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Die Judenfrage vor dem preußischen Landtage



Debatte der Interpellation Hänel, 22. November 1880




Präsident: Das Wort hat der Abgeordnete Richter.

Abgeordneter Richter: Heute habe ich erst nach der Rede des Herrn Vorredners [d. h. Julius Bachem, Zentrum] vollständig begriffen, (Große Unruhe, Ruf: Lauter!) — Sie werden mich verstehen wie immer, wenn Sie selbst ein wenig ruhiger werden — warum der Abgeordnete Windthorst am vorigen Sonnabend mit einer so scharfen Betonung erklärte, (Hört hört!) daß er nur für seine Person spreche. (Hört, hört! links.)

Die Rede des Abgeordneten Windthorst hebt sich sehr vortheilhaft ab von derjenigen, die wir eben gehört haben. War das die Rede eines Mannes, der wirklich vom religiös-sittlichen Ernst und der ganzen Bedeutung der Frage durchdrungen ist? (Zuruf rechts.)

Es wäre für die Centrumspartei besser gewesen, sie hätte es bei dem einen Tage bewenden lassen. (Widerspruch im Centrum.) anstatt dieser Rede ihres Führers einen Herrn aus dem zweiten Rang des Centrums folgen zu lassen. (Lachen im Centrum.)

Das sind eben die schlimmsten Wendungen der Rede, die nirgend wo an Thatsachen anknüpfen, (Oho!) die ganz allgemeine Verdächtigungen des jüdischen Charakters enthalten, (Unruhe) die immer blos davon sprechen: ein wesentlicher, ein stärkerer Theil der jüdischen als der christlichen Bevölkerung giebt sich jenem Laster hin, sucht in jeder Weise zu unterdrücken, durch Betrug und unrechte Mittel zu Reichthum zu gelangen. Wo ist die Statistik, die das nachweist? (Rufe rechts: Hier, hier!)

Im Gegentheil, die Kriminalstatistik ist für die Judenschaft durchaus günstig.  (Widerspruch rechts.)

Ja, meine Herren, diese allgemeinen Verdächtigungen, das ist das schlimmste, was in diese Frage hineingetragen werden kann. Der Herr spricht von der Börse und appellirt an meine Kenntniß der Börse unter Bezugnahme auf die Nationalanleihe von 1870. Herr Bachem, wissen Sie nicht, daß diese Anleihe von 1870 nicht auf der Börse aufgelegt worden ist, sondern im ganzen Lande zur allgemeinen nationalen Subskription? (Große Unruhe rechts.)

Wissen Sie denn nicht, daß es jedem Katholiken an den tausenden von Zeichnungsstellen vollständig unbenommen war, dort auch zu zeichnen? (Hört, hört! links.)

Und wenn damals nur 70 Millionen gezeichnet worden sind, so erklärt sich das in einem Moment, wo allgemeine Unruhe die Geschäfte ergriffen hat, (Aha! rechts) wo jeder baares Geld haben mußte. (Unterbrechung durch den Abgeordneten v. Ludwig.)

Herr von Ludwig, warum unterbrechen Sie mich, Sie verstehen wahrscheinlich kaum, was ich sage. (Große Heiterkeit.)

Sie sprechen von der Börse, Sie stellen den Juden in den Vordergrund. Nun, meine Herren, bei den Sachen, die hier gerade konstatirt worden sind im Hause als Ausschreitung des Gründer- und Schwindlerwesens, standen da die Juden an der Spitze? (Rufe rechts und im Centrum: Ja!)

War der Fürst Putbus ein Jude? War der Herzog v. Ujest ein Jude, war der Geheimrath Wagener ein Jude? Aber, meine Herren, Lasker war ein Jude! (Ruf: Strousberg?)

Den konservativen Strousberg schenken wir Ihnen! (Unruhe rechts.)

Lasker, ein Jude war es, der in diesem Hause zuerst jenem Gründungstreiben, das hinaufgegriffen hatte bis in die höchsten Kreise, die Larve abriß; ein Jude war es, der jene allerhöchste Kabinetsordre hervorrief zur thatsächlichen Feststellung des Gründertreibens. (Rufe rechts: Was ist denn festgestellt worden? — Abgeordneter v. Ludwig:. Das ist ja unglaublich, was der Mann sagt. — Heiterkeit.)  

Gewiß, meine Herren, der Wucher ist schändlich; aber giebt es denn bloß jüdische Wucherer? Es giebt auch sehr christliche Wucherer, sogar in der heiligen Stadt Köln. Ein Mittel allerdings gegen den Wucher sind die Volksbanken, aber leider haben die Führer der katholischen Bewegung diese Volksbanken, die wesentlich von liberaler Seite aus angeregt wurden, durch die irnmerwährende Verquickung mit kirchlichen und religiösen Zwecken nicht in dem Maße gefördert, wie es zur Bekämpfung des Wuchers wünschenswerth gewesen wäre. Und wer steht denn an der Spitze der größten Berliner Volksbank gegen den Wucher? Wiederum ein Jude, Dr. Straßmann, der so maßloß angegriffen wird.

Das sind Thatsachen, das sind Namen, Herr Bachem, gegenüber Ihren allgemeinen Verdächtigungen des jüdischen Charakters. (Sehr wahr! links.)

Wo ein Jude sich Ausschreitungen schuldig macht, oder nicht seine Schuldigkeit that, werden wir eben so gern, wie Sie, gegen solche einschreiten; aber man soll nicht aus Ausschreitungen Einzelner allgemeine Verdächtigungen eines ganzen Theiles des Volkes herleiten, die man in keiner Weise beweisen kann.

Meine Herren, der Kulturkampf hat ja zu Ausschreitungen geführt, die niemand mehr bedauern kann als ich. (Lachen im Centrum.)

Aber, meine Herren, wer ist denn Schuld an diesen Ausschreitungen? Diejenigen, welche nicht den Gesetzen Gehorsam geleistet haben. Ja wohl, meine Herren, ist auf jüdischer Seite irgendwo den Gesetzen nicht Gehorsam geleistet worden? Und doch hat die jüdische Bevölkerung eine Gesetzgebung, die sie weit mehr beschränkt, als die katholische Kirche. (Widerspruch im Centrum.)

