Eugen Richter
1838-1906










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Jugenderinnerungen
  
 
 

1. Gymnasium in Koblenz. 
 

Numero drei, so lautete das Schulzeugnis, welches ich in großer Zerknirschung zu den Michaelisferien 1849 aus der Quinta mit nach Hause brachte. Damit war alle Hoffnung abgeschnitten, vor Ablauf eines zweiten Jahres nach Quarta versetzt zu werden. 
 
     Der Vater war abwesend und hatte als Generalarzt aus Anlaß des badischen Feldzuges die Oberleitung der Lazarette von Frankfurt a. M. bis zum Seekreis übertragen erhalten. Meine Mutter konnte sich in mein Loos nicht sogleich ergeben. In außerordentlicher Mission wurde deshalb der Klavierlehrer zum Klassenlehrer abgesandt, ob sich nicht doch noch durch Nachhilfestunden während der Ferien und eine Prüfung eine Brücke zur Quarta für mich schlagen ließe. Aber es ging wirklich nicht.
 
     Wir waren 84 Schüler in der ungeteilten Quinta gewesen. Allerdings war im Laufe [S.2] des Jahres bei den lateinischen Probeextemporalien die Zahl meiner grammatikalischen  Fehler schon einmal unter 30 gesunken, und ich in Folge dessen unter 84. der 75. geworden. Aber bald kam der Rückschlag. Ich nahm für den Rest des Jahres die Gewohnheit wieder an, auf den beiden untersten Plätzen abzuwechseln.
 
     Warum gab es auch so viele unregelmäßige Verba im Lateinischen! Ich konnte weder deren Notwendigkeit im allgemeinen noch ihren besonderen Nutzen für mich persönlich erkennen.
 
     Auch im folgenden Jahre vermochte nicht mich nur sehr langsam und allmählich mit diesen Plagegeistern der Jugend zu befreunden. Aber ich erhielt nunmehr in meinem späteren Parlamentskollegen Karl v. Huene und dem verstorbenen Hermann Mosler wahre Musterknaben zu Vorbildern. Sieben Jahre hindurch bin ich mit denselben gleichmäßig von Klasse zu Klasse aufgestiegen, und wir haben auch gemeinsam im Alter von 18 Jahren das Abiturientenexamen im August 1856 bestanden.
 
     Mir freilich ist es bis zuletzt mit den alten Sprachen recht sauer geworden. Mosler dagegen erinnere ich mich nicht anders als auf der ersten Bank gesehen zu haben. Mein Abiturientenzeugnis rühmt zwar, daß ich im Lateinischen "gute", im Griechischen "befriedigende" Kenntnisse erworben. Auch wurde v. Huene, Mosler [S.3] und mir nebst vier anderen die mündliche Prüfung erlassen. Aber ich war so wenig von einem erhebenden Bewußtsein über diese "klassische Bildung" durchdrungen, daß es der ganzen Energie meines Vaters bedurfte, um mich zu verhindern, sogleich nach dem Examen sämmtliche alte Klassiker für ein Billiges beim Antiquar zu verkaufen.
 
     Mag sein, daß es teilweise an der Methode lag, welche beispielsweise die Lektüre des Homer hauptsächlich dazu benutzte, um die griechische Partikellehre und sonstige Grammatikalien in allen ihren Feinheiten einzuschärfen. Aber meine Ansichten über den Wert der Schulbildung in den alten Sprachen sind auch jetzt, 36 Jahre nach dem Abiturientenexamen, gleich ketzerische geblieben.
 
     Unbeschadet abweichender Ansichten in vielen anderen Dingen, war deshalb die Rede Kaiser Wilhelms II. in der Schulkonferenz im Dezember 1890 gegen eine Ueberschätzung des Unterrichts in den alten Sprachen mir völlig aus der Seele gesprochen. Umsomehr habe ich bedauert, daß die altklassischen Philologen auch gegen diesen Ansturm in der Hauptsache ihren Besitzstand gewahrt haben. Das Abgeordnetenhaus ist um seine Meinung bekanntlich gar nicht gefragt worden.
 
     Was ich wohl heute darum geben würde, wenn ich damals wöchentlich 6 Stunden Englisch [S.4] statt Griechisch hätte treiben dürfen und von den 10 Lateinstunden die Hälfte zu einer den Anforderungen der Gegenwart entsprechenden Grundbildung in den Naturwissenschaften verwandt worden wäre! Was Hänschen nicht hat lernen können, lernt Hans nur allzu schwer. Das sollte ich zur Genüge erfahren, als ich nach der Gymnsialzeit mich bemühte, jene Lücken der allgemeinen Bildung auszufüllen.
 
     Hätte ich sonst freie Zeit, alle meine Agitationskraft würde ich darauf verwenden, um wenigstens die heutige Gymnasialjugend befreien zu helfen von einem überkommenen falschen Bildungsgang.
 
     Allerdings der lateinische Aufsatz im Abiturientenexamen ist aus Anlaß jener Schulkonferenz 1891 beseitigt worden. Leider bin ich 40 Jahre zu früh auf die Welt gekommen, um noch Nutzen daraus ziehen zu können. Aber bezeugen kann ich auch aus eigener Erfahrung, daß ein "guter" lateinischer Aufsatz im Abiturientenexamen für die allgemeine Befähigung nichts beweist. Um diese für mich gefährliche Klippe beim Examen zu umschiffen, lernte ich vor dem Examen meine letzten sechs lateinischen Klassenaufsätze auswendig und es gelang mir nun, aus den lateinischen Phrasen dieser korrigirten Aufsätze den Examensaufsatz zusammenzustoppeln, da die The-[S.5]-mata für solche Aufsätze stets sehr weit gesteckt wurden.
 
