Politisches ABC=Buch
9. Auflage, 1898
Assessorenparagraph. [S.31] In
Verbindung mit einer anderweitigen Regelung
der
Richtergehälter, der Einführung von
Dienstalterszulagen anstelle der bisherigen
Durchschnittssätze mit Minimal- und
Maximalgehältern, wurde 1896 in einem dem
preußischen
Abgeordnetenhause vorgelegten Gesetzentwurf
bestimmt, daß die Ernennung der
Gerichtsassessoren nach Maßgabe des
für den höheren Justizdienst
bestehenden
Bedarfs erfolgen soll. Die Referendarien,
welche die große Staatsprüfung
bestanden haben, aber demzufolge nicht zu
Gerichtsassessoren ernannt werden, sollten
befugt sein, den Titel „Assessor“ zu
führen, aber mit der Zustellung des
Zeugnisses über die bestandene
Prüfung aus dem Justiz dienst
ausscheiden.
Bisher dagegen wurde jeder Referendar, welcher
die zweite Prüfung bestanden
hatte, zum Gerichtsassessor ernannt. Wenn er
alsdann auch keinen Rechtsanspruch
besaß auf die spätere Ernennung zum
Land- oder Amtsrichter, so wurde doch
thatsächlich mit ganz geringen Ausnahmen
jeder Gerichtsassessor nach einer
Anzahl von Jahren in eine solche
etatsmäßige Stelle befördert.
Nunmehr sollten
trotz des Nachweises der wissenschaftlichen
Befähigung und einer von groben
disciplinarischen
Verstößen freien Dienstführung
diejenigen Referendarien nicht zu
Gerichtsassessoren ernannt werden, welche
„nicht die Gewähr bieten, daß sie
dasjenige Maß von praktischer
Lebenserfahrung, von Takt und Umsicht und von
Unabhängigkeit gegenüber ihrer
Umgebung besitzen, welches als Voraussetzung
einer gedeihlichen, das Ansehen der
Rechtspflege fördernden Ausübung des
Richteramts
erfordert werden muß.“
Mit dem Recht, hiernach
eine Auswahl zu treffen, war jeder
Willkür der Justizverwaltung in Bezug
auf Aufnahme und Ausschließung
bestimmter
Personen vom Richterstande Thür und
Thor geöffnet. Es greift alsdann
dasjenige
diskretionäre Ermessen Platz, welches
gegenwärtig schon obwaltet bei der
Zulassung
zur Offizierslaufbahn. Man weist alsdann
vielleicht hier und dort Personen
zurück, weil die Eltern des Assessors
dem Präsidenten nicht ge-[S.32]-fallen
oder der junge
Maun nicht genügend salonfähig
erscheint oder auch weil dem
Präsidenten sonst
die Nase nicht gefällt.
Der Paragraph wurde im
Abgeordnetenhause mit 179 gegen 166
Stimmen und, als ihn dass Herrenhaus
wiederherstellte, mit 201 gegen 170
Stimmen verworfen. Für denselben
stimmten die beiden konservativen
Fraktionen,
gegen denselben das gesammte übrige
Haus. Auch ein Antrag des national-liberalen
Abg. Schmieding wurde verworfen, welcher die
Justizverwaltung ermächtigen
wollte, im Zeitpunkt der Annahme der
Referendarien eine Aussonderung
vorzunehmen. Die Zulassung sollte erfolgen
nach Maßgabe deß Bedarfs, und
„in
der Regel“ nach der Reihenfolge der
Meldungen. — Im Jahre 1897 kam ein Gesetz
über die Regelung der
Richtergehälter zustande ohne einen
solchen
Assessorenparagraphen.
Die Verhandlungen im
Herrenhause am 20. Mai 1896 über den
Assessorenparagraphen haben ein grelles
Schlaglicht auf die Richtung geworfen,
welche jener Paragraph anstrebte. In dieser
Sitzung des Herrenhauses führte der
Kammergerichtspräsident Drenkmann, also
der Präsident des obersten
preußischen
Gerichtshof, aus, daß die Auswahl
unter den Geprüften würde zu
vollziehen sein
nicht nur nach den Gesichtspunkten der
Intelligenz und der Moralität, sondern
auch nach der durch die gesellschaftliche
Stellung der Richter gebotenen
Rücksicht. Das gesellschaftliche
Ansehen des Richters sei zur Zeit im Sinken
begriffen. Herr Drenkmann fuhr dann weiter
fort:
„Der Grund für diese
besorgliche Erscheinung ist zunächst
der, daß die Söhne der besten
Familien dem Richtersiande den Rücken
kehren. Sie
finden ja zunächst nur Aussicht auf
Verwendung in abgelegenen, jedes Comsorts
entbehrenden Orten. Nur sehr schwierig und
spät wird ein Teil von ihnen zu
Oberlandesgerichtsräten mit einem wenig
auskömmlichen Gehalt befördert.
