Jugenderinnerungen
3. Mein Vater.
Mein Vater war Militärarzt,
mein Großvater gleichfalls. Weder mein Bruder noch ich verspürten
indes jemals Neigung, uns dem ärztlichen Berufe zu widmen. Aber in
der politischen Denkweise und in dem Interesse für öffentliche
Angelegenheiten hat zwischen dem Vater und uns eine Verschiedenheit niemals
bestanden.
Mein Vater, geboren
zu Sagan 1798, gestorben in Düsseldorf 1876, vorgebildet im Friedrich-Wilhelminstitut
zu Berlin, war auch ein beliebter praktischer Arzt und angesehener medizinischer
Schriftsteller. In der zweiten Hälfte seines Lebens aber widmete er
sein Hauptinteresse der Reform des Militärmedizinalwesens und wirkte
hier als ein energischer Bahnbrecher des Fortschritts, nicht blos im Bereiche
seiner amtlichen Stellung (bis 1848 Regimentsarzt in Düsseldorf, von
1848 bis 1861 Generalarzt in Koblenz), sondern hauptsächlich als Schriftsteller.
[S.14]
Er war, soviel mir bekannt,
der einzige preußische Militärarzt, der in der vormärzlichen
Zeit es wagte, öffentlich in Zeitschriften und Broschüren unter
seinem Namen die bestehenden Mißstände im Militärmedizinalwesen
zu geißeln, insbesondere die Ersetzung des aus dem alten Feldscherwesen
hervorgegangenen Kompagniechirurgentums (10 Thaler monatlich und Kommißbrot)
durch wissenschaftlich gebildete Aerzte zu verlangen. Selbst heute sind
aktive Beamte und Militärpersonen überaus selten, die es wagen,
ohne Genehmigung der hohen Vorgesetzten die Mängel und Gebrechen in
ihrem amtlichen Wirkungskreise in öffentlichen Schriften einer freimütigen,
scharfen Kritik zu unterziehen.
Als dann das Jahr 1848
den reformatorischen Eifer auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens
entfachte, schrieb mein Vater, damals Regimentsarzt der Ulanen in Düsseldorf,
eine Flugschrift "Welche Maßregeln hat Preußen in militärärztlicher
Beziehung in diesem Augenblick zu ergreifen?" Mittelbar veranlaßte
er im Sinne dieser Schrift eine Interpellation in der Nationalversammlung
in Berlin am 18. Juli 1848.
Zufällig am selbigen
Tage wurde er zum Generalarzt des 8. Armeekorps in Koblenz befördert.
In dieser Stellung fühlte er sich erst recht berufen, sowohl in amtlichen
Denkschriften, die bedenklichen Generalstabsärzte und die [S.15]
passiven Kriegsminister in Berlin zu durchgreifenden Reformen anzuregen,
als auch zur Unterstützung seiner Vorschläge die öffentliche
Meinung durch Broschüren aufzurufen.
Nicht die zweijährige
Dienstzeit hatte, wie ein falscher Mythus berichtet, Preußen im Jahre
1850 in seiner Wehrkraft gelähmt. An der organisatorischen Unfähigkeit
des absolutistischen Preußens auch in den einfachsten militärischen
Dingen lag die Schuld. Schon während des badischen Feldzuges wurde
es meinem Vater nicht leicht, auch nur ein einziges leichtes Feldlazarett
binnen 14 Tagen mobil zu machen. Die allgemeine, bekanntlich vollständig
zwecklose Mobilmachung nach den Tagen von Olmütz im November 1850
legte aller Welt den kläglichen Zustand des Armeematerials dar, während
die einberufene Landwehr vom besten Geist beseelt sich zeigte. (Vergl.
