Jugenderinnerungen
4. Berufswahl.
Auch über die
allgemeinen politischen Verhältnisse waren wir im Elternhause an dieselbe
freimütige Betrachtungsweise gewöhnt, wie sie meinem Vater in
seinen Schriften über Fragen seines Berufes eigen war.
Mein erwachendes Interesse
für öffentliche Dinge fiel zusammen mit der schwärzesten
und finstersten Zeit der Reaktion nach 1850. Ueber die Schmach von Olmütz,
die Preisgebung von Schleswig-Holstein und der ganzen deutschen Sache hörte
ich unablässig in den bittersten und schärfsten Worten klagen.
Dann begann mit der Ernennung Kleist-Retzow's zum Oberpräsidenten
in Koblenz in der ganzen Rheinprovinz die elendeste, kleinlichste Polizeiwirtschaft,
welche bald Spott, bald Entrüstung hervorrief. Unter der Einwirkung
von Kleist-Retzow machte sich in Koblenz selbst eine Orthodoxie und ein
äußeres Kirchenwesen breit, dessen Anblick dem Prinzen [S.20]
von Preußen nicht zum Wenigsten Veranlassung gegeben haben mag zu
seinen bekannten Bemerkungen über Heuchelei, Scheinheiligkeit und
Kirchenwesen zu egoistischen Zwecken in der Ansprache beim Antritt seiner
Regentschaft. Auch der Kirchenbesuch der Beamten wurde in Koblenz kontrolirt,
und die strebsamsten darunter konnte man, mit möglichst großen
und augenfälligen Gesangbüchern bewaffnet, Sonntags über
die Straße wallen sehen.
Der Hof des Prinzen
von Preußen hatte mit diesem Treiben nichts gemein. Man munkelte
bald, daß der Aufenthalt des prinzlichen Paares in Koblenz eine Art
Verbannung von Berlin darstelle. Auch der scharfe persönliche Gegensatz
zwischen dem Prinzen von Preußen und dem Oberpräsidenten v.
Kleist-Retzow, wie er selbst in allerlei Aeußerlichkeiten zu Tage
trat, war bald in der ganzen Stadt ein öffentliches Geheimniß.
Bekanntlich wurde Kleist-Retzow dann auch sogleich nach Beginn der Regentschaft
zur Disposition gestellt. Manch' freimütiges Wort der Prinzessin von
Preußen über "das arme zerrissene Deutschland" brachte die Mutter
aus den Damenzusammenkünften mit nach Hause.
Mit großem Interesse
wurde im Elternhause die "Kölnische Zeitung", welche Kleist-Retzow
vergeblich zu unterdrücken versucht hatte, gelesen. Die scharfen Parlamentsreden
von [S.21] Vincke, Wentzel und den Gebrüdern
Reichensperger mit ihrer Kritik der reaktionären Wirtschaft verschlang
ich Abends nach beendigten Schularbeiten. Einst begegnete ich auch mit
meinem Vater August Reichensperger auf dem Rheindampfer und war nicht wenig
stolz darauf, als derselbe nach der Vorstellung einige freundliche Worte
an mich richtete.
Aus der Kasinobibliothek
brachte mir mein Vater Steins Leben von Pertz, Gervinus' Geschichte des
19. Jahrhunderts und andere politische Bücher mit. Ueber die neuere
Geschichte dieses Jahrhunderts hatten wir auf dem Gymnasium so gut wie
nichts erfahren.
Unter allen solchen
Eindrücken des Elternhauses und der Lektüre war für mich
kein anderer Beruf möglich, als das Universitätsstudium von Rechts-
und Staatswissenschaften. Mir schwebte dabei freilich von Anfang an weit
weniger ein büreaumäßiger Lebenslauf vor, als der Wunsch,
die öffentlichen Zustände in ihrem Wesen und Zusammenhang kennen
zu lernen.
Meine Eltern faßten
die Sache freilich erheblich realistischer auf. Der Eindruck meines Entschlusses
war für sie ein recht gemischter. Herrschte doch im Beamtenwesen gerade
damals das elendeste Strebertum vor. Zudem waren der Justizdienst und das
Verwaltungsfach überfüllt. Auch die Advokatur war damals in der
[S.22] Rheinprovinz geschlossen worden. Im regelmäßigen
Verlauf der Dinge dauerte es damals 16 Jahre von Beginn der Universitätszeit
oder mehr als 10 Jahre nach dem Assessorexamen bis zum ersten regelmäßigen
Einkommen. Meine Eltern hatten kein Vermögen. Das knappe Einkommen,
welches damals Generalärzte bezogen, mußte demnächst mit
der Pensionirung noch eine Verminderung erfahren.
Aber trotz Alledem und
Alledem wollten die Eltern meinem Wunsche nicht entgegen sein. Die erste
Wirkung meines Entschlusses bestand freilich darin, daß mein Vater
das gewohnte Reitpferd und zugleich den männlichen Dienstboten abschaffte.
Die ersparten Rationsgelder wurden für meinen Unterhalt auf der Universität
zurückgelegt.
Niemals im Leben habe
ich mich undankbarer erwiesen, als indem ich späterhin im Reichstage
dafür wirkte, die Rationsgelder nur für wirklich gehaltene Pferde
auszuzahlen. Wäre der Rationsbezug schon zu jener Zeit von der Pferdehaltung
abhängig gewesen, so würde ich schwerlich die Mittel gefunden
haben, um die Universität zu beziehen. [S.23]
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