Die
meisten bleiben Zeit ihres Lebens Amts- oder
Landrichter; nur die Hälfte erhält
im Laufe der Zeit den Rang eines Rates
vierter Klasse. Ist es da ein Wunder,
daß die jungen Leute aus den besten
Familien eine bessere und glänzendere
Stellung erstreben durch Uebergang zu einer
anderen Verwaltung? Dazu kommt, daß
vielen von ihnen es ihre Mittel nicht
erlauben, die lange Wartezeit auszuhalten.
Die Folge ist, daß der Richterstand
sich auch aus minderwertigen Elementen mit
rekrutirt.“
Präsident Drenkmann
wollte also nicht etwa eine Hebung des
gesammten Richterstandes im Gehalt, eine
Beförderung in der Rangstellung,
sondern nur eine Verbesserung der Lage der
Söhne „aus den besten Familien.“
Wenn künftig die Ernennung sich nicht
mehr in der Hauptsache nach dem
Dienstalter des Assessors zu richten
brauchte, so könnten danach diejenigen,
welche Gnade vor der Justizverwaltung
finden, um so rascher zur
etatsmäßigen
Anstellung als Richter gelangen. Herr
Drenkmann will die „besten Familien“
durch Bevorzugung ihrer Sprossen dem
Richterstande zuführen; die Familien
sollen maßgebend sein, nicht allein
die Persönlichkeit des
Gerichtsassessors.
Aber die Familie sitzt bekanntlich nicht zu
Gericht, sondern die individuelle
Persönlichkeit. Intelligenz und
Moralität, so führte Herr
Drenkmann aus,
dürften aber für die Ernennung zum
Richter nicht allein entscheiden,
hinzukommen
müsse u. a. die durch die
gesellschaftliche Stellung des Richters
gebotene
Sicherheit des Auftretens. Nach Herrn
Drenkmann kommt es darauf an, möglichst
eine besondere Kaste von Richtern zu
züchten, zu deren Gunsten alle
„minderwertigen
Elemente“ auszuscheiden sind. Zu solchen
minderwertigen Elementen rechnet Herr
Drenkmann also auch diejenigen, welche nicht
„ein der äußeren Stellung des
Richters entsprechendes sicheres Auftreten [S.33]
haben.“ Das ist offenbar eine
Umschreibung für das jetzt so hoch
gepriesene Erfordernis der Schneidigkeit.
Präsident Drenkmann
erklärte auch noch u. a.: „Ich bin
nicht
der Ansicht, daß bei Annahme der
Paragraphen bestimmte Gesellschaftsklassen
vom
Richterberufe ganz ausgeschlossen werden
sollen. Ich für meine Person will auch
nicht eine Konfession grundsätzlich
ausschließen.“ Also „ganz“ und
„grundsätzlich“
sollten bestimmte Gesellschaftsklassen und
Konfessionen nicht ausgeschlossen
werden. Das erinnert an den
Konzessions-Schulze im Offizierkorps (s.
unter „Adel“.)
Es giebt gewisse Regimenter, welche sich
gegen Offiziere mit bürgerlichem Namen
nach Möglichkeit abschließen,
dabei aber sich doch für verpflichtet
halten,
einen einzelnen bürgerlichen Offizier,
den sogenannten Konzessions-Schulze
zuzulassen.
Bezeichnend für
das Verhältnis der Konservativen zu
den
Bauern ist es, daß trotz der
gepriesenen Bauernfreundlichkeit nur in
ganz
vereinzelten Fällen Bauern mit Hilfe
der Konservativen in den Reichstag oder
Landtag gewählt werden. Die Mehrzahl
der bäuerlichen Vertreter in den
Parlamenten gehört anderen Parteien
an. Auch die Ablehnung der Einführung
von
Reichstagsdiäten Seitens der
Konservativen (s. „Diäten“) ist ein
Mittel, die
Bauern aus dem Reichstage fernzuhalten.
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