Debatte der Interpellation Hänel,
22. November 1880
Präsident: Das Wort hat der Abgeordnete Richter.
Abgeordneter Richter: Heute habe ich erst nach
der Rede des
Herrn Vorredners [d. h. Julius Bachem, Zentrum]
vollständig begriffen, (Große Unruhe, Ruf:
Lauter!) — Sie
werden mich verstehen wie immer, wenn Sie selbst
ein wenig ruhiger werden —
warum der Abgeordnete Windthorst am vorigen
Sonnabend mit einer so scharfen
Betonung erklärte, (Hört hört!) daß er nur für
seine Person spreche. (Hört,
hört! links.)
Die Rede des Abgeordneten Windthorst hebt sich
sehr vortheilhaft
ab von derjenigen, die wir eben gehört haben.
War das die Rede eines Mannes,
der wirklich vom religiös-sittlichen Ernst und
der ganzen Bedeutung der Frage
durchdrungen ist? (Zuruf rechts.)
Es wäre für die Centrumspartei besser gewesen,
sie hätte es
bei dem einen Tage bewenden lassen. (Widerspruch
im Centrum.) anstatt dieser
Rede ihres Führers einen Herrn aus dem zweiten
Rang des Centrums folgen zu
lassen. (Lachen im Centrum.)
Das sind eben die schlimmsten Wendungen der
Rede, die
nirgend wo an Thatsachen anknüpfen, (Oho!) die
ganz allgemeine Verdächtigungen
des jüdischen Charakters enthalten, (Unruhe) die
immer blos davon sprechen: ein
wesentlicher, ein stärkerer Theil der jüdischen
als der christlichen
Bevölkerung giebt sich jenem Laster hin, sucht
in jeder Weise zu unterdrücken,
durch Betrug und unrechte Mittel zu Reichthum zu
gelangen. Wo ist die
Statistik, die das nachweist? (Rufe rechts:
Hier, hier!)
Im Gegentheil, die Kriminalstatistik ist für die
Judenschaft
durchaus günstig. (Widerspruch
rechts.)
Ja, meine Herren, diese allgemeinen
Verdächtigungen, das ist
das schlimmste, was in diese Frage
hineingetragen werden kann. Der Herr spricht
von der Börse und appellirt an meine Kenntniß
der Börse unter Bezugnahme auf
die Nationalanleihe von 1870. Herr Bachem,
wissen Sie nicht, daß diese Anleihe
von 1870 nicht auf der Börse aufgelegt worden
ist, sondern im ganzen Lande zur
allgemeinen nationalen Subskription? (Große
Unruhe rechts.)
Wissen Sie denn nicht, daß es jedem Katholiken
an den tausenden
von Zeichnungsstellen vollständig unbenommen
war, dort auch zu zeichnen? (Hört,
hört! links.)
Und wenn damals nur 70 Millionen gezeichnet
worden sind, so
erklärt sich das in einem Moment, wo allgemeine
Unruhe die Geschäfte ergriffen
hat, (Aha! rechts) wo jeder baares Geld haben
mußte. (Unterbrechung durch den
Abgeordneten v. Ludwig.)
Herr von Ludwig, warum unterbrechen Sie mich,
Sie verstehen
wahrscheinlich kaum, was ich sage. (Große
Heiterkeit.)
Sie sprechen von der Börse, Sie stellen den
Juden in den
Vordergrund. Nun, meine Herren, bei den Sachen,
die hier gerade konstatirt
worden sind im Hause als Ausschreitung des
Gründer- und Schwindlerwesens,
standen da die Juden an der Spitze? (Rufe rechts
und im Centrum: Ja!)
War der Fürst Putbus ein Jude? War der Herzog v.
Ujest ein
Jude, war der Geheimrath Wagener ein Jude? Aber,
meine Herren, Lasker war ein
Jude! (Ruf: Strousberg?)
Den
konservativen
Strousberg schenken wir Ihnen! (Unruhe rechts.)
Lasker,
ein Jude war
es, der in diesem Hause zuerst jenem
Gründungstreiben, das hinaufgegriffen
hatte bis in die höchsten Kreise, die Larve
abriß; ein Jude war es, der jene
allerhöchste Kabinetsordre hervorrief zur
thatsächlichen Feststellung des
Gründertreibens. (Rufe rechts: Was ist denn
festgestellt worden? — Abgeordneter
v. Ludwig:. Das ist ja unglaublich, was der Mann
sagt. — Heiterkeit.)
Gewiß, meine Herren, der Wucher ist schändlich;
aber giebt
es denn bloß jüdische Wucherer? Es giebt auch
sehr christliche Wucherer, sogar
in der heiligen Stadt Köln. Ein Mittel
allerdings gegen den Wucher sind die
Volksbanken, aber leider haben die Führer der
katholischen Bewegung diese
Volksbanken, die wesentlich von liberaler Seite
aus angeregt wurden, durch die
irnmerwährende Verquickung mit kirchlichen und
religiösen Zwecken nicht in dem
Maße gefördert, wie es zur Bekämpfung des
Wuchers wünschenswerth gewesen wäre.
Und wer steht denn an der Spitze der größten
Berliner Volksbank gegen den
Wucher? Wiederum ein Jude, Dr. Straßmann, der so
maßloß angegriffen wird.
Das sind Thatsachen, das sind Namen, Herr
Bachem, gegenüber
Ihren allgemeinen Verdächtigungen des jüdischen
Charakters. (Sehr wahr! links.)
Wo ein Jude sich Ausschreitungen schuldig macht,
oder nicht
seine Schuldigkeit that, werden wir eben so
gern, wie Sie, gegen solche
einschreiten; aber man soll nicht aus
Ausschreitungen Einzelner allgemeine
Verdächtigungen eines ganzen Theiles des Volkes
herleiten, die man in keiner
Weise beweisen kann.
Meine Herren, der Kulturkampf hat ja zu
Ausschreitungen geführt,
die niemand mehr bedauern kann als ich. (Lachen
im Centrum.)
Aber, meine Herren, wer ist denn Schuld an
diesen
Ausschreitungen? Diejenigen, welche nicht den
Gesetzen Gehorsam geleistet
haben. Ja wohl, meine Herren, ist auf jüdischer
Seite irgendwo den Gesetzen
nicht Gehorsam geleistet worden? Und doch hat
die jüdische Bevölkerung eine
Gesetzgebung, die sie weit mehr beschränkt, als
die katholische Kirche.
(Widerspruch im Centrum.)
