Jugenderinnerungen
2. Sprechübungen.
Wie man sich doch
in der Beurteilung junger Leute täuschen kann! Der spätere Feldprobst
Thielen, zu meiner Gymnasialzeit Militäroberprediger
und zugleich Schloßprediger in Koblenz, drang auf das lebhafteste
in meine Eltern ein, mich für den geistlichen Beruf zu bestimmen,
für welchen er mich vortrefflich geeignet erachtete. Auch die Prinzessin
von Preußen, die spätere Kaiserin Augusta, äußerte
sich gegenüber meiner Mutter, mit welcher sie in Koblenz öfter
in Sitzungen wohlthätiger Frauenvereine zusammen traf, in ähnlichem
Sinne. Daß es dem würdigen Geistlichen damit vollständig
ernst war, haben spätere Aeußerungen desselben zu befreundeten
Abgeordneten in Berlin mir dargethan.
Die Veranlassung zu
solchen Ratschlägen gab der Umstand, daß ich bei Gelegenheit
der öffentlichen Konfirmandenprüfung in der Schloßkirche,
[S.10] welche zugleich für die evangelische Militärgemeinde
als Garnisonskirche diente, die "Summe der Augsburgischen Konfession" fließend
und mit weithin vernehmlicher Stimme aufzusagen verstanden hatte und auch
nicht ins Stocken geriet, als die Prinzessin mit ihrer Tochter, der jetzigen
Großherzogin von Baden, welche damals bei demselben Geistlichen ihrer
Konfirmation entgegensah, durch eine Seitenthür eintrat und unmittelbar
in der Nähe der Konfirmanden Platz nahm.
Eigentlich war aber
an meinem Aufsagen doch nichts Besonderes, da ich als 16jähriger Unterprimaner
unter den Konfirmanden der bei weitem älteste war. Die ganze sogenannte
Konfirmandenprüfung bestand auch nur aus einem vorher sorgfältig
eingeübten Frage- und Antwortspiel.
Auf meine spätere
Entwickelung hat allerdings dieser kleine Vorgang insofern Einfluß
geübt, als ich, weil meine nähere Umgebung mir zutraute, öffentlich
sprechen zu können, nunmehr selbst anfing, daran zu glauben.
Scheu und Befangenheit
sind es ja zumeist, welche vor dem öffentlichen Auftreten im späteren
Leben so manchen zurückhalten. Je frühzeitiger, desto leichter
werden aber solche Hindernisse überwunden. Im späteren Alter
ist die Besorgnis vor einem Mißerfolg natürlich weit stärker.
Mancher lernt daher das öffentliche Sprechen nie, der nach [S.11]
Anlage und Wissen vortrefflich dazu geeignet wäre. Das Sprechen vor
der Oeffentlichkeit wird in unseren Schulen offenbar noch viel zu wenig
geübt; sonst würden wir in den Parlamenten nicht so oft aus den
Reihen der Ministerialräte Regierungskommissarien auftreten sehen,
welche, trotzdem sie als Fachautoritäten gelten, nicht im Stande sind,
klar und verständlich zu sprechen.
Mir kam insofern der
Zufall zu Hilfe, als ich ein halbes Jahr nach jener Konfirmandenprüfung
durch den Direktor des Gymnasiums, wohl auf Betreiben meines Vaters, aufgefordert
wurde, bei der öffentlichen Königsgeburtstagsfeier in der Aula
am 15. Oktober 1855 eine Rede zu halten. Das Thema lautete: "In Fährden
und in Nöten zeigt erst das Volk sich echt." Die Nutzanwendung aber,
welche Uhland darauf in der folgenden Zeile gezogen hat: "drum soll man
nicht zertreten sein altes, gutes Recht", wurde als nicht mehr zum Thema
gehörig bezeichnet. Ein solcher "demokratischer Vers" hätte auch
allerdings in die damalige schlimme Reaktionszeit, in welcher das preußische
Verfassungsrecht mit Hohn und Spott behandelt wurde, nicht gepaßt.
Ich versuchte in der
Ausarbeitung gleichwohl etwas von Verfassungsrechten und angestammten Freiheiten
unter Bezugnahme auf die Schweizer und Niederländer hineinzubringen.
Aber die Censur des Direktors machte hier einen langen [S.12]
Strich durch das Konzept. Von den alten Römern und Griechen mußte
ich bei der Exemplifikation sogleich zum siebenjährigen Krieg und
zum deutschen Befreiungskrieg übergehen. Aber am Schlusse von alledem
auf König Friedrich Wilhelm IV., den Mittelpunkt des Tages, zu kommen,
wollte mir absolut nicht gelingen. Der Direktor wußte auch nichts
Besseres einzuschalten, als daß auch König Friedrich Wilhelm
IV. Am Befreiungskriege teilgenommen habe. Die Geschichte hat davon allerdings
keinerlei Aufhebens gemacht.
Mit Hilfe meines Mitschülers,
der hinter dem Rednerpult als Souffleur versteckt war, brachte ich denn
auch meine Rede mit dem erforderlichen Pathos glücklich in dem Hoch
auf den König zum Abschluß.
Der Oberpräsident
v. Kleist-Retzow, welche damals die Rheinprovinz
tyrannisirte, und in großer Gala an dem Festakt teilnahm, beglückwünschte
meinen Vater zu dieser meiner Rede. Später hat Kleist-Retzow im Reichstage
wohl weniger Freude an mir erlebt.
Die Abschiedsrede für
uns Abiturienten hielt am Schluß des Schuljahres Hermann Mosler und
zwar in lateinischer Sprache. Letzteres hätte ich freilich nicht zu
Stande gebracht. [S.13]
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