Kennen Sie nicht das Gesetz von 1847, welches heute noch der Regierung Rechte in die Hand giebt, die tief einschneiden in die Verhältnisse der Synagogengemeinden, das Recht der Beanstandung jüdischer Kultusbeamter, wo den Verwaltungsbehörden weitergehende Rechte gegeben werden wie vielfach den Katholiken gegenüber! Haben Sie jemals gehört, daß von jüdischer Seite dem Staatsgesetz Ungehorsam geleistet wäre? Wenn freilich auf anderer Seite der passive Widerspruch systematisch organisirt ist gegen ver fassungsmäßig zu Stande gekommene Gesetze des Landes, und wenn dann zur Erzwingung des Gehorsams der Staatsbürger gegen Staatsgesetze solche Maßregeln schließlich ergriffen werden müssen, wie sie ergriffen sind — auf welcher Seite liegt dann ein wesentlicher Theil der Mitschuld für diese Ausschreitungen?

Meine Herren, ich habe immer bedauert, wenn derartige Spottbilder dasjenige herabziehen, was heilig und ehrwürdig sein sollte. Wenn Sie fragen, wo in Berlin die Krankenpflege würdig abgebildet ist in ihrem Beruf, so gehen Sie hin auf das Rathhaus, da finden Sie ein solches Bild. Freilich, meine Herren, den Mönch, der über die höchsten Probleme nachdenkt, den kann man nicht abbilden, denn wer weiß, worüber der Mann gerade nachdenkt. (Heiterkeit.)

Sie sprechen von der Judenpresse, — sagen Sie es doch offen heraus, es ist die liberale Presse, die Ihnen nicht gefällt. Neulich haben wir gehört von der Posener Zeitung. Sie ist angegriffen worden als ein jüdisches Organ. Meine Herren, weder ein Verleger, noch ein einziger Redakteur der Posener Zeitung gehört der jüdischen Religion an. Der Jude hat das Posener Tageblatt, der Jude ist Besitzer des Regierungsblattes. (Heiterkeit.)

Wenn Sie hier von Berlin sprechen, Herr Stöcker, z. B. so ist Ihnen die Vossische Zeitung ein besonderer Greuel. Dort ist kein einziger Redakteur, kein Besitzer, der der  jüdischen Konfession angehört. Nein, meine Herren, die Juden schlägt man und die Liberalen meint man. Glauben Sie denn, daß wir das nicht durchfühlen? Der Abgeordnete Bachem spricht ja selbst von der jüdischen fortschrittlichen Presse und dergleichen. Weil man die Liberalen in ihren Grundsätzen nicht bekämpfen kann, (Widerspruch.) ohnmächtig dagegen ist in den großen Städten, — darum wird der Racenhaß zu Hülfe gerufen, nicht bloß um das Judenthum zu bekämpfen, sondern es ist die verzweifelte Anstrengung der konservativen Bestrebungen; um sich über Wasser zu halten, hat man zu solchen Mitteln greifen müssen, nicht blos um die Juden zu bekämpfen, sondern um den Liberalismus anzugreifen. Meine Herren, das ist der eigentliche Kern der Sache. (Sehr wahr!).

Nun, meine Herren, Sie sprechen, die Interpellation sei inopportun gewesen. Ja, inopportun für Sie, das glaube ich. (Heiterkeit.)

Wir sind sehr zufrieden mit dem Erfolg dieser Interpellation. (Heiterkeit). Meine Herren, wenn Sie so zufrieden sind mit dem Sonnabend, dann hätten Sie nicht nöthig gehabt, heute noch den Montag zu unserer Ueberraschung als zweiten Tag hinzuzufügen. (Sehr gut!)

Die Rede des Herrn Abgeordneten Bachem scheint mir aber darzuthun, daß Sie auch heute schwerlich Lorbeeren pflücken werden. Meine Herren, der Freiheit des Petitionsrechts stellen wir gegenüber die Freiheit des Interpellationsrechts. Wenn sich diese Bewegung nur auf Berlin beschränken würde, dann würden wir schon selbst damit fertig werden, dann genügte uns die Stadtverordnetenversammlung, um solche Dinge zu kennzeichnen. Aber greift sie nicht hinaus auf das ganze Land? (Sehr wahr!) Hören Sie nicht, daß diese Petition an alle Bürgermeister versandt wird, an alle Superintendenten, alle Landräthe, an Steuereinnehmer und was weiß ich alles?

Meine Herren, es war gerade Zeit gegenüber einer Bewegung, die sich zu organisiren anfing, die öffentliche Meinung aufmerksam zu machen, was dort im Lande vorgeht. Meine Herren, das Abgeordnetenhaus soll das Gewissen der Nation vertreten; an dieses appelliren wir gegenüber jener im Dunkeln schleichenden Bewegung. (Unruhe.) Die Interpellation, das war die Leuchtkugel, die aufstieg, um alle Minirarbeiter zu kennzeichenen vor dem Volke, die jetzt thätig sind, jene Bewegung wachzurufen. Meine Herren, jetzt ist die Aufmerksamkeit im Lande darauf gelenkt, jetzt sind die Kräfte wachgerufen, jetzt sind Sie aus der Offensive in die Defensive geworfen. (Widerspruch).

Das ist, was Sie inopportun finden, wir aber nicht. Wenn einzelne Stimmen angeführt worden sind, die sich zurückziehen, die sich der Bewegung nicht mehr anschließen wollen, ja, meine Herren, sie stehen unter dem Druck der öffentlichen Meinung, nicht des jüdischen Terrorismus, es ist ihnen klar geworden durch die öffentliche Behandlung, worum es sich handelt, und darum fühlen sie sich in ihrem eigenen Gewissen jetzt gedrungen, Zeugniß abzulegen, daß sie nicht zu jener Bewegung gehören.

Im Uebrigen, meine Herren, überlasse ich die Betrachtungen des Herrn Abgeordneten Bachem über die Feigheit der Konservativen, sich von gewissen Erklärungen zurückzuziehen, der Auseinandersetzung der Herren unter einander. Wenn er wirklich glaubt, daß auf jener Seite eine solche Feigheit vorhanden sei, wie wir sie an Herrn Limprecht und anderen gewissen Herren in Breslau .....

Präsident: Herr Abgeordneter Richter, das hat der Herr Abgeordnete Bachem nicht in Bezug auf Mitglieder dieses Hauses gesagt; hätte er das gesagt, so hätte ich ihn zur Ordnung gerufen.

Abgeordneter Richter: Herr Präsident, mein Ausdruck bezieht sich nicht auf konservative Mitglieder dieses Hauses, sondern ich habe sagen wollen: wenn der Herr Abgeordnete Bachem sagt, Limprecht und die Breslauer Herren standen derartig unter dem Terrorismus, daß sie es nicht mehr wagen, ihre Meinung aufrecht zu erhalten und kund zu geben, so habe ich Herrn Bachem aufgefordert, sich selbst mit diesen Leuten  über den—ihnen gemachten Vorwurf der Feigheit auseinanderzusetzen; keineswegs —  wenn ich mich inkorrekt ausgedrückt haben sollte — auf irgend ein Mitglied dieses Hauses. Er spricht mit Emphase aus, es finde sich kein christlich-konservativer Rechtsanwalt in Breslau mehr, um in solcher Bewegung eine Klage zu vertreten; — warum wenden sich denn die Herren nicht an Herrn Schröder (Lippstadt), ist dem etwa auch bange geworden? (Heiterkeit. Sehr gut!)

Ich glaube, es ist wirklich zu kleinlich, gegenüber dieser ganzen Bewegung, wenn man sie auf dergleichen persönliche Geschichten, wie sie in den Zeitungen hin und her getragen werden, reduzirt.

Meine Herren, warum ich mich zum Wort gemeldet habe, bevor der Abgeordnete Bachem gesprochen hat, das ist, weil das Wert wieder durchgeklungen ist aus der Debatte vom vorigen Sonnabend vom christlichen Volk, vom christlichen Staat. Da scheint es mir denn doch an der Zeit zu sein, eine Aeußerung ins Gedächtniß znrückzurufen, die gesprochen wurde vor 33 Jahren, auf den vereinigten Landtagen in jener Debatte über dieselbe Fragen, ebenfalls über den christlichen Staat. Der Mann, der sie that, gehörte nicht unserer Partei an, er war ein scharfer Gegner derselben, es steckte ein gut Stück Junker in ihm, es war der Freiherr v. Vincke. Er sagte, als von Kirche und Staat gesprochen wurde:

ich muß darauf zurückkommen, was ich als den eigentlichen Kern der Verhandlung von den Vertretern des Gouvernements aussprechen gehört habe, auf den Begriff des christlichen Staats. Es geht mir wie mehreren anderen Rednern, daß ich nämlich trotz der eifrigsten Forschungen und des gewissenhaftesten Nachdenkens, mir nicht habe klar machen können, was unter einem christlichen Staat zu verstehen. Ich glaube das Christenthum sehr hoch zu stellen; aber der Begriff der Religion kann doch nur auf der inneren individuellen Ueberzeugung beruhen. Der Staat aber ist ein Komplexus von Individuen, welcher als solcher keine allgemeine Ueberzeugung haben kann. Insofern daher der Staat eine moralische Person darstellt, so kann ich mir nicht denken, daß derselbe als solcher keine allgemeine Ueberzeugung haben könne. Wie man also von einem Staate sagen könne, er sei ein christlicher Staat, ist mir nicht erklärlich. Der Staat wird doch auch nicht die Bestimmung haben sollen, die Glaubenssätze in bestimmten Konfessionen zu realisiren — gewissermaßen der Exekutor der Kirche zu sein. Vielleicht hat diese Darstellung in einem andern Sinne genommen werden sollen; man will vielleicht sagen, als Staat hat er in der Gesetzgebung die Prinzipien zu realisiren, die aus der christlichen Moral hervorgehen, denn die Glaubenssätze selbst kann er nicht realisiren. Aber auch in dieser Beziehung kann ich mir nicht denken, daß der Staat sich als Exekutor des Reichs zu geriren habe. Wenn es sich darum handelt, die Grundsätze der christlichen Moral zu realisiren, so muß ich gestehen, daß ich die Benennung eines christlichen Staats z für den unsrigen bestreiten muß. Ich will nur die Grundsätze unseres Staats mit dem neuen Testament vergleichen. Ich könnte zwar auch bei dem alten Testament anfangen und mit den zehn Geboten beginnen. Die zehn Gebote sagen schon: Du sollst nicht tödten, während der Herr Schatzmeister, den noch die Armee in ihren Reihen zu zählen das Glück hat, beabsichtigen wird, in strenger Anwendung jener Grundsätze den Krieg zu verdauen. Es steht ferner im neuen Testament: „Du sollst nicht schwören, Eure Rede sei Ja, ja, Nein, nein, was darüber ist, ist vom Uebel . . . .“ Es ist ferner das Gebot des Christenthums: „Liebet Eure Feinde“, und: „wenn Dir Jemand einen Backenstreich giebt, so halte ihm die andere Backe auch hin“, wie wollen wir aber mit diesem Grundsatz die Gesetzgebung über die Injurien in Einklang bringen? Viele Paragraphen des Landrechts müßten ausgetilgt werden. Wie will man in der auswärtigen Politik mit dem Gebote der Kindesliebe es vereinigen, Verträge gegen auswärtige Mächte zu schließen, ich glaube, wenn wir unsere Minister alle durchmustern, so können ihre Handlungen diesem Standpunkt gegenüber nicht bestehen.

Er führt diese Dinge im einzelnen an und schließt diese Ausführung damit: Ich bin ferner der Ansicht, daß es auch hier vor Allem auf Recht ankommt, und daß die Beachtung der Grundsätze des Rechts, um derentwillen die Menschen sich zuerst veranlaßt sehen, aus dem Zustande der Roheit in den zivilisirten Zustand überzugehen und zu Staaten zusammen zu treten, die Befugniß nicht ertheilt, Jemanden wegen seiner inneren Ueberzeugung von dem Genusse der Wohlthaten des Staatsverbandes auszuschließen.

Er schließt seine Rede damit: die jüdische Religion enthält keine Vorschriften, welche die Juden verhindert, ebenso gute Staatsbürger zu sein, als wir Christen.

Meine Herren, es ist ein Zeichen der Zeit, der fortschreitenden Reaktion, daß man heute nach 33 Jahren auf das zurückkommen muß, was damals in jener Debatte gesagt worden ist zur Kennzeichnung des Charakters eines Staats. Ich glaube in der That, die Freunde des Herrn Bachem hätten am meisten Veranlassung wie jede Minorität, sich zu wahren gegen einen solchen Versuch, Staat und Religion, Staat und Christenthum zu identifiziren; denn vom christlichen Staat zum protestantischen Staat, zum evangelischen Staat ist nur ein Schritt, es ist sogar die logische Konsequenz des Gedankens. Sie selbst, als Sie sich bei der Frage der Simultanschulen verwahrten, daß die Schulen nur eine allgemeine christliche Unterlage haben sollten, indem Sie sagten: nur in Gestalt einer bestimmten Konfession wird das Christenthum lebendig, Sie selbst haben damals diesen Grundsatz nicht anerkannt. Meine Herren, ich bin überhaupt der Meinung, daß diejenigen, welche in dieser Weise Christenthum, Religion und Staat miteinander in Verbindung bringen wollen, in der That weiter gedrängt werden und zuletzt beim konfessionellen Staat ankommen müssen. Wir sehen es ja, daß auf jener Seite die weitere Schlußfolgerung gezogen wird in der Frage der Simultanschule; da sollen nun schon die Kinder beim Unterricht getrennt werden nach ihrer besonderen Konfession, da ist schon gar nicht mehr die Rede von christlichen Schulen gegenüber jüdischen Schulen, sondern da heißt es evangelische Schulen und katholische Schulen. Die Herren vom Centrum gehen dann noch weiter. Auf dem Katholikentage in Breslau ist von jener Seite in der Generalversammlung eine Resolution angenommen worden, die es nicht dabei wollte bewenden lassen, daß die Kinder getrennt werden in den Schulen, sondern die auch dazu übergeht zu trennen weiter in den gesellschaftlichen Verhältnissen, in den persönlichen Beziehungen zu einander. Dort heißt es:

Die Generalversammlung beklagt es, daß gerade in den sogenannten gebildeten Klassen viele Mischehen geschlossen werden, welche jedem positiven Glauben nachtheilig sind und nur die Gleichgültigkeit im Glauben fördern. Pflicht katholischer Eltern ist es, alle ihre Autorität aufzuwenden, um Mischehen ihrer Kinder zu verhindern, Pflicht der katholischen Jünglinge und Jungfrauen ist es, Bekanntschaften mit Andersgläubigen zu vermeiden, welche eine Mischehe vorbereiten können. (Sehr richtig! im Centrum. Große Unruhe.)

Sie sehen, meine Herren, wohin das kommt. Ja, das nennen Sie sehr gut, die bürgerliche Gesellschaft in ihren persönlichen Beziehungen auseinanderzureißen; auf der einen Seite sollen nur die Katholiken mit Katholiken Bekanntschaft machen, auf der andern Seite nur die Protestanten mit Protestanten. Und, meine Herren, Sie gehen ja noch weiter: Ich habe hier vor mir liegen die Rede unseres Kollegen Dr. Franz. Herr Dr. Franz sagte auf jenem Kongreß, als er die Mittel angab zur Hebung des Handwerkerstandes und scharf das leidige Borgsystem verurtheilt und empfiehlt, seine Bedürfnisse beim selbstständigen Handwerker — ,,Sie wissen schon, was ich meine, (Stimme aus dem Publikum: Nicht beim Juden! zu kaufen)“. Meine Herren, ich zitire, um Herrn Dr. Franz, er kann ja mißverstanden sein, hier ausdrücklich Gelegenheit zu geben, das klar zu stellen. Ich halte das für ganz außerordentlich wichtig. Meine Herren, bisher hat noch keine politische Partei, keine Glaubenspartei diese Sonderung selbst in das geschäftliche Leben getragen. (Widerspruch im Centrum.)

Nein, meine Herren, es hat einen Fall gegeben im deutschen Reichstag. In Altona bei einer Wahl haben die Sozialisten aufgefordert, daß man künftig nicht mehr kaufen soll bei einem Krämer, der nicht Sozialist sei, und als das im Reichstag berührt wurde von dem Abgeordneten Lasker, da trat der Abgeordnete Bebel auf und sagte: wir desavouiren unsere Altonaer Parteigenossen, nein, das wollen wir nicht; so scharf unsere Gegensätze auch sind, die Sozialisten wollen nicht diese Gegensätze in die geschäftlichen Beziehungen hineingetragen sehen. Ich will mich freuen, wenn nun hier in derselben scharfen Weise Herr Dr. Franz oder sonst ein Redner des Centrums erklärt, wie sie auch über die Judenfrage denken, sie halten es nicht für richtig, diese Fragen auf die geschäftlichen Beziehungen zu einander übertragen zu sehen. Meine Herren, Sie sehen, wohin solche Bestrebungen wollen. Das bleibt ja nicht bei den Juden stehen, das heißt doch schließlich, durch dasjenige, was angeblich im Namen der Nation an nationalen Bestrebungen begonnen ist, die Nation nach allen Richtungen auseinanderreißen. (Sehr richtig! links.)

Ich bin der Meinung, es ist in der That eine antinationale Bewegung, es ist eine Bewegung, die sich gegen das einheitliche Deutschland kehrt, das unter so vielen Opfern im Jahre 1871 geschaffen worden ist. (Sehr richtig! links.)

Meine Herren, nun ist von Seiten des Herrn Bachem auf die christlich-soziale Partei hingewiesen und auch am vorigen Sonnabend darauf Bezug genommen. Es veranlaßt mich dies, diese Sache, die mir bisher etwas vernachlässigt zu sein scheint, etwas näher in Betracht zu ziehen, zumal hinter mir ein Redner kommen wird, für den, wie ich höre, diese Sitzung von der Majorität hauptsächlich in Aussicht genommen ist, um ihm Gelegenheit zu geben, über diese Sache zu sprechen. (Ruf rechts: Natürlich!) Ja wohl, meine Herren, ich unterstütze diese Bestrebungen und will noch Material zuführen.

Es ist gesagt worden, daß ein besonderer Muth dazu gehöre, (Rufe rechts: Ja wohl!) an dieser christlich-sozialen Bewegung Theil zu nehmen; meine Bemerkungen richten sich natürlich nicht gegen das Mitglied persönlich, sondern gegen diese ganze Bewegung, wie sie sich uns darstellt — daß ein besonderer Muth dazu gehöre in ein Wespennest zu stechen, wie man sich ausgedrückt hat. Nun, meine Herren, ich muß sagen, wenn es ein Muth ist, dann ist es nach meiner Auffassung ein trauriger Muth, und ich halte es auch nicht einmal für besonders muthig gegen eine Bevölkerungsklasse, die eine kleine Minorität, selbst hier in Berlin nicht einmal ein Dreißigstel der Bevölkerung darstellt, aufzutreten, zumal wenn man weiß, daß noch weit mehr, als diese Bewegung Unterstützer und Freunde hat, es mächtige Leute giebt, die den Juden so etwas gönnen. Meine Herren, Muth gehört dazu, wenn andere Geistliche die protestantische Glaubensfreiheit und Kanzelfreiheit gegen eine kleine orthodoxe Clique (aha! rechts) zu vertheidigen wagen, wenn sie ihre Ueberzeugung selbst unter der Drohung des Verlustes ihres Amtes öffentlich kundgeben. Das ist es, was Muth erfordert, nicht auf die Juden zu hetzen. Und, meine Herren, Muth nach unten! Ach Gott bewahre, der Berliner Mob amüsirt sich darüber, (Rufe rechts: Mob? Hört! hört!) in dessen Augen gehört auch das zum Ganzen. Wenn gewisse Namen aus der christlich-sozialen Bewegung in großen Berliner Versammlungen genannt werden oder zum Beispiel im Theater vorkommen, so habe ich noch immer gefunden, daß nicht ein Ton der Entrüstung durch solches Publikum geht, sondern eine gewisse heitere Stimmung. Meine Herren, und zudem mit dem Muth! Wenn Herr Stöcker so, wie es ein früherer Redner in dieser Diskussion ausgedrückt hat, einmal auf die Hühneraugen getreten wird, dann geht er gleich zum Staatsanwalt. Er beklagte sich ja öffentlich, daß der Staatsanwalt seinen Denunziationen nicht genug Folge leiste und erst in der letzten Zeit scheint er davon zurückgekommen zu sein, nachdem er die Erfahrung gemacht, daß sich Erkenntnißgründe öfter gegen diejenigen, die solche Verurtheilungen herbeiführen, schärfer richten können, als der Tenor gegen den Verurtheilten.

Meine Herren, ich bin bekannt als einer, der die sozialdemokratische Bewegung von Anfang an und in allen Stadien aufs heftigste und entschiedenste bekämpft hat; das muß ich aber sagen: in meinen Augen ist jene christlich-soziale Bewegung viel verderblicher, viel gefährlicher als die sozialdemokratische. (Ruf rechts: Für Sie!)

Meine Herren, die Sozialdemokraten sind ausgewiesen und wenn sie sich in Hamburg ansiedeln, werden sie weiter ausgewiesen, bis sie übers Meer wandern. Die Träger der christlich-sozialen Bewegung bleiben, während dies den Kleinen geschieht, in Ansehen und Würden im Kreise der Mächtigen. Meine Herren, das Gemeinsame dieser beiden Bewegungen ist das, daß sie überall den Staat voranstellen; sie sagen in ihren Flugschriften — sie liegen hier vor mir — in ihren Wahlaufrufen für Herrn Stöcker: die Gesetzgebung ist schuld, daß Ihr Arbeiter mit Weib und Kind am Hungertuche nagt! Dahin ist es gekommen in der Bevölkerung — und weiter versprechen sie dem Arbeiter: ja, wenn erst die Gesetzgebung in unserm Sinne geändert wird, werdet Ihr glücklich sein, dann wird die große Kluft, die jetzt besteht zwischen Reich und Arm, verschwinden und man wird sie nicht mehr wahrnehmen! Ich habe hier z. B. vor mir eine von dem christlich-sozialen Verein als Flugblatt Nummer 3 offiziell publizirte Rede des Herrn Stöcker, darin heißt es:

Was uns vor Augen steht, ist die furchtbare Thatsache, daß die Kluft zwischen Reich und Arm auch im deutschen Land immer weiter und breiter wird, daß sie fast nicht mehr ausgefüllt, daß sie kaum überbrückt werden kann, und das ist schrecklich. (Bravo!) Das kann keinem Menschen gefallen, das gefällt auch Gott nicht. (Großer Lärm. Rufe: Schluß!) — Meine Herren, ich glaube es wird Sie interessiren, was ich jetzt zu sagen habe. — Wenn im alten Testament verboten ist, vom Kapital Zins zu nehmen, (Ruf: Juden.) wenn der Zusammenkauf vieler Güter in der Weise verhindert ist, daß jedesmal im 50. Jahre alle verpfändeten und verkauften Güter wieder an den Eigenthümer von früher zurückfallen mußten, dann werden Sie erkennen, daß hier mit einer ungemein göttlichen Weisheit die soziale Frage angefaßt und für die damalige Zeit völlig gelöst ist. Wo die Dinge so geordnet sind, da ist es gar nicht möglich, daß sich auf der einen Seite ein ungeheures Vermögen ansammelt und auf der andern ein Pauperismus eintritt, der das Elend der gesammten Nation ist. (Gut!)

Meine, Herren, ich weiß wohl, daß Herr Stöcker in seinen Reden dem Privateigenthum einen größeren Spielraum läßt als die Sozialdemokraten; aber es tritt dies in der Gesammtheit seiner Darstellung mehr zurück. Es ist der Staat, die Organisation der Arbeit durch den Staat, die Verantwortlichkeit durch den Staat, die er anruft, die den Leuten helfen soll, es ist der Staat, dem er Schuld giebt, die Zustände herbeigeführt zu haben, in denen wir uns befinden. Meine Herren, in den Reden finden Sie nichts von jenem Satz: Hilf Dir selbst, so wird Gott Dir helfen; Sie finden in den Reden nichts von dem Satz: Jeder ist seines Glückes Schmied; nichts finden Sie dort von der Macht der Liebe, insbesondere der christlichen Liebe, die dem Andern helfen soll. Nein, Herr Stöcker weist in diesen Reden es ausdrücklich zurück, er sagt, sie kann viel  thun, aber glaubt nur nicht, daß die Macht der Liebe die Kluft verschwinden machen kann, daß von ihr Hülfe zu erwarten ist; nur der Staat, die Staatshülfe, die Organisation für den Staat ist es, die er empfiehlt, ebenso wie die Sozialisten es in ihrer Weise thun.