Kennen Sie nicht das Gesetz von 1847, welches
heute noch der
Regierung Rechte in die Hand giebt, die tief
einschneiden in die Verhältnisse
der Synagogengemeinden, das Recht der
Beanstandung jüdischer Kultusbeamter, wo
den Verwaltungsbehörden weitergehende Rechte
gegeben werden wie vielfach den
Katholiken gegenüber! Haben Sie jemals gehört,
daß von jüdischer Seite dem
Staatsgesetz Ungehorsam geleistet wäre? Wenn
freilich auf anderer Seite der
passive Widerspruch systematisch organisirt ist
gegen ver fassungsmäßig zu
Stande gekommene Gesetze des Landes, und wenn
dann zur Erzwingung des Gehorsams
der Staatsbürger gegen Staatsgesetze solche
Maßregeln schließlich ergriffen
werden müssen, wie sie ergriffen sind — auf
welcher Seite liegt dann ein
wesentlicher Theil der Mitschuld für diese
Ausschreitungen?
Meine Herren, ich habe immer bedauert, wenn
derartige
Spottbilder dasjenige herabziehen, was heilig
und ehrwürdig sein sollte. Wenn
Sie fragen, wo in Berlin die Krankenpflege
würdig abgebildet ist in ihrem
Beruf, so gehen Sie hin auf das Rathhaus, da
finden Sie ein solches Bild.
Freilich, meine Herren, den Mönch, der über die
höchsten Probleme nachdenkt,
den kann man nicht abbilden, denn wer weiß,
worüber der Mann gerade nachdenkt.
(Heiterkeit.)
Sie sprechen von der Judenpresse, — sagen Sie es
doch offen
heraus, es ist die liberale Presse, die Ihnen
nicht gefällt. Neulich haben wir
gehört von der Posener Zeitung. Sie ist
angegriffen worden als ein jüdisches
Organ. Meine Herren, weder ein Verleger, noch
ein einziger Redakteur der Posener
Zeitung gehört der jüdischen Religion an. Der
Jude hat das Posener Tageblatt,
der Jude ist Besitzer des Regierungsblattes.
(Heiterkeit.)
Wenn Sie hier von Berlin sprechen, Herr Stöcker,
z. B. so ist
Ihnen die Vossische Zeitung ein besonderer
Greuel. Dort ist kein einziger
Redakteur, kein Besitzer, der derjüdischen
Konfession
angehört. Nein, meine Herren, die Juden schlägt
man und die
Liberalen meint man. Glauben Sie denn, daß wir
das nicht durchfühlen? Der
Abgeordnete Bachem spricht ja selbst von der
jüdischen fortschrittlichen Presse
und dergleichen. Weil man die Liberalen in ihren
Grundsätzen nicht bekämpfen
kann, (Widerspruch.) ohnmächtig dagegen ist in
den großen Städten, — darum wird
der Racenhaß zu Hülfe gerufen, nicht bloß um das
Judenthum zu bekämpfen,
sondern es ist die verzweifelte Anstrengung der
konservativen Bestrebungen; um
sich über Wasser zu halten, hat man zu solchen
Mitteln greifen müssen, nicht
blos um die Juden zu bekämpfen, sondern um den
Liberalismus anzugreifen. Meine
Herren, das ist der eigentliche Kern der Sache.
(Sehr wahr!).
Nun, meine Herren, Sie sprechen, die
Interpellation sei
inopportun gewesen. Ja, inopportun für Sie, das
glaube ich. (Heiterkeit.)
Wir sind sehr zufrieden mit dem Erfolg dieser
Interpellation.
(Heiterkeit). Meine Herren, wenn Sie so
zufrieden sind mit dem Sonnabend, dann
hätten Sie nicht nöthig gehabt, heute noch den
Montag zu unserer Ueberraschung
als zweiten Tag hinzuzufügen. (Sehr gut!)
Die Rede des Herrn Abgeordneten Bachem scheint
mir aber
darzuthun, daß Sie auch heute schwerlich
Lorbeeren pflücken werden. Meine Herren,
der Freiheit des Petitionsrechts stellen wir
gegenüber die Freiheit des
Interpellationsrechts.
Wenn sich diese Bewegung nur auf Berlin
beschränken würde, dann würden wir
schon selbst damit fertig werden, dann genügte
uns die Stadtverordnetenversammlung,
um solche Dinge zu kennzeichnen. Aber greift sie
nicht hinaus auf das ganze
Land? (Sehr wahr!) Hören Sie nicht, daß diese
Petition an alle Bürgermeister
versandt wird, an alle Superintendenten, alle
Landräthe, an Steuereinnehmer und
was weiß ich alles?
Meine Herren, es war gerade Zeit gegenüber einer
Bewegung,
die sich zu organisiren anfing, die öffentliche
Meinung aufmerksam zu machen,
was dort im Lande vorgeht. Meine Herren, das
Abgeordnetenhaus soll das Gewissen
der Nation vertreten; an dieses appelliren wir
gegenüber jener im Dunkeln
schleichenden Bewegung. (Unruhe.) Die
Interpellation, das war die Leuchtkugel,
die aufstieg, um alle Minirarbeiter zu
kennzeichenen vor dem Volke, die jetzt
thätig sind, jene Bewegung wachzurufen. Meine
Herren, jetzt ist die
Aufmerksamkeit im Lande darauf gelenkt, jetzt
sind die Kräfte wachgerufen,
jetzt sind Sie aus der Offensive in die
Defensive geworfen. (Widerspruch).
Das ist, was Sie inopportun finden, wir aber
nicht. Wenn
einzelne Stimmen angeführt worden sind, die sich
zurückziehen, die sich der
Bewegung nicht mehr anschließen wollen, ja,
meine Herren, sie stehen unter dem
Druck der öffentlichen Meinung, nicht des
jüdischen Terrorismus, es ist ihnen
klar geworden durch die öffentliche Behandlung,
worum es sich handelt, und
darum fühlen sie sich in ihrem eigenen Gewissen
jetzt gedrungen, Zeugniß
abzulegen, daß sie nicht zu jener Bewegung
gehören.
Im Uebrigen, meine Herren, überlasse ich die
Betrachtungen
des Herrn Abgeordneten Bachem über die Feigheit
der Konservativen, sich von
gewissen Erklärungen zurückzuziehen, der
Auseinandersetzung der Herren unter
einander. Wenn er wirklich glaubt, daß auf jener
Seite eine solche Feigheit
vorhanden sei, wie wir sie an Herrn Limprecht
und anderen gewissen Herren in
Breslau .....
Präsident: Herr Abgeordneter Richter, das hat
der Herr
Abgeordnete Bachem nicht in Bezug auf Mitglieder
dieses Hauses gesagt; hätte er
das gesagt, so hätte ich ihn zur Ordnung
gerufen.
Abgeordneter Richter: Herr Präsident, mein
Ausdruck bezieht
sich nicht auf konservative Mitglieder dieses
Hauses, sondern ich habe sagen
wollen: wenn der Herr Abgeordnete Bachem sagt,
Limprecht und die Breslauer
Herren standen derartig unter dem Terrorismus,
daß sie es nicht mehr wagen,
ihre Meinung aufrecht zu erhalten und kund zu
geben, so habe ich Herrn Bachem
aufgefordert, sich selbst mit diesen Leutenüber den—ihnen gemachten Vorwurf der
Feigheit auseinanderzusetzen;
keineswegs — wenn
ich mich inkorrekt
ausgedrückt haben sollte — auf irgend ein
Mitglied dieses Hauses. Er spricht
mit Emphase aus, es finde sich kein
christlich-konservativer Rechtsanwalt in
Breslau mehr, um in solcher Bewegung eine Klage
zu vertreten; — warum wenden
sich denn die Herren nicht an Herrn Schröder
(Lippstadt), ist dem etwa auch
bange geworden? (Heiterkeit. Sehr gut!)
Ich glaube, es ist wirklich zu kleinlich,
gegenüber dieser ganzen
Bewegung, wenn man sie auf dergleichen
persönliche Geschichten, wie sie in den
Zeitungen hin und her getragen werden, reduzirt.
Meine Herren, warum ich mich zum Wort gemeldet
habe, bevor
der Abgeordnete Bachem gesprochen hat, das ist,
weil das Wert wieder
durchgeklungen ist aus der Debatte vom vorigen
Sonnabend vom christlichen Volk,
vom christlichen Staat. Da scheint es mir denn
doch an der Zeit zu sein, eine
Aeußerung ins Gedächtniß znrückzurufen, die
gesprochen wurde vor 33 Jahren, auf
den vereinigten Landtagen in jener Debatte über
dieselbe Fragen, ebenfalls über
den christlichen Staat. Der Mann, der sie that,
gehörte nicht unserer Partei
an, er war ein scharfer Gegner derselben, es
steckte ein gut Stück Junker in
ihm, es war der Freiherr v. Vincke. Er sagte,
als von Kirche und Staat
gesprochen wurde:
ich muß darauf
zurückkommen, was ich als den eigentlichen
Kern der Verhandlung von den Vertretern des
Gouvernements aussprechen gehört
habe, auf den Begriff des christlichen
Staats. Es geht mir wie mehreren anderen
Rednern, daß ich nämlich trotz der
eifrigsten Forschungen und des
gewissenhaftesten
Nachdenkens, mir nicht habe klar machen
können, was unter einem christlichen
Staat zu verstehen. Ich glaube das
Christenthum sehr hoch zu stellen; aber der
Begriff der Religion kann doch nur auf der
inneren individuellen Ueberzeugung
beruhen. Der Staat aber ist ein Komplexus
von Individuen, welcher als solcher
keine allgemeine Ueberzeugung haben kann.
Insofern daher der Staat eine
moralische Person darstellt, so kann ich mir
nicht denken, daß derselbe als
solcher keine allgemeine Ueberzeugung haben
könne. Wie man also von einem
Staate sagen könne, er sei ein christlicher
Staat, ist mir nicht erklärlich.
Der Staat wird doch auch nicht die
Bestimmung haben sollen, die Glaubenssätze
in bestimmten Konfessionen zu realisiren —
gewissermaßen der Exekutor der Kirche
zu sein. Vielleicht hat diese Darstellung in
einem andern Sinne genommen werden
sollen; man will vielleicht sagen, als Staat
hat er in der Gesetzgebung die
Prinzipien zu realisiren, die aus der
christlichen Moral hervorgehen, denn die
Glaubenssätze selbst kann er nicht
realisiren. Aber auch in dieser Beziehung
kann ich mir nicht denken, daß der Staat
sich als Exekutor des Reichs zu
geriren habe. Wenn es sich darum handelt,
die Grundsätze der christlichen Moral
zu realisiren, so muß ich gestehen, daß ich
die Benennung eines christlichen
Staats z für den unsrigen bestreiten muß.
Ich will nur die Grundsätze unseres
Staats mit dem neuen Testament vergleichen.
Ich könnte zwar auch bei dem alten
Testament anfangen und mit den zehn Geboten
beginnen. Die zehn Gebote sagen
schon: Du sollst nicht tödten, während der
Herr Schatzmeister, den noch die
Armee in ihren Reihen zu zählen das Glück
hat, beabsichtigen wird, in strenger
Anwendung jener Grundsätze den Krieg zu
verdauen. Es steht ferner im neuen
Testament: „Du sollst nicht schwören, Eure
Rede sei Ja, ja, Nein, nein, was darüber
ist, ist vom Uebel . . . .“ Es ist ferner
das Gebot des Christenthums: „Liebet
Eure Feinde“, und: „wenn Dir Jemand einen
Backenstreich giebt, so halte ihm die
andere Backe auch hin“, wie wollen wir aber
mit diesem Grundsatz die Gesetzgebung
über die Injurien in Einklang bringen? Viele
Paragraphen des Landrechts müßten
ausgetilgt werden. Wie will man in der
auswärtigen Politik mit dem Gebote der
Kindesliebe es vereinigen, Verträge gegen
auswärtige Mächte zu schließen, ich
glaube, wenn wir unsere Minister alle
durchmustern, so können ihre Handlungen
diesem
Standpunkt gegenüber nicht bestehen.
Er führt diese Dinge im einzelnen an und
schließt diese Ausführung
damit: Ich bin ferner der Ansicht, daß es auch
hier vor Allem auf Recht
ankommt, und daß die Beachtung der Grundsätze
des Rechts, um derentwillen die
Menschen sich zuerst veranlaßt sehen, aus dem
Zustande der Roheit in den
zivilisirten Zustand überzugehen und zu Staaten
zusammen zu treten, die Befugniß
nicht ertheilt, Jemanden wegen seiner inneren
Ueberzeugung von dem Genusse der
Wohlthaten des Staatsverbandes auszuschließen.
Er schließt seine Rede damit: die jüdische
Religion enthält
keine Vorschriften, welche die Juden verhindert,
ebenso gute Staatsbürger zu
sein, als wir Christen.