     Glücklicherweise war unser Direktor damals schon der Ansicht, daß der deutsche Aufsatz den Mittelpunkt des Unterrichts in den höheren Klassen bilden müsse. Seiner sorgsamen Unterweisung hatten v. Huene und ich es zu verdanken, daß wir zuletzt von den deutschen Klassenaufsätzen dispensirt werden konnten gegen die Verpflichtung, eine größere selbständige Arbeit zu liefern. Ich erhielt dazu das Thema einer Vergleichung der Iphigenie auf Tauris nach Goethe und Euripides. Ich bezweifle freilich, daß die Litteraturgeschichte in Folge der unterlassenen Drucklegung jener Arbeit irgend etwas verloren hat. Immerhin glaube ich, daß abgesehen von Wahl des Themas eine solche Ausbildungsweise eine richtige war. Jedenfalls trug sie mir im Abiturientenexamen die Bemerkung ein, daß ich Proben abgelegt, nach denen ich durch selbständige Studien mich weiterzubilden im Stande sei. 
 
     Wenn nur die Mathematik nicht gewesen wäre! Wir hatten allesamt in den oberen Klassen nichts Rechtes mehr gelernt darin. Denn unser alter Professor, ein Schweizer und ehemaliger Schüler Pestalozzis, hatte in den Stunden lieber mit uns sich verplaudert, als dem Unterricht Zeit gewidmet. Kam dann hoher Besuch in die Klasse, so mußte v. Huene als Parade-[S.6]-mathematiker vor die Tafel. Sein besonderes mathematisches Wissen vermochten die Anderen uns nur daraus zu erklären, daß ihm sein Vater, ein Ingenieurgeneral, in der Mathematik Privatunterricht erteilte.
 
     Da starb unmittelbar vor dem Abiturientenexamen unser alter Lehrer. Nun war die Not groß. Indessen man hatte ein menschliches Einsehen. Bestimmte mündliche Aufgaben wurden uns vorher eingepaukt, um vor dem Schulrat bestehen zu können. In Bezug auf die schriftlichen Arbeiten aber hatten wir uns schon selbst geholfen. Auf einem dunklen Wege waren wir in den Besitz der uns bevorstehenden mathematischen Aufgaben gelangt und hatten dieselben fehlerfrei lösen lassen. Damit aber nicht ein allzu guter Ausfall der mathematischen Arbeiten die Sache verdächtig erscheinen ließ, hatten wir uns kameradschaftlich darüber geeinigt, wieviel richtige und wieviel falsche Aufgaben der Einzelne, je nach seinen mutmaßlichen Kenntnissen, bei der Prüfung zu liefern habe. Es ist mir denn auch nicht schwer geworden, die mir zudiktirte Zahl von Fehlern zu machen.
 
     Aber alle Schuld rächt sich auf Erden. Wehe, wenn ich in schwere Träume verfalle! Dann meldet sich das Schulgewissen von damals und die Vorstellung wird lebendig, daß alles, was beim Abiturientenexamen nicht mit richtigen Dingen [S.7] zugegangen, entdeckt worden ist und daß ich deshalb das ganze Abiturientenexamen nochmals wiederholen muß. Ein schrecklicher Gedanke! Lieber würde ich alle meine in 23 Jahren gehaltenen Parlamentsreden nochmals hersagen. Aus solchen qualvollen Träumen erweckt mich dann erst der beruhigende Gedanke, daß wenigstens für Abgeordnete die Einführung des Befähigungsnachweises selbst von der Centrumspartei noch nicht beantragt worden ist.
 
     Es ist noch nicht lange her, da feierte das Koblenzer Gymnasium – ein ehemaliges Jesuitenkollegium – sein dreihundertjähriges Bestehen. Ich habe an der Feier nicht teilgenommen. Mosler meinte damals, daß den dortigen Behörden die Feierstimmung getrübt werden könne, wenn er, Huene und ich, drei solch‘ misratenen Zöglinge aus einem einzigen Jahrgang – die Centrumspartei war damals noch Oppositionspartei – an der Feier teilnähmen.
 
     Indessen habe ich bei keinem Besuch in der Stadt Koblenz verabsäumt, auf die alten Schulräume einen dankbaren Blick zu werfen. Wenn dann gerade das Schulglöckchen ertönte, bei dessen Klang ich so oft den Gang beschleunigen mußte, dann wurden mit den alten Erinnerungen vor meinem Geist auch die Gestalten der alten Lehrer wieder lebendig, welche jetzt wohl sämtlich der kühle Rasen deckt. [S.8]
 
     Das Koblenzer Gymnasium war damals ein recht strenges Gymnasium. Unendlich viel habe ich vergessen, was ich als Abiturient gewußt oder nach dem Inhalt des Zeugnisses gewußt haben soll. Aber auch heute noch danke ich dem Koblenzer Gymnasium die nachhaltige Gewöhnung an ernstes und ausdauerndes Arbeiten. [S.9]