Meine Herren, es ist ein Glück, daß solche Vorstellungen in den germanischen Völkerschaften zum Unterschiede von den romanischen nicht vorherrschend sind, daß in den germanischen Völkerschaften das Gefühl für Selbsthülfe, für Selbstverantwortlichkeit, das Bewußtsein der Kraft des Individuums lebendiger sind als in den romanischen, daß man im Staat wohl eine Stütze sieht, die viel helfen kann, aber nicht geneigt ist, auf den Staat die Verantwortlichkeit für seine Existenz, für sein Dasein und den ganzen Fortschritt der Menschen zu wälzen. Wäre es anders, gelänge es solchen Vorstellungen im Volke Platz zu greifen, wohin kämen wir dann? In die Zustände der romanischen Völkerschaften, in französische Zustände; dort freilich ist die Vorstellung lebendig, wenn Mißstände sich zeigen, ja wenn die Ernte mißräth, kehrt sich die ganze Unzufriedenheit gegen den Staat, der Staat ist verantwortlich dafür, und was folgt daraus? Keine Staatsregierung, kein politisches System ist im Stande, solche Unzufriedenheit zu bannen, weil der Staat unmöglich in der Lage ist, die Anforderungen, die in dieser Weise gegen ihn wachgerufen werden, zu erfüllen, und deshalb sehen Sie dort in Frankreich Revolution auf Revolution folgen, kein Regierungssystem macht es den Franzosen recht, keins vermag die Ansprüche zu erfüllen, die an den Staat gestellt zu werden pflegen. Hüten wir uns, ähnliche Vorstellungen zu erwecken, sie mögen den augenblicklichen Machthabern , vielleicht vortheilhaft sein, aber es kommt eine Stunde, wo die Erwartungen, die man an den Staat stellt, erfüllt werden müssen, und dann kehrt sich der ganze Mißmuth, die Unzufriedenheit gegen die Staatsregierung, und wenn die Konservativen dann vielleicht auch nicht mehr am Ruder sind, so wird es die Gesammtheit der Bürger zu tragen haben, es wird, wenn diese Bewegung wächst, die jetzt von zwei Seiten, von der christlich-sozialen und von der sozialistischen Seite in gleicher Weise geschürt wird, dann wird die Gesammtheit darunter leiden und es droht manches zusammen zu stürzen, was aufrecht zu erhalten wir Alle ein großes Interesse haben; keine Bewegung ist antimonarchischer in ihren Grundzügen als diese. (Sehr wahr!)

Das monarchische System kann bei einer so bewegten Unzufriedenheit so wenig auf die Dauer bestehen wie irgend ein anderes System, kein System wird in den wechselnden Revolutionen, wenn solche Vorstellungen herrschen, dauernd bestehen können. Wir sollten über alles das, was uns trennt, es ist gleich, ob wir Konservative und Liberale sind, sollten uns vereinigen das fern zu halten, daß im Volke Ansprüche an den Staat groß gezogen werden, die kein Regierungssystem zu erfüllen vermag. (Sehr gut!)

Das Zweite, was die Christlich-Sozialen gemein haben mit,den Sozialisten ist die Methode. Man sagt, das Ziel der Sozialisten, darüber ließe sich diskutiren; aber wenn die Sozialisten nicht eine so verwerfliche Methode hätten, wenn sie nicht den Klassenhaß nährten, den Neid, die Mißgunst. — — Ja, meine Herren, geschieht das nicht in derselben Weise in den Versammlungen der Christlich-Sozialen? Hier vor mir liegt ein Bericht der Post, in welchem auch ein Prediger auftritt; er führt in diesem Bericht ausdrücklich an, daß das Gesetz von 1869, das Reichsgesetz, welches die Religionsgleichheit bestätigt, daß dieses Gesetz schuld sei an allen denen Uebelständen im wesentlichen, unter denen wir jetzt zu leiden haben. Mustern Sie das, was aus jenen Reden publizirt wird, nicht bloß in unseren Blättern, denen könnte man tendenziöse Berichterstattung vorwerfen — mustern Sie, wie es zugeht in den Versammlungen: da werden Reden gehalten gegen das mobile Kapital, da soll Herr Stöcker gesagt haben: Sehen Sie auf Bleichröder hin, der hat mehr in seinem Vermögen als alle Prediger zusammengenommen. (Große Heiterkeit.) 

Meine Herren, so persönlich ist noch kein Sozialist aufgetreten. Dort wird gehetzt gegen die Börse, in jeder Weise wird Stimmung gemacht nach dieser Richtung. Es wird sogar in der Rede den Sozialdemokraten vorgeworfen, nicht genug gehetzt zu haben. Herr Stöcker sagt: Warum machen die Sozialdemokraten bloß die Meister und Fabrikanten für ihre Nothlage verantwortlich, warum nicht die Börse? Die Börse ist schuld, aber die wird nicht angegriffen. So stachelt er sie also noch auf nach der Richtung, wo sie nach seiner Meinung noch nicht genug gethan haben.

