Eugen Richter
1838-1906









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Politisches ABC=Buch
9. Auflage, 1898

 
 

Assessorenparagraph. [S.31] In Verbindung mit einer anderweitigen Regelung der Richtergehälter, der Einführung von Dienstalterszulagen anstelle der bisherigen Durchschnittssätze mit Minimal- und Maximalgehältern, wurde 1896 in einem dem preußischen Abgeordnetenhause vorgelegten Gesetzentwurf bestimmt, daß die Ernennung der Gerichtsassessoren nach Maßgabe des für den höheren Justizdienst bestehenden Bedarfs erfolgen soll. Die Referendarien, welche die große Staatsprüfung bestanden haben, aber demzufolge nicht zu Gerichtsassessoren ernannt werden, sollten befugt sein, den Titel „Assessor“ zu führen, aber mit der Zustellung des Zeugnisses über die bestandene Prüfung aus dem Justiz dienst ausscheiden. Bisher dagegen wurde jeder Referendar, welcher die zweite Prüfung bestanden hatte, zum Gerichtsassessor ernannt. Wenn er alsdann auch keinen Rechtsanspruch besaß auf die spätere Ernennung zum Land- oder Amtsrichter, so wurde doch thatsächlich mit ganz geringen Ausnahmen jeder Gerichtsassessor nach einer Anzahl von Jahren in eine solche etatsmäßige Stelle befördert. Nunmehr sollten trotz des Nachweises der wissenschaftlichen Befähigung und einer von groben disciplinarischen Verstößen freien Dienstführung diejenigen Referendarien nicht zu Gerichtsassessoren ernannt werden, welche „nicht die Gewähr bieten, daß sie dasjenige Maß von praktischer Lebenserfahrung, von Takt und Umsicht und von Unabhängigkeit gegenüber ihrer Umgebung besitzen, welches als Voraussetzung einer gedeihlichen, das Ansehen der Rechtspflege fördernden Ausübung des Richteramts erfordert werden muß.“

Mit dem Recht, hiernach eine Auswahl zu treffen, war jeder Willkür der Justizverwaltung in Bezug auf Aufnahme und Ausschließung bestimmter Personen vom Richterstande Thür und Thor geöffnet. Es greift alsdann dasjenige diskretionäre Ermessen Platz, welches gegenwärtig schon obwaltet bei der Zulassung zur Offizierslaufbahn. Man weist alsdann vielleicht hier und dort Personen zurück, weil die Eltern des Assessors dem Präsidenten nicht ge-[S.32]-fallen oder der junge Maun nicht genügend salonfähig erscheint oder auch weil dem Präsidenten sonst die Nase nicht gefällt.

Der Paragraph wurde im Abgeordnetenhause mit 179 gegen 166 Stimmen und, als ihn dass Herrenