch von freisinnigen Männern begründet
worden sind (siehe "Genossenschaften").
Zweifelhaft
aber ist die Wirkung von besonderen Bestimmungen des Strafgesetzbuchs
in Bezug auf den Wucher. Die allgemeinen Zinsbeschränkungen sind 1867
im Reichstag unter Zustimmung auch der Konservativen und Klerikalen mit
einer "an Einigkeit grenzenden Mehrheit", wie es im stenographischen Bericht
heißt, aufgehoben worden. Ein Gesetz von 1880, welches den
Wucher bei Darlehen bestraft, charakterisirt den Wucher als eine Ausbeutung
der Notlage, des Leichtsinns oder der Unerfahrenheit eines Andern durch
Versprechung von Vermögensvorteilen, die den üblichen Zinsfuß
dergestalt überschreiten, daß nach den Umständen des Falles
die Vermögensvorteile im auffälligen Mißverhältnis
zu der Leistung stehen. Dieses Gesetz von 1889 hat in keiner Weise die
von seinen Urhebern darauf gesetzten Erwartungen erfüllt. -- Infolgedessen
ist unter dem 19. Juni 1893 ein neues Wuchergesetz
publizirt worden, welches die Strafbestimmung von 1880 ausdehnt über
die Darlehnsgeschäfte hinaus auf den sogenannten Sachwucher
d. h. auf alle diejenigen Rechtsgeschäfte, bei welchen die oben bezeichneten
Kriterien vorliegen.
Bei der Unbestimmtheit
dieser Kriterien aber wird in der praktischen Anwendung alles auf das diskretionäre
Ermessen des Richters gestellt. Denn das Kriterium der Ausbeutung der Notlage,
des Leichtsinns oder Unerfahrenheit [S.395] knüpft
nicht an eine äußere Erscheinung, sondern an einen Gemütszustand
an. Im Allgemeinen wird überall dort, wo eine hohe Gegenleistung in
Frage kommt, entweder auf einen Notstand oder auf Leichtsinn oder auf Unerfahrenheit
zu schließen sein. Während bei Darlehnsgeschäften noch
immer ein gewisser Maßstab für die Beurteilung gegeben ist in
der Ueberschreitung des üblichen Zinsfußes. bleibt bei dem Sachwucher
auch dies außer Betracht. Für die willkürlichsten Denunziationen
wird der weiteste Spielraum eröffnet. Man braucht sich, wenn ein Geschäft
nicht einschlägt und den versprochenen Gewinn nicht bringt, nur auf
seine Unerfahrenheit und auf unverhältnismäßige Leistungen
zu berufen, um eine Denunziation gegen denjenigen
formuliren zu können, mit dem man das Geschäft abgeschlossen.
Für Erpressungsversuche öffnet
sich ein unabsehbares Feld. Auch ein redlicher und sich seiner Redlichkeit
bewußter Geschäftsmann ist denselben Erpressungen ausgesetzt,
wenn er es vermeiden will, daß der Name seiner Firma und seine Geschäftspraxis
im Einzelnen zum Gegenstand einer gerichtlichen Verhandlung gemacht wird.
Aus diesen Gründen
stimmten die Freisinnigen dem Gesetz nicht zu.
Sie waren der Ansicht, daß die neuen Strafbestimmungen die Zahl gerade
der soliden Kreditgeber vermindern können, bei denen die
Gewährung des Kredits mit einem mehr oder weniger erheblichen Risiko
verknüpft ist. Der Gesetzgeber kann aber niemand zwingen, einem Anderen
Kredit zu gewähren. Infolgedessen kann jede Erschwerung der Kreditbedingungen
dazu führen, daß der Kreditbedürftige anstatt eines teueren
Kredits nun gar keinen Kredit mehr erhält
und in eine noch schlimmere Lage gerät. -- Die Gerichtsverhandlungen,
welche seit 1893 stattgefunden haben, sind auch wenig geeignet, die bei
der Beratung der Gesetzesvorlage geäußerten Ansichten der Freisinnigen
zu widerlegen. Vielfach haben Freisprechungen stattfinden müssen;
in anderen Fällen, in denen auf Bestrafung erkannt wurde, war diese
Bestrafung schon durch das Kriterium des Betruges angezeigt, würde
also auch ohne die Wuchergesetze haben stattfinden müssen.
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