Meine Herren, es ist ein Zeichen der Zeit, der
fortschreitenden Reaktion, daß man heute nach 33
Jahren auf das zurückkommen
muß, was damals in jener Debatte gesagt worden
ist zur Kennzeichnung des Charakters
eines Staats. Ich glaube in der That, die
Freunde des Herrn Bachem hätten am
meisten Veranlassung wie jede Minorität, sich zu
wahren gegen einen solchen
Versuch, Staat und Religion, Staat und
Christenthum zu identifiziren; denn vom
christlichen Staat zum protestantischen Staat,
zum evangelischen Staat ist nur
ein Schritt, es ist sogar die logische
Konsequenz des Gedankens. Sie selbst,
als Sie sich bei der Frage der Simultanschulen
verwahrten, daß die Schulen nur
eine allgemeine christliche Unterlage haben
sollten, indem Sie sagten: nur in
Gestalt einer bestimmten Konfession wird das
Christenthum lebendig, Sie selbst haben
damals diesen Grundsatz nicht anerkannt. Meine
Herren, ich bin überhaupt der
Meinung, daß diejenigen, welche in dieser Weise
Christenthum, Religion und
Staat miteinander in Verbindung bringen wollen,
in der That weiter gedrängt
werden und zuletzt beim konfessionellen Staat
ankommen müssen. Wir sehen es ja,
daß auf jener Seite die weitere Schlußfolgerung
gezogen wird in der Frage der
Simultanschule; da sollen nun schon die Kinder
beim Unterricht getrennt werden
nach ihrer besonderen Konfession, da ist schon
gar nicht mehr die Rede von
christlichen Schulen gegenüber jüdischen
Schulen, sondern da heißt es
evangelische Schulen und katholische Schulen.
Die Herren vom Centrum gehen dann
noch weiter. Auf dem Katholikentage in Breslau
ist von jener Seite in der
Generalversammlung eine Resolution angenommen
worden, die es nicht dabei wollte
bewenden lassen, daß die Kinder getrennt werden
in den Schulen, sondern die
auch dazu übergeht zu trennen weiter in den
gesellschaftlichen Verhältnissen,
in den persönlichen Beziehungen zu einander.
Dort heißt es:
Die
Generalversammlung beklagt es, daß gerade in
den
sogenannten gebildeten Klassen viele
Mischehen geschlossen werden, welche jedem
positiven Glauben nachtheilig sind und nur
die Gleichgültigkeit im Glauben
fördern. Pflicht katholischer Eltern ist es,
alle ihre Autorität aufzuwenden,
um Mischehen ihrer Kinder zu verhindern,
Pflicht der katholischen Jünglinge und
Jungfrauen ist es, Bekanntschaften mit
Andersgläubigen zu vermeiden, welche
eine Mischehe vorbereiten können.
(Sehr richtig! im Centrum. Große Unruhe.)
Sie sehen, meine Herren, wohin das kommt. Ja,
das nennen Sie
sehr gut, die bürgerliche Gesellschaft in ihren
persönlichen Beziehungen
auseinanderzureißen; auf der einen Seite sollen
nur die Katholiken mit Katholiken
Bekanntschaft machen, auf der andern Seite nur
die Protestanten mit Protestanten.
Und, meine Herren, Sie gehen ja noch weiter: Ich
habe hier vor mir liegen die
Rede unseres Kollegen Dr. Franz.Herr
Dr. Franz sagte auf jenem Kongreß, als er die
Mittel angab zur Hebung des
Handwerkerstandes und scharf das leidige
Borgsystem verurtheilt und empfiehlt,
seine Bedürfnisse beim selbstständigen
Handwerker — ,,Sie wissen schon, was ich
meine, (Stimme aus dem Publikum: Nicht beim
Juden! zu kaufen)“. Meine Herren,
ich zitire, um Herrn Dr. Franz, er kann ja
mißverstanden sein, hier ausdrücklich
Gelegenheit zu geben, das klar zu stellen. Ich
halte das für ganz
außerordentlich wichtig. Meine Herren, bisher
hat noch keine politische Partei,
keine Glaubenspartei diese Sonderung selbst in
das geschäftliche Leben
getragen. (Widerspruch im Centrum.)
Nein, meine Herren, es hat einen Fall gegeben im
deutschen
Reichstag. In Altona bei einer Wahl haben die
Sozialisten aufgefordert, daß man
künftig nicht mehr kaufen soll bei einem Krämer,
der nicht Sozialist sei, und
als das im Reichstag berührt wurde von dem
Abgeordneten Lasker, da trat der
Abgeordnete Bebel auf und sagte: wir desavouiren
unsere Altonaer
Parteigenossen, nein, das wollen wir nicht; so
scharf unsere Gegensätze auch
sind, die Sozialisten wollen nicht diese
Gegensätze in die geschäftlichen Beziehungen
hineingetragen sehen. Ich will mich freuen, wenn
nun hier in derselben scharfen
Weise Herr Dr. Franz oder sonst ein Redner des
Centrums erklärt, wie sie auch
über die Judenfrage denken, sie halten es nicht
für richtig, diese Fragen auf
die geschäftlichen Beziehungen zu einander
übertragen zu sehen. Meine Herren,
Sie sehen, wohin solche Bestrebungen wollen. Das
bleibt ja nicht bei den Juden
stehen, das heißt doch schließlich, durch
dasjenige, was angeblich im Namen der
Nation an nationalen Bestrebungen begonnen ist,
die Nation nach allen
Richtungen auseinanderreißen. (Sehr richtig!
links.)
Ich bin der Meinung, es ist in der That eine
antinationale
Bewegung, es ist eine Bewegung, die sich gegen
das einheitliche Deutschland kehrt,
das unter so vielen Opfern im Jahre 1871
geschaffen worden ist. (Sehr richtig!
links.)
Meine Herren, nun ist von Seiten des Herrn
Bachem auf die
christlich-soziale Partei hingewiesen und auch
am vorigen Sonnabend darauf
Bezug genommen. Es veranlaßt mich dies, diese
Sache, die mir bisher etwas
vernachlässigt zu sein scheint, etwas näher in
Betracht zu ziehen, zumal hinter
mir ein Redner kommen wird, für den, wie ich
höre, diese Sitzung von der
Majorität hauptsächlich in Aussicht genommen
ist, um ihm Gelegenheit zu geben,
über diese Sache zu sprechen. (Ruf rechts:
Natürlich!) Ja wohl, meine Herren,
ich unterstütze diese Bestrebungen und will noch
Material zuführen.
Es ist gesagt worden, daß ein besonderer Muth
dazu gehöre,
(Rufe rechts: Ja wohl!) an dieser
christlich-sozialen Bewegung Theil zu nehmen;
meine Bemerkungen richten sich natürlich nicht
gegen das Mitglied persönlich,
sondern gegen diese ganze Bewegung, wie sie sich
uns darstellt — daß ein
besonderer Muth dazu gehöre in ein Wespennest zu
stechen, wie man sich
ausgedrückt hat. Nun, meine Herren, ich muß
sagen, wenn es ein Muth ist, dann
ist es nach meiner Auffassung ein trauriger
Muth, und ich halte es auch nicht
einmal für besonders muthig gegen eine
Bevölkerungsklasse, die eine kleine Minorität,
selbst hier in Berlin nicht einmal ein
Dreißigstel der Bevölkerung darstellt,
aufzutreten, zumal wenn man weiß, daß noch weit
mehr, als diese Bewegung
Unterstützer und Freunde hat, es mächtige Leute
giebt, die den Juden so etwas
gönnen. Meine Herren, Muth gehört dazu, wenn
andere Geistliche die
protestantische Glaubensfreiheit und
Kanzelfreiheit gegen eine kleine orthodoxe
Clique (aha! rechts) zu vertheidigen wagen, wenn
sie ihre Ueberzeugung selbst
unter der Drohung des Verlustes ihres Amtes
öffentlich kundgeben. Das ist es,
was Muth erfordert, nicht auf die Juden zu
hetzen. Und, meine Herren, Muth nach
unten! Ach Gott bewahre, der Berliner Mob
amüsirt sich darüber, (Rufe rechts:
Mob? Hört! hört!) in dessen Augen gehört auch
das zum Ganzen. Wenn gewisse
Namen aus der christlich-sozialen Bewegung in
großen Berliner Versammlungen
genannt werden oder zum Beispiel im Theater
vorkommen, so habe ich noch immer
gefunden, daß nicht ein Ton der Entrüstung durch
solches Publikum geht, sondern
eine gewisse heitere Stimmung. Meine Herren, und
zudem mit dem Muth! Wenn Herr
Stöcker so, wie es ein früherer Redner in dieser
Diskussion ausgedrückt hat,
einmal auf die Hühneraugen getreten wird, dann
geht er gleich zum Staatsanwalt.
Er beklagte sich ja öffentlich, daß der
Staatsanwalt seinen Denunziationen
nicht genug Folge leiste und erst in der letzten
Zeit scheint er davon
zurückgekommen zu sein, nachdem er die Erfahrung
gemacht, daß sich
Erkenntnißgründe öfter gegen diejenigen, die
solche Verurtheilungen herbeiführen,
schärfer richten können, als der Tenor gegen den
Verurtheilten.
Meine Herren, ich bin bekannt als einer, der die
sozialdemokratische Bewegung von Anfang an und
in allen Stadien aufs heftigste
und entschiedenste bekämpft hat; das muß ich
aber sagen: in meinen Augen ist
jene christlich-soziale Bewegung viel
verderblicher, viel gefährlicher als die
sozialdemokratische. (Ruf rechts: Für Sie!)
Meine Herren, die Sozialdemokraten sind
ausgewiesen und wenn
sie sich in Hamburg ansiedeln, werden sie weiter
ausgewiesen, bis sie übers
Meer wandern. Die Träger der christlich-sozialen
Bewegung bleiben, während dies
den Kleinen geschieht, in Ansehen und Würden im
Kreise der Mächtigen. Meine
Herren, das Gemeinsame dieser beiden Bewegungen
ist das, daß sie überall den
Staat voranstellen; sie sagen in ihren
Flugschriften — sie liegen hier vor mir
— in ihren Wahlaufrufen für Herrn Stöcker: die
Gesetzgebung ist schuld, daß Ihr
Arbeiter mit Weib und Kind am Hungertuche nagt!
Dahin ist es gekommen in der
Bevölkerung — und weiter versprechen sie dem
Arbeiter: ja, wenn erst die
Gesetzgebung in unserm Sinne geändert wird,
werdet Ihr glücklich sein, dann
wird die große Kluft, die jetzt besteht zwischen
Reich und Arm, verschwinden
und man wird sie nicht mehr wahrnehmen! Ich habe
hier z. B. vor mir eine von
dem christlich-sozialen Verein als Flugblatt
Nummer 3 offiziell publizirte Rede
des Herrn Stöcker, darin heißt es:
Was uns vor
Augen steht, ist die furchtbare Thatsache,
daß
die Kluft zwischen Reich und Arm auch im
deutschen Land immer weiter und
breiter wird, daß sie fast nicht mehr
ausgefüllt, daß sie kaum überbrückt
werden kann, und das ist schrecklich.
(Bravo!) Das kann keinem Menschen
gefallen, das gefällt auch Gott nicht.
(Großer Lärm. Rufe: Schluß!) — Meine Herren,
ich glaube es wird Sie interessiren, was ich
jetzt zu sagen habe. — Wenn im
alten Testament verboten ist, vom Kapital
Zins zu nehmen, (Ruf: Juden.) wenn
der Zusammenkauf vieler Güter in der Weise
verhindert ist, daß jedesmal im 50.
Jahre alle verpfändeten und verkauften Güter
wieder an den Eigenthümer von
früher zurückfallen mußten, dann werden Sie
erkennen, daß hier mit einer
ungemein göttlichen Weisheit die soziale
Frage angefaßt und für die damalige
Zeit völlig gelöst ist. Wo die Dinge so
geordnet sind, da ist es gar nicht
möglich, daß sich auf der einen Seite ein
ungeheures Vermögen ansammelt und auf
der andern ein Pauperismus eintritt, der das
Elend der gesammten Nation ist.
(Gut!)
Meine, Herren, ich weiß wohl, daß Herr Stöcker
in seinen
Reden dem Privateigenthum einen größeren
Spielraum läßt als die
Sozialdemokraten; aber es tritt dies in der
Gesammtheit seiner Darstellung mehr
zurück. Es ist der Staat, die Organisation der
Arbeit durch den Staat, die
Verantwortlichkeit durch den Staat, die er
anruft, die den Leuten helfen soll,
es ist der Staat, dem er Schuld giebt, die
Zustände herbeigeführt zu haben, in
denen wir uns befinden. Meine Herren, in den
Reden finden Sie nichts von jenem
Satz: Hilf Dir selbst, so wird Gott Dir helfen;
Sie finden in den Reden nichts
von dem Satz: Jeder ist seines Glückes Schmied;
nichts finden Sie dort von der
Macht der Liebe, insbesondere der christlichen
Liebe, die dem Andern helfen
soll. Nein, Herr Stöcker weist in diesen Reden
es ausdrücklich zurück, er sagt,
sie kann vielthun, aber glaubt nur
nicht, daß die Macht der Liebe die Kluft
verschwinden machen kann, daß von ihr
Hülfe zu erwarten ist; nur der Staat, die
Staatshülfe, die Organisation für den
Staat ist es, die er empfiehlt, ebenso wie die
Sozialisten es in ihrer Weise
thun.
Meine Herren, es ist ein Glück, daß solche
Vorstellungen in
den germanischen Völkerschaften zum Unterschiede
von den romanischen nicht
vorherrschend sind, daß in den germanischen
Völkerschaften das Gefühl für
Selbsthülfe, für Selbstverantwortlichkeit, das
Bewußtsein der Kraft des Individuums
lebendiger sind als in den romanischen, daß man
im Staat wohl eine Stütze
sieht, die viel helfen kann, aber nicht geneigt
ist, auf den Staat die
Verantwortlichkeit für seine Existenz, für sein
Dasein und den ganzen
Fortschritt der Menschen zu wälzen. Wäre es
anders, gelänge es solchen
Vorstellungen im Volke Platz zu greifen, wohin
kämen wir dann? In die Zustände
der romanischen Völkerschaften, in französische
Zustände; dort freilich ist die
Vorstellung lebendig, wenn Mißstände sich
zeigen, ja wenn die Ernte mißräth,
kehrt sich die ganze Unzufriedenheit gegen den
Staat, der Staat ist
verantwortlich dafür, und was folgt daraus?
Keine Staatsregierung, kein
politisches System ist im Stande, solche
Unzufriedenheit zu bannen, weil der
Staat unmöglich in der Lage ist, die
Anforderungen, die in dieser Weise gegen
ihn wachgerufen werden, zu erfüllen, und deshalb
sehen Sie dort in Frankreich
Revolution auf Revolution folgen, kein
Regierungssystem macht es den Franzosen
recht, keins vermag die Ansprüche zu erfüllen,
die an den Staat gestellt zu
werden pflegen. Hüten wir uns, ähnliche
Vorstellungen zu erwecken, sie mögen
den augenblicklichen Machthabern , vielleicht
vortheilhaft sein, aber es kommt
eine Stunde, wo die Erwartungen, die man an den
Staat stellt, erfüllt werden
müssen, und dann kehrt sich der ganze Mißmuth,
die Unzufriedenheit gegen die
Staatsregierung, und wenn die Konservativen dann
vielleicht auch nicht mehr am Ruder
sind, so wird es die Gesammtheit der Bürger zu
tragen haben, es wird, wenn
diese Bewegung wächst, die jetzt von zwei
Seiten, von der christlich-sozialen
und von der sozialistischen Seite in gleicher
Weise geschürt wird, dann wird
die Gesammtheit darunter leiden und es droht
manches zusammen zu stürzen, was
aufrecht zu erhalten wir Alle ein großes
Interesse haben; keine Bewegung ist
antimonarchischer in ihren Grundzügen als diese.
(Sehr wahr!)
Das monarchische System kann bei einer so
bewegten Unzufriedenheit
so wenig auf die Dauer bestehen wie irgend ein
anderes System, kein System wird
in den wechselnden Revolutionen, wenn solche
Vorstellungen herrschen, dauernd
bestehen können. Wir sollten über alles das, was
uns trennt, es ist gleich, ob
wir Konservative und Liberale sind, sollten uns
vereinigen das fern zu halten,
daß im Volke Ansprüche an den Staat groß gezogen
werden, die kein
Regierungssystem zu erfüllen vermag. (Sehr gut!)
Das Zweite, was die Christlich-Sozialen gemein
haben mit,den
Sozialisten ist die Methode. Man sagt, das Ziel
der Sozialisten, darüber ließe
sich diskutiren; aber wenn die Sozialisten nicht
eine so verwerfliche Methode
hätten, wenn sie nicht den Klassenhaß nährten,
den Neid, die Mißgunst. — — Ja,
meine Herren, geschieht das nicht in derselben
Weise in den Versammlungen der
Christlich-Sozialen? Hier vor mir liegt ein
Bericht der Post, in welchem auch
ein Prediger auftritt; er führt in diesem
Bericht ausdrücklich an, daß das
Gesetz von 1869, das Reichsgesetz, welches die
Religionsgleichheit bestätigt,
daß dieses Gesetz schuld sei an allen denen
Uebelständen im wesentlichen, unter
denen wir jetzt zu leiden haben. Mustern Sie
das, was aus jenen Reden publizirt
wird, nicht bloß in unseren Blättern, denen
könnte man tendenziöse Berichterstattung
vorwerfen — mustern Sie, wie es zugeht in den
Versammlungen: da werden Reden
gehalten gegen das mobile Kapital, da soll Herr
Stöcker gesagt haben: Sehen Sie
auf Bleichröder hin, der hat mehr in seinem
Vermögen als alle Prediger zusammengenommen.
(Große Heiterkeit.)
Meine Herren, so persönlich ist noch kein
Sozialist aufgetreten.
Dort wird gehetzt gegen die Börse, in jeder
Weise wird Stimmung gemacht nach
dieser Richtung. Es wird sogar in der Rede den
Sozialdemokraten vorgeworfen,
nicht genug gehetzt zu haben. Herr Stöcker sagt:
Warum machen die Sozialdemokraten
bloß die Meister und Fabrikanten für ihre
Nothlage verantwortlich, warum nicht
die Börse? Die Börse ist schuld, aber die wird
nicht angegriffen. So stachelt
er sie also noch auf nach der Richtung, wo sie
nach seiner Meinung noch nicht
genug gethan haben.
Wie geht es nun zu in solchen Versammlungen?
Nach einer
Rede, wie ich sie angedeutet habe, wird eine
Pause gemacht zur Entgegennahme
von Beantwortungen, dann entsteht ein Tumult,
man meldet sich zum Wort, Herr
Stöcker ist nicht im Stande, die Ordnung
aufrecht zu erhalten, er schließt die
Versammlung, (lebhafter Widerspruch) und in
einem Theile des Saales entwickelt
sich eine kleine Schlägerei, in einem anderen
Theile hört man die Worte: „Gehen
Sie doch in Ihre Synagoge, Sie langnäsiger
Judenjunge“, „Sie haben hier nichts
zu suchen, Sie sind nur Gast“. (Große
Heiterkeit.) Dann sagt der andere wieder:
„Ich habe 10 Pf. Entree gezahlt und kann bis zum
Ende der Vorstellung hier
bleiben.“ (Große Heiterkeit und Unruhe.) Dann
hört man die Rufe: Adieu, adieu,
der Herr Hofprediger Stöcker soll leben! hoch! —
die Sozialdemokratie soll
leben! hoch! — die Juden sollen leben! hoch! —
Lassalle, der Jude Lassalle soll
leben! hoch! hoch! — Er lebt nicht mehr!