Wie geht es nun zu in solchen Versammlungen? Nach einer Rede, wie ich sie angedeutet habe, wird eine Pause gemacht zur Entgegennahme von Beantwortungen, dann entsteht ein Tumult, man meldet sich zum Wort, Herr Stöcker ist nicht im Stande, die Ordnung aufrecht zu erhalten, er schließt die Versammlung, (lebhafter Widerspruch) und in einem Theile des Saales entwickelt sich eine kleine Schlägerei, in einem anderen Theile hört man die Worte: „Gehen Sie doch in Ihre Synagoge, Sie langnäsiger Judenjunge“, „Sie haben hier nichts zu suchen, Sie sind nur Gast“. (Große Heiterkeit.) Dann sagt der andere wieder: „Ich habe 10 Pf. Entree gezahlt und kann bis zum Ende der Vorstellung hier bleiben.“ (Große Heiterkeit und Unruhe.) Dann hört man die Rufe: Adieu, adieu, der Herr Hofprediger Stöcker soll leben! hoch! — die Sozialdemokratie soll leben! hoch! — die Juden sollen leben! hoch! — Lassalle, der Jude Lassalle soll leben! hoch! hoch! — Er lebt nicht mehr! Dazwischen vernahm man ein schrilles Pfeifen und Schreien, Schutzleute standen auf der Straße und langsam verlief sich die Menge.“ So sind die Berichte über solche Versammlungen. (Ruf: Börsenkourier!) Sie finden derartige Darstellungen in allen Zeitungen. Sie werden doch nicht leugnen, daß ein großer Theil dieser Versammlungen wegen Tumults geschlossen worden ist. (Zuruf: Es ist nie eine geschlossen!)

Meine Herren! die ganze Bewegung hat einen durchaus ähnlichen Charakter in Bezug auf das letzte Ziel, in Bezug auf die Methode, wie die sozialistische. (Zuruf.) Das ist es, worauf es ankommt. Die kleinen graduellen Unterschiede treten vollständig zurück, das ist gerade das besonders perfide an der ganzen Bewegung, daß während die Sozialisten sich bloß kehren gegen die wirthschaftlich Besitzenden, hier der Racenhaß genährt wird, also etwas, was der einzelne nicht ändern kann und was nur damit beendigt werden kann, daß er entweder todtgeschlagen oder über die Grenze geschafft wird. Das ist ja dasjenige, was den Sozialisten in der Weise fehlt. Sehen Sie denn nicht, daß die Bewegung auch deshalb viel mehr den öffentlichen Frieden untergräbt, wie die sozialistische? (Sehr wahr! links.)

Die sozialistische Bewegung hat viel verschuldet, aber haben Sie jemals gesehen, daß sie so unmittelbar Straßenexcesse nach sich gezogen hat, Beschimpfungen oder Schlägereien in dieser Weise, wie wir es jetzt täglich lesen? Dort liegt die moralische Ursache solcher Vorgänge. Wenn sie die Verwandtschaft mit den Sozialisten leugnen wollen: die schönen Seelen finden sich schließlich zusammen.

Herr Körner war noch in diesem Frühjahr der von allen sozialistischen Abgeordneten empfohlene Gegenkandidat meines Kollegen Virchow; Finn war bei der letzten Reichstagswahl der sozialistische Gegenkandidat des Kollegen Mendel. Jetzt sehen wir die Herren mit Herrn Stöcker zusammen, sie haben sich in derselben Sitzung gefunden; Herr Stöcker begrüßt sie und freut sich, daß sie sich bei ihm einfänden, und hofft, daß, wenn auch Unterschiede beständen, sie doch zusammengehörten. „Wir königlich preußische Sozialdemokraten“ so nennen sich die Herren! So bringen sie die Sozialdemokratie in enger Beziehung zur Firma des Königs.

Allerdings auffallend ist es; diese Leute Körner und Finn werden aus Berlin ausgewiesen, nach sechs Monaten kommen sie zurück, wie es heißt, unter Vorbehalt einer guten Aufführung. Was thun sie? Das erste, was sie thun, ist nicht, sich bescheiden, still zu verhalten, sondern ein Plakat in Berlin austragen zu lassen — „wir königlich preußische Sozialdemokraten“ — ein Plakat, das den Fürsten Bismarck für einen vernünftigen Sozialisten erklärt und in dem zum Klassenhaß gegen die Berliner Hausbesitzer aufgefordert wird. Das sind also Leute, die auf Vorbehalt guter Aufführung nach Berlin zurückgelassen worden sind! Wenn die sich gleichwohl getrauten, so demonstrativ agitatorisch vorzugehen, mußten sie nicht sicher sein, daß das Polizeipräsidium ihnen trotzdem den Aufenthalt gestattete? Wir sehen das Polizeipräsidium nicht dagegen einschreiten. Der Polizeipräsident, ein so vorsichtiger Mann, mußte er also, als er Jene zurückkommen und so auftreten ließ, nicht fürchten, damit in den höchsten Kreisen zu verstoßen? Das sind alles unaufgeklärte Fragen. Ebenso diejenigen, welche der Herr Abgeordnete Virchow schon angedeutet hat, woher die Geldmittel fließen für die Blätter in Hamburg, für die Deutsche Volkszeitung, der eigentlichen Quelle der antisemitischen Literatur. Da werden die Ergüsse eines Marr gedruckt, da werden die perfidesten Artikel geschrieben, von dort aus werden sie versandt an andere Orte und andere Blätter. Zum Beispiel wird mir berichtet, daß in Nassau Blätter, welche von Hamburg die inneren Seiten mit solchen antisemitischen Artikeln beziehen, in ihrer Ausbreitung von den dortigen Behörden begünstigt werden. Diese ganze Art von Literatur, wie wir sie in Hamburg, Berlin, Dresden, Liegnitz erscheinen sehen, steht im engsten Zusammenhang miteinander. Hier ist eine Organisation vorhanden; wo ist die Geldmacht, die das bezahlt? woher fließen die Geldmittel? Es wäre uns sehr lieb, wenn wir hörten, daß nicht der Reptilienfonds dafür in Anspruch genommen wird.

In der That, meine Herren, die Regierung sollte sich hüten in ihren Organen, direkt oder indirekt, in dieser Frage, auch wenn sie die Ueberschrift „christlich-sozial“ trägt, noch einmal mit dem Feuer zu spielen. Uns ist noch in guter Erinnerung, wie es damals gewesen ist, als die sozialistische Bewegung zuerst in Berlin aufkam. Damals als Lassalle von den Gerichten des Landes im Namen des Königs wegen Hochverrath und Majestätsbeleidigung verfolgt wurde, war es der Reichskanzler, der mit ihm seine vertraulichen Konferenzen zu gleicher Zeit pflog, wie mit einem interessanten Gutsnachbarn. Man flüsterte sich schon damals zu: wenn ihn auch die Gerichte des Landes verfolgen, der Kanzler steht dahinter; er steht auf Seiten der Sozialisten. Damals hat man dies noch nicht so gewußt, wie jetzt durch die eignen Aussagen des Kanzlers bekannt geworden ist. Und wie war es mit Schweitzer, als die Sozialisten unter Schweitzer hier auftraten? wie waren die Verhältnisse zwischen Schweitzer und dem Geheimrath Wagner? woher hatte Schweitzer die Mittel, um hier so in Berlin aufzutreten? wie war damals das Verhalten der Regierung, als jene Sozialistenbanden das Versammlungsrecht zu nichte machten und die Versammlungen stürmten, und wir interpellirten? Da sagte der Minister Graf Eulenburg: was geht mich das an — die Sozialisten haben mit der Fortschrittspartei eine Versammlung angemeldet in demselben Lokal, nun prügeln sie sich da inwendig herum — wer eigentlich der Berechtigte ist? — die Polizei würde nur die Prügelei vermehren, wenn sie sich auch einmischte, sie wartet, bis die Sache auf die Straße kommt, dann geht sie sie erst etwas an.

Meine Herren, so hat man die Bewegung in ihren Anfängen mit einer gewissen wohlwollenden Neutralität behandelt. Was ist daraus geworden, welchen Umfang hat sie genommen? Von Schweitzer war bald nicht mehr die Rede, die Bewegung hat alsbald einen ganz selbstständigen Charakter angenommen, eine Gefahr, die leider die Staatsregierung erst in dem Augenblick erkannt hat, wo ihre fluchwürdigsten Ausläufer sich in jenen scheußlichen Attentaten zeigten. Wir haben rechtzeitig gewarnt. (Lachen rechts.)

Damals waren auch sogenannte konservative Stimmen hier laut (hört! hört! links) im Jahre 1865. Die konservative Partei drohte uns mit dem Tritt der Arbeiterbataillone, wie man heute von den Christlich-Sozialen in Berlin spricht. Da war es mein Freund Schulze-Delitzsch, der Wagener gegenübertrat, indem er an jenes Gleichniß  von der Sphinx erinnerte und sagte: „Im Menschen wohnen zwei Naturen, eine göttliche und eine thierische, — hütet euch, die Bestie im Menschen wach zu rufen, sie wird mit ihren Löwenklauen diejenigen zuerst zerfleischen, die das zu unternehmen wagen!“ Das sagesich Ihnen auch: hüten Sie sich, Christlich-Soziale draußen, die Bestie wilder Leidenschaft in Volksmassen wach zu rufen! Vor der Geistlichkeit werden sie nicht stehen bleiben, mit den Herren werden sie sehr bald fertig werden. (Unruhe und Bewegung.)

Meine Herren, ich weiß sehr wohl, der Kopf, die Hand des Reichskanzlers ist ja nirgends sichtbar in dieser Bewegung; ich bin auch weit entfernt davon, den Herren am Ministertisch irgend eine direkte oder indirekte Beziehung zu dieser antisemitischen Bewegnng nachzuweisen oder vorzuwerfen. Aber das, was wir sehen, ist, daß diejenigen, die man so nennt, die sich selbst so nennen, die Leute des Kanzlers überall dabei sind, von Moritz Busch an und von der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung und ihren Hintermännern in der nächsten Umgebung des Kanzlers, einschließlich des Herrn v. Treitschkel (Oho! rechts.)

Alle die Freiwilligen sind überall bei der antisemitischen Bewegung, und wenn der Reichskanzler selbst damit nichts zu thun hat, ja, wenn er die Bewegung selbst verabscheut — das schlimmste ist, man glaubt es nicht im Lande, das schlimmste ist, daß diese antisemitische Bewegung überall den Namen des Reichskanzlers mit herumträgt; nicht ohne Absicht hat sie an ihn die Petition gerichtet. Zugeflüstert wird überall: der Reichskanzler muß jetzt noch bei Seite stehen, jetzt ist die Sache noch nicht so weit, — bei der Agitation gegen den Freihandel war es ja im Anfänge auch nicht so — aber wenn erst Petitionen mit einer Million Unterschriften vorliegen, wenn erst die Bewegung organisirt ist, wenn man dann an den Reichskanzler kommt, dann wird er auf die Sache eingehen, vielleicht mit anderen Herren als jene, die jetzt am Ministertisch sitzen. Darum laßt Euch darin nicht irre machen, sammelt nur immer Unterschriften! Das sprechen die Leute und wühlen im Lande, und deshalb ist es von einer so besonderen Wichtigkeit, daß überall klar hervortritt, daß auch nicht der entfernteste Zusammenhang zwischen dem Reichskanzler und der antisemitischen Bewegung vorhanden ist. Ja, meine Herren, woher würde sich sonst die Dreistigkeit dieser Leute erklären? Haben denn irgendwie diese Leute, die unter dem Aufrufe stehen, sich sonst im öffentlichen Leben so besonders muthig und begeistert gezeigt, sind sie sonst irgendwo jemals für öffentliche Sachen in derselben Weise hervorgetreten? Im Augenblick liegt mir ein Schimpfbrief vor, den Professor Brecher gerichtet hat an ein Mitglied der Stadtverordnetenversammlung, obgleich ihn die Verhandlung dort nichts angeht; sie schicken überall Kartellträger herum gegen diejenigen, die die Herren bei Namen nennen; sie haben die Dreistigkeit, sich an Landräthe, Bürgermeister, Superintendenten zu wenden mit ihren Petitionen. Woher soll diese Dreistigkeit kommen, wenn sie nicht die Ueberzeugung hätten, sie thäten dem Reichskanzler einen Gefallen? Eben um der Regierung eine Gelegenheit zu bieten, sich darüber auszusprechen, wie sie dazu steht, einschließlich des Reichskanzlers, das ist der Grund, weshalb wir die Interpellation gestellt haben, und wir freuen uns des Erfolges und wünschen, daß im ganzen Lande von nun an eine kräftige Reaktion diese antisemitische Bewegung niederschlägt, die wahrlich nicht zur Ehre und zur Zier unseres Landes gereicht. (Bravo! links, Zischen rechts.)



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die auch als Beilage der von Eugen Richter herausgegebenen
"Freisinnigen Zeitung" erschienen:


 












 

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