Eugen Richter
1838-1906













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Politisches ABC=Buch
9. Auflage, 1898

 
 

Wucher und Wuchergesetz. [S.394] Von jeher haben es die Freisinnigen für ihre besondere Aufgabe erachtet, der Kreditnot und dem Wucher wirksam zu begegnen, und zu diesem Zweck sich überall bemüht, positive Einrichtungen zu begründen und zu unterstützen, welche die Nachteile von Notfällen ausgleichen durch Versicherungen oder auch den kleineren Leuten für Erwerbszwecke einen geeigneten Kredit zu mäßigem Preise zu gewähren. Letzteres bezwecken die Vorschußvereine, die Kreditvereine und ähnliche Genossenschaften, wie sie namentlich nach dem Muster von Schulze=Delitzsch durch Selbsthilfe der Beteiligten zu Tausenden, insbesondere auch von freisinnigen Männern begründet worden sind (siehe "Genossenschaften").
 
     Zweifelhaft aber ist die Wirkung von besonderen Bestimmungen des Strafgesetzbuchs in Bezug auf den Wucher. Die allgemeinen Zinsbeschränkungen sind 1867 im Reichstag unter Zustimmung auch der Konservativen und Klerikalen mit einer "an Einigkeit grenzenden Mehrheit", wie es im stenographischen Bericht heißt, aufgehoben worden. Ein Gesetz von 1880, welches den Wucher bei Darlehen bestraft, charakterisirt den Wucher als eine Ausbeutung der Notlage, des Leichtsinns oder der Unerfahrenheit eines Andern durch Versprechung von Vermögensvorteilen, die den üblichen Zinsfuß dergestalt überschreiten, daß nach den Umständen des Falles die Vermögensvorteile im auffälligen Mißverhältnis zu der Leistung stehen. Dieses Gesetz von 1889 hat in keiner Weise die von seinen Urhebern darauf gesetzten Erwartungen erfüllt. -- Infolgedessen ist unter dem 19. Juni 1893 ein neues Wuchergesetz publizirt worden, welches die Strafbestimmung von 1880 ausdehnt über die Darlehnsgeschäfte hinaus auf den sogenannten Sachwucher d. h. auf alle diejenigen Rechtsgeschäfte, bei welchen die oben bezeichneten Kriterien vorliegen.
 
     Bei der Unbestimmtheit dieser Kriterien aber wird in der praktischen Anwendung alles auf das diskretionäre Ermessen des Richters gestellt. Denn das Kriterium der Ausbeutung der Notlage, des Leichtsinns oder Unerfahrenheit [S.395] knüpft nicht an eine äußere Erscheinung, sondern an einen Gemütszustand an. Im Allgemeinen wird überall dort, wo eine hohe Gegenleistung in Frage kommt, entweder auf einen Notstand oder auf Leichtsinn oder auf Unerfahrenheit zu schließen sein. Während bei Darlehnsgeschäften noch immer ein gewisser Maßstab für die Beurteilung gegeben ist in der Ueberschreitung des üblichen Zinsfußes. bleibt bei dem Sachwucher auch dies außer Betracht. Für die willkürlichsten Denunziationen wird der weiteste Spielraum eröffnet. Man braucht sich, wenn ein Geschäft nicht einschlägt und den versprochenen Gewinn nicht bringt, nur auf seine Unerfahrenheit und auf unverhältnismäßige Leistungen zu berufen, um eine Denunziation gegen denjenigen formuliren zu können, mit dem man das Geschäft abgeschlossen. Für Erpressungsversuche öffnet sich ein unabsehbares Feld. Auch ein redlicher und sich seiner Redlichkeit bewußter Geschäftsmann ist denselben Erpressungen ausgesetzt, wenn er es vermeiden will, daß der Name seiner Firma und seine Geschäftspraxis im Einzelnen zum Gegenstand einer gerichtlichen Verhandlung gemacht wird.
 
     Aus diesen Gründen stimmten die Freisinnigen dem Gesetz nicht zu. Sie waren der Ansicht, daß die neuen Strafbestimmungen die Zahl gerade der soliden Kreditgeber vermindern können, bei denen die Gewährung des Kredits mit einem mehr oder weniger erheblichen Risiko verknüpft ist. Der Gesetzgeber kann aber niemand zwingen, einem Anderen Kredit zu gewähren. Infolgedessen kann jede Erschwerung der Kreditbedingungen dazu führen, daß der Kreditbedürftige anstatt eines teueren Kredits nun gar keinen Kredit mehr erhält und in eine noch schlimmere Lage gerät. -- Die Gerichtsverhandlungen, welche seit 1893 stattgefunden haben, sind auch wenig geeignet, die bei der Beratung der Gesetzesvorlage geäußerten Ansichten der Freisinnigen zu widerlegen. Vielfach haben Freisprechungen stattfinden müssen; in anderen Fällen, in denen auf Bestrafung erkannt wurde, war diese Bestrafung schon durch das Kriterium des Betruges angezeigt, würde also auch ohne die Wuchergesetze haben stattfinden müssen.