Jugenderinnerungen
1. Gymnasium in Koblenz.
Numero
drei, so lautete das Schulzeugnis, welches ich in großer
Zerknirschung zu den Michaelisferien 1849 aus der Quinta mit nach Hause
brachte. Damit war alle Hoffnung abgeschnitten, vor Ablauf eines zweiten
Jahres nach Quarta versetzt zu werden.
Der Vater war abwesend
und hatte als Generalarzt aus Anlaß des badischen Feldzuges die Oberleitung
der Lazarette von Frankfurt a. M. bis zum Seekreis übertragen erhalten.
Meine Mutter konnte sich in mein Loos nicht sogleich ergeben. In außerordentlicher
Mission wurde deshalb der Klavierlehrer zum Klassenlehrer abgesandt, ob
sich nicht doch noch durch Nachhilfestunden während der Ferien und
eine Prüfung eine Brücke zur Quarta für mich schlagen ließe.
Aber es ging wirklich nicht.
Wir waren 84 Schüler
in der ungeteilten Quinta gewesen. Allerdings war im Laufe [S.2]
des Jahres bei den lateinischen Probeextemporalien die Zahl meiner grammatikalischen
Fehler schon einmal unter 30 gesunken, und ich in Folge dessen unter 84.
der 75. geworden. Aber bald kam der Rückschlag. Ich nahm für
den Rest des Jahres die Gewohnheit wieder an, auf den beiden untersten
Plätzen abzuwechseln.
Warum gab es auch so
viele unregelmäßige Verba im Lateinischen! Ich konnte weder
deren Notwendigkeit im allgemeinen noch ihren besonderen Nutzen für
mich persönlich erkennen.
Auch im folgenden Jahre
vermochte nicht mich nur sehr langsam und allmählich mit diesen Plagegeistern
der Jugend zu befreunden. Aber ich erhielt nunmehr in meinem späteren
Parlamentskollegen Karl v. Huene und dem
verstorbenen Hermann Mosler wahre Musterknaben
zu Vorbildern. Sieben Jahre hindurch bin ich mit denselben gleichmäßig
von Klasse zu Klasse aufgestiegen, und wir haben auch gemeinsam im Alter
von 18 Jahren das Abiturientenexamen im August 1856 bestanden.
Mir freilich ist es
bis zuletzt mit den alten Sprachen recht sauer geworden. Mosler dagegen
erinnere ich mich nicht anders als auf der ersten Bank gesehen zu haben.
Mein Abiturientenzeugnis rühmt zwar, daß ich im Lateinischen
"gute", im Griechischen "befriedigende" Kenntnisse erworben. Auch wurde
v. Huene, Mosler [S.3] und mir nebst vier anderen
die mündliche Prüfung erlassen. Aber ich war so wenig von einem
erhebenden Bewußtsein über diese "klassische Bildung" durchdrungen,
daß es der ganzen Energie meines Vaters bedurfte, um mich zu verhindern,
sogleich nach dem Examen sämmtliche alte Klassiker für ein Billiges
beim Antiquar zu verkaufen.
Mag sein, daß
es teilweise an der Methode lag, welche beispielsweise die Lektüre
des Homer hauptsächlich dazu benutzte, um die griechische Partikellehre
und sonstige Grammatikalien in allen ihren Feinheiten einzuschärfen.
Aber meine Ansichten über den Wert der Schulbildung in den alten Sprachen
sind auch jetzt, 36 Jahre nach dem Abiturientenexamen, gleich ketzerische
geblieben.
Unbeschadet abweichender
Ansichten in vielen anderen Dingen, war deshalb die Rede Kaiser Wilhelms
II. in der Schulkonferenz im Dezember 1890 gegen eine Ueberschätzung
des Unterrichts in den alten Sprachen mir völlig aus der Seele gesprochen.
Umsomehr habe ich bedauert, daß die altklassischen Philologen auch
gegen diesen Ansturm in der Hauptsache ihren Besitzstand gewahrt haben.
Das Abgeordnetenhaus ist um seine Meinung bekanntlich gar nicht gefragt
worden.
Was ich wohl heute darum
geben würde, wenn ich damals wöchentlich 6 Stunden Englisch [S.4]
statt Griechisch hätte treiben dürfen und von den 10 Lateinstunden
die Hälfte zu einer den Anforderungen der Gegenwart entsprechenden
Grundbildung in den Naturwissenschaften verwandt worden wäre! Was
Hänschen nicht hat lernen können, lernt Hans nur allzu schwer.
Das sollte ich zur Genüge erfahren, als ich nach der Gymnsialzeit
mich bemühte, jene Lücken der allgemeinen Bildung auszufüllen.
Hätte ich sonst
freie Zeit, alle meine Agitationskraft würde ich darauf verwenden,
um wenigstens die heutige Gymnasialjugend befreien zu helfen von einem
überkommenen falschen Bildungsgang.
Allerdings der lateinische
Aufsatz im Abiturientenexamen ist aus Anlaß jener Schulkonferenz
1891 beseitigt worden. Leider bin ich 40 Jahre zu früh auf die Welt
gekommen, um noch Nutzen daraus ziehen zu können. Aber bezeugen kann
ich auch aus eigener Erfahrung, daß ein "guter" lateinischer Aufsatz
im Abiturientenexamen für die allgemeine Befähigung nichts beweist.