Dazwischen vernahm man ein schrilles
Pfeifen und Schreien, Schutzleute standen auf
der Straße und langsam verlief
sich die Menge.“ So sind die Berichte über
solche Versammlungen. (Ruf: Börsenkourier!)
Sie finden derartige Darstellungen in allen
Zeitungen. Sie werden doch nicht
leugnen, daß ein großer Theil dieser
Versammlungen wegen Tumults geschlossen
worden ist. (Zuruf: Es ist nie eine
geschlossen!)
Meine Herren! die ganze Bewegung hat einen
durchaus
ähnlichen Charakter in Bezug auf das letzte
Ziel, in Bezug auf die Methode, wie
die sozialistische. (Zuruf.) Das ist es, worauf
es ankommt. Die kleinen graduellen
Unterschiede treten vollständig zurück, das ist
gerade das besonders perfide an
der ganzen Bewegung, daß während die Sozialisten
sich bloß kehren gegen die
wirthschaftlich Besitzenden, hier der Racenhaß
genährt wird, also etwas, was
der einzelne nicht ändern kann und was nur damit
beendigt werden kann, daß er
entweder todtgeschlagen oder über die Grenze
geschafft wird. Das ist ja
dasjenige, was den Sozialisten in der Weise
fehlt. Sehen Sie denn nicht, daß
die Bewegung auch deshalb viel mehr den
öffentlichen Frieden untergräbt, wie
die sozialistische? (Sehr wahr! links.)
Die sozialistische Bewegung hat viel
verschuldet, aber haben
Sie jemals gesehen, daß sie so unmittelbar
Straßenexcesse nach sich gezogen
hat, Beschimpfungen oder Schlägereien in dieser
Weise, wie wir es jetzt täglich
lesen? Dort liegt die moralische Ursache solcher
Vorgänge. Wenn sie die
Verwandtschaft mit den Sozialisten leugnen
wollen: die schönen Seelen finden
sich schließlich zusammen.
Herr Körner war noch in diesem Frühjahr der von
allen
sozialistischen Abgeordneten empfohlene
Gegenkandidat meines Kollegen Virchow;
Finn war bei der letzten Reichstagswahl der
sozialistische Gegenkandidat des
Kollegen Mendel. Jetzt sehen wir die Herren mit
Herrn Stöcker zusammen, sie
haben sich in derselben Sitzung gefunden; Herr
Stöcker begrüßt sie und freut
sich, daß sie sich bei ihm einfänden, und hofft,
daß, wenn auch Unterschiede
beständen, sie doch zusammengehörten. „Wir
königlich preußische
Sozialdemokraten“ so nennen sich die Herren! So
bringen sie die
Sozialdemokratie in enger Beziehung zur Firma
des Königs.
Allerdings auffallend ist es; diese Leute Körner
und Finn
werden aus Berlin ausgewiesen, nach sechs
Monaten kommen sie zurück, wie es
heißt, unter Vorbehalt einer guten Aufführung.
Was thun sie? Das erste, was sie
thun, ist nicht, sich bescheiden, still zu
verhalten, sondern ein Plakat in
Berlin austragen zu lassen — „wir königlich
preußische Sozialdemokraten“ — ein
Plakat, das den Fürsten Bismarck für einen
vernünftigen Sozialisten erklärt und
in dem zum Klassenhaß gegen die Berliner
Hausbesitzer aufgefordert wird. Das
sind also Leute, die auf Vorbehalt guter
Aufführung nach Berlin zurückgelassen
worden sind! Wenn die sich gleichwohl getrauten,
so demonstrativ agitatorisch
vorzugehen, mußten sie nicht sicher sein, daß
das Polizeipräsidium ihnen
trotzdem den Aufenthalt gestattete? Wir sehen
das Polizeipräsidium nicht
dagegen einschreiten. Der Polizeipräsident, ein
so vorsichtiger Mann, mußte er
also, als er Jene zurückkommen und so auftreten
ließ, nicht fürchten, damit in
den höchsten Kreisen zu verstoßen? Das sind
alles unaufgeklärte Fragen. Ebenso
diejenigen, welche der Herr Abgeordnete Virchow
schon angedeutet hat, woher die
Geldmittel fließen für die Blätter in Hamburg,
für die Deutsche Volkszeitung,
der eigentlichen Quelle der antisemitischen
Literatur. Da werden die Ergüsse
eines Marr gedruckt, da werden die perfidesten
Artikel geschrieben, von dort
aus werden sie versandt an andere Orte und
andere Blätter. Zum Beispiel wird
mir berichtet, daß in Nassau Blätter, welche von
Hamburg die inneren Seiten mit
solchen antisemitischen Artikeln beziehen, in
ihrer Ausbreitung von den
dortigen Behörden begünstigt werden. Diese ganze
Art von Literatur, wie wir sie
in Hamburg, Berlin, Dresden, Liegnitz erscheinen
sehen, steht im engsten
Zusammenhang miteinander. Hier ist eine
Organisation vorhanden; wo ist die
Geldmacht, die das bezahlt? woher fließen die
Geldmittel? Es wäre uns sehr
lieb, wenn wir hörten, daß nicht der
Reptilienfonds dafür in Anspruch genommen
wird.
In der That, meine Herren, die Regierung sollte
sich hüten
in ihren Organen, direkt oder indirekt, in
dieser Frage, auch wenn sie die
Ueberschrift „christlich-sozial“ trägt, noch
einmal mit dem Feuer zu spielen.
Uns ist noch in guter Erinnerung, wie es damals
gewesen ist, als die
sozialistische Bewegung zuerst in Berlin aufkam.