Darüber in den Denkwürdigkeiten Moltkes die Erfahrungen desselben
als Generalstabschef in Magdeburg.) Noch sehe ich im Geiste vor mir die
Mannschaften der Landwehr des zweiten Aufgebots. Willig waren die Leute
in Koblenz zu den Fahnen geeilt. Aber in den Depots fanden sie zur Bekleidung
nur Holzschuhe, Leinenhosen und alte Frackuniformen vor, mit denen ausgerüstet
sie sich in der Novemberkälte auf den Straßen als Gegenstand
des Mitleids zeigen mußten. [S.16]
Ausgebildete und disziplinirte
Trainsoldaten waren damals überhaupt nicht vorhanden. Als Krankenwärter
wurden zur Ausstattung der Feldlazarette allerlei bedenkliche Persönlichkeiten
zusammengerafft. Mein Vater klagte über das Gesindel, als er dasselbe
vor unserm Hause musterte.
Das Trainmaterial bestand
zum Teil noch aus Beutestücken des Krieges von 1813/15. Noch erinnere
ich mich der Erzählung meines Vaters, als er bald darauf Gelegenheit
erhielt, im Traindepot zu Ehrenbreitenstein dem Prinzen von Preußen,
dem nachmaligen Kaiser Wilhelm, augenfällig den Beweis zu führen,
wie die dort aufbewahrten Tragbahren für den Transport von Verwundeten
faul und morsch zusammenbrachen, sobald die Trainunteroffiziere zur Probe
sich darauf niederlegten.
Im Jahre 1854 verlangte
mein Vater in einer Broschüre energisch die Vorbereitung von Transportkompagnien
für Verwundete im Kriege. Man entschloß sich aber zunächst
nur, für jedes Armeekorps im Kriegsfall eine einzige Kompagnie aufzustellen.
Mein Vater diktirte mir für die öffentlichen Blätter Artikel,
in denen er die Frage aufwarf, ob denn etwa nur die verwundeten Offiziere
vom Schlachtfelde zurückgeholt werden sollten. [S.17]
Im Jahre 1860 ließ
mein Vater eine ausführliche Geschichte des preußischen Militairmedizinalwesens
erscheinen. Diesem eigenartigen, mühsamen, auf archivalischen Studien
begründeten Werk ließ er, nachdem er 1861 in den Ruhestand getreten
und wieder nach Düsseldorf übergesiedelt war, woselbst er 1866
den Verein zur Pflege der Verwundeten im Kriege mit begründet hatte,
1868 eine Schrift über die Beihilfe der Völker zur Pflege der
im Kriege Verwundeten folgen.
Dem 1870 nach Ausbruch
des Krieges an ihn gelangten Ersuchen, seine alte Stelle in Koblenz während
der Abwesenheit seines Nachfolgers im Felde wieder zu übernehmen,
vermochte er wegen zunehmender Kränklichkeit nicht Folge zu geben.
Es war ihm aber noch beschieden (+1876), zu erleben, wie die praktischen
Erfahrungen des Krieges in großem Umfange dasjenige verwirklichen
halfen, was er Jahrzehnte hindurch vergeblich angeregt hatte. Nur sehr
stückweise und langsam war vorher das Militärmedizinalwesen,
entsprechend seinen unablässigen Anregungen, reformirt worden.
Insbesondere entsprach
die Umgestaltung des ärztlichen Personals nach 1848 derjenigen Richtung,
welche mein Vater vorgezeichnet hatte. In den Kreisen der Militärärzte
erwies man sich damals meinem Vater um so dankbarer, je mehr ihm die Kollegen
vorher allein überlassen hatten, [S.18] das Eisen
zu schmieden. Die Deputationen, Ständchen von Aerzten, die einander
folgenden Adressen und Festlichkeiten als Zeichen der Anerkennung machten
auf uns Knaben einen bleibenden Eindruck. Wo in den Knabenjahren das eigene
Verständnis noch nicht ausreichte, da erläuterte uns die Mutter
die Bestrebungen und Verdienste des Vaters als ein Muster für das
eigene spätere Leben.
Bei dem innigen Familienleben
im Elternhause blieben uns aber auch nicht verborgen die großen persönlichen
Opfer, sowie die mannigfachen Zurücksetzungen, Kränkungen und
Anfeindungen, welche unzertrennlich sind von jeder öffentlichen Thätigkeit,
auch wenn sie im Dienste des Vaterlandes so rein und lauter nur der Sache
gewidmet ist, wie es bei meinem Vater stets der Fall war. [S.19]
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