Um diese für mich gefährliche Klippe beim Examen zu umschiffen,
lernte ich vor dem Examen meine letzten sechs lateinischen Klassenaufsätze
auswendig und es gelang mir nun, aus den lateinischen Phrasen dieser korrigirten
Aufsätze den Examensaufsatz zusammenzustoppeln, da die The-[S.5]-mata
für solche Aufsätze stets sehr weit gesteckt wurden.
Glücklicherweise
war unser Direktor damals schon der Ansicht, daß der deutsche Aufsatz
den Mittelpunkt des Unterrichts in den höheren Klassen bilden müsse.
Seiner sorgsamen Unterweisung hatten v. Huene und ich es zu verdanken,
daß wir zuletzt von den deutschen Klassenaufsätzen dispensirt
werden konnten gegen die Verpflichtung, eine größere selbständige
Arbeit zu liefern. Ich erhielt dazu das Thema einer Vergleichung der Iphigenie
auf Tauris nach Goethe und Euripides. Ich bezweifle freilich, daß
die Litteraturgeschichte in Folge der unterlassenen Drucklegung jener Arbeit
irgend etwas verloren hat. Immerhin glaube ich, daß abgesehen von
Wahl des Themas eine solche Ausbildungsweise eine richtige war. Jedenfalls
trug sie mir im Abiturientenexamen die Bemerkung ein, daß ich Proben
abgelegt, nach denen ich durch selbständige Studien mich weiterzubilden
im Stande sei.
Wenn nur die Mathematik
nicht gewesen wäre! Wir hatten allesamt in den oberen Klassen nichts
Rechtes mehr gelernt darin. Denn unser alter Professor, ein Schweizer und
ehemaliger Schüler Pestalozzis, hatte in den Stunden lieber mit uns
sich verplaudert, als dem Unterricht Zeit gewidmet. Kam dann hoher Besuch
in die Klasse, so mußte v. Huene als Parade-[S.6]-mathematiker
vor die Tafel. Sein besonderes mathematisches Wissen vermochten die Anderen
uns nur daraus zu erklären, daß ihm sein Vater, ein Ingenieurgeneral,
in der Mathematik Privatunterricht erteilte.
Da starb unmittelbar
vor dem Abiturientenexamen unser alter Lehrer. Nun war die Not groß.
Indessen man hatte ein menschliches Einsehen. Bestimmte mündliche
Aufgaben wurden uns vorher eingepaukt, um vor dem Schulrat bestehen zu
können. In Bezug auf die schriftlichen Arbeiten aber hatten wir uns
schon selbst geholfen. Auf einem dunklen Wege waren wir in den Besitz der
uns bevorstehenden mathematischen Aufgaben gelangt und hatten dieselben
fehlerfrei lösen lassen. Damit aber nicht ein allzu guter Ausfall
der mathematischen Arbeiten die Sache verdächtig erscheinen ließ,
hatten wir uns kameradschaftlich darüber geeinigt, wieviel richtige
und wieviel falsche Aufgaben der Einzelne, je nach seinen mutmaßlichen
Kenntnissen, bei der Prüfung zu liefern habe. Es ist mir denn auch
nicht schwer geworden, die mir zudiktirte Zahl von Fehlern zu machen.
Aber alle Schuld rächt
sich auf Erden. Wehe, wenn ich in schwere Träume verfalle! Dann meldet
sich das Schulgewissen von damals und die Vorstellung wird lebendig, daß
alles, was beim Abiturientenexamen nicht mit richtigen Dingen [S.7]
zugegangen, entdeckt worden ist und daß ich deshalb das ganze Abiturientenexamen
nochmals wiederholen muß. Ein schrecklicher Gedanke! Lieber würde
ich alle meine in 23 Jahren gehaltenen Parlamentsreden nochmals hersagen.
Aus solchen qualvollen Träumen erweckt mich dann erst der beruhigende
Gedanke, daß wenigstens für Abgeordnete die Einführung
des Befähigungsnachweises selbst von der Centrumspartei noch nicht
beantragt worden ist.
Es ist noch nicht lange
her, da feierte das Koblenzer Gymnasium – ein ehemaliges Jesuitenkollegium
– sein dreihundertjähriges Bestehen. Ich habe an der Feier nicht teilgenommen.
Mosler meinte damals, daß den dortigen Behörden die Feierstimmung
getrübt werden könne, wenn er, Huene und ich, drei solch‘ misratenen
Zöglinge aus einem einzigen Jahrgang – die Centrumspartei war damals
noch Oppositionspartei – an der Feier teilnähmen.
Indessen habe ich bei
keinem Besuch in der Stadt Koblenz verabsäumt, auf die alten Schulräume
einen dankbaren Blick zu werfen. Wenn dann gerade das Schulglöckchen
ertönte, bei dessen Klang ich so oft den Gang beschleunigen mußte,
dann wurden mit den alten Erinnerungen vor meinem Geist auch die Gestalten
der alten Lehrer wieder lebendig, welche jetzt wohl sämtlich der kühle
Rasen deckt. [S.8]
Das Koblenzer Gymnasium
war damals ein recht strenges Gymnasium. Unendlich viel habe ich vergessen,
was ich als Abiturient gewußt oder nach dem Inhalt des Zeugnisses
gewußt haben soll. Aber auch heute noch danke ich dem Koblenzer Gymnasium
die nachhaltige Gewöhnung an ernstes und ausdauerndes Arbeiten. [S.9]
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