Damals als Lassalle von den
Gerichten des Landes im Namen des Königs wegen
Hochverrath und
Majestätsbeleidigung verfolgt wurde, war es der
Reichskanzler, der mit ihm
seine vertraulichen Konferenzen zu gleicher Zeit
pflog, wie mit einem
interessanten Gutsnachbarn. Man flüsterte sich
schon damals zu: wenn ihn auch
die Gerichte des Landes verfolgen, der Kanzler
steht dahinter; er steht auf
Seiten der Sozialisten. Damals hat man dies noch
nicht so gewußt, wie jetzt
durch die eignen Aussagen des Kanzlers bekannt
geworden ist. Und wie war es mit
Schweitzer, als die Sozialisten unter Schweitzer
hier auftraten? wie waren die
Verhältnisse zwischen Schweitzer und dem
Geheimrath Wagner? woher hatte
Schweitzer die Mittel, um hier so in Berlin
aufzutreten? wie war damals das
Verhalten der Regierung, als jene
Sozialistenbanden das Versammlungsrecht zu
nichte machten und die Versammlungen stürmten,
und wir interpellirten? Da sagte
der Minister Graf Eulenburg: was geht mich das
an — die Sozialisten haben mit
der Fortschrittspartei eine Versammlung
angemeldet in demselben Lokal, nun
prügeln sie sich da inwendig herum — wer
eigentlich der Berechtigte ist? — die
Polizei würde nur die Prügelei vermehren, wenn
sie sich auch einmischte, sie
wartet, bis die Sache auf die Straße kommt, dann
geht sie sie erst etwas an.
Meine Herren, so hat man die Bewegung in ihren
Anfängen mit
einer gewissen wohlwollenden Neutralität
behandelt. Was ist daraus geworden,
welchen Umfang hat sie genommen? Von Schweitzer
war bald nicht mehr die Rede,
die Bewegung hat alsbald einen ganz
selbstständigen Charakter angenommen, eine
Gefahr, die leider die Staatsregierung erst in
dem Augenblick erkannt hat, wo
ihre fluchwürdigsten Ausläufer sich in jenen
scheußlichen Attentaten zeigten.
Wir haben rechtzeitig gewarnt. (Lachen rechts.)
Damals waren auch sogenannte konservative
Stimmen hier laut
(hört! hört! links) im Jahre 1865. Die
konservative Partei drohte uns mit dem
Tritt der Arbeiterbataillone, wie man heute von
den Christlich-Sozialen in Berlin
spricht. Da war es mein Freund
Schulze-Delitzsch, der Wagener gegenübertrat,
indem er an jenes Gleichnißvon
der
Sphinx erinnerte und sagte: „Im Menschen wohnen
zwei Naturen, eine göttliche
und eine thierische, — hütet euch, die Bestie im
Menschen wach zu rufen, sie
wird mit ihren Löwenklauen diejenigen zuerst
zerfleischen, die das zu
unternehmen wagen!“ Das sagesich Ihnen auch:
hüten Sie sich, Christlich-Soziale
draußen, die Bestie wilder Leidenschaft in
Volksmassen wach zu rufen! Vor der
Geistlichkeit werden sie nicht stehen bleiben,
mit den Herren werden sie sehr
bald fertig werden. (Unruhe und Bewegung.)
Meine Herren, ich weiß sehr wohl, der Kopf, die
Hand des
Reichskanzlers ist ja nirgends sichtbar in
dieser Bewegung; ich bin auch weit
entfernt davon, den Herren am Ministertisch
irgend eine direkte oder indirekte
Beziehung zu dieser antisemitischen Bewegnng
nachzuweisen oder vorzuwerfen.
Aber das, was wir sehen, ist, daß diejenigen,
die man so nennt, die sich selbst
so nennen, die Leute des Kanzlers überall dabei
sind, von Moritz Busch an und
von der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung und
ihren Hintermännern in der
nächsten Umgebung des Kanzlers, einschließlich
des Herrn v. Treitschkel (Oho!
rechts.)
Alle die Freiwilligen sind überall bei der
antisemitischen
Bewegung, und wenn der Reichskanzler selbst
damit nichts zu thun hat, ja, wenn
er die Bewegung selbst verabscheut — das
schlimmste ist, man glaubt es nicht im
Lande, das schlimmste ist, daß diese
antisemitische Bewegung überall den Namen
des Reichskanzlers mit herumträgt; nicht ohne
Absicht hat sie an ihn die
Petition gerichtet. Zugeflüstert wird überall:
der Reichskanzler muß jetzt noch
bei Seite stehen, jetzt ist die Sache noch nicht
so weit, — bei der Agitation
gegen den Freihandel war es ja im Anfänge auch
nicht so — aber wenn erst
Petitionen mit einer Million Unterschriften
vorliegen, wenn erst die Bewegung
organisirt ist, wenn man dann an den
Reichskanzler kommt, dann wird er auf die
Sache eingehen, vielleicht mit anderen Herren
als jene, die jetzt am
Ministertisch sitzen. Darum laßt Euch darin
nicht irre machen, sammelt nur
immer Unterschriften! Das sprechen die Leute und
wühlen im Lande, und deshalb
ist es von einer so besonderen Wichtigkeit, daß
überall klar hervortritt, daß
auch nicht der entfernteste Zusammenhang
zwischen dem Reichskanzler und der
antisemitischen Bewegung vorhanden ist. Ja,
meine Herren, woher würde sich
sonst die Dreistigkeit dieser Leute erklären?
Haben denn irgendwie diese Leute,
die unter dem Aufrufe stehen, sich sonst im
öffentlichen Leben so besonders
muthig und begeistert gezeigt, sind sie sonst
irgendwo jemals für öffentliche
Sachen in derselben Weise hervorgetreten? Im
Augenblick liegt mir ein
Schimpfbrief vor, den Professor Brecher
gerichtet hat an ein Mitglied der
Stadtverordnetenversammlung, obgleich ihn die
Verhandlung dort nichts angeht;
sie schicken überall Kartellträger herum gegen
diejenigen, die die Herren bei
Namen nennen; sie haben die Dreistigkeit, sich
an Landräthe, Bürgermeister,
Superintendenten zu wenden mit ihren Petitionen.
Woher soll diese Dreistigkeit
kommen, wenn sie nicht die Ueberzeugung hätten,
sie thäten dem Reichskanzler
einen Gefallen? Eben um der Regierung eine
Gelegenheit zu bieten, sich darüber
auszusprechen, wie sie dazu steht,
einschließlich des Reichskanzlers, das ist
der Grund, weshalb wir die Interpellation
gestellt haben, und wir freuen uns
des Erfolges und wünschen, daß im ganzen Lande
von nun an eine kräftige
Reaktion diese antisemitische Bewegung
niederschlägt, die wahrlich nicht zur
Ehre und zur Zier unseres Landes gereicht.
(Bravo! links, Zischen rechts.)
Wir freuen uns über die
Unterstützung der "Berliner
Wespen",
die auch als Beilage der von Eugen Richter
herausgegebenen
"Freisinnigen Zeitung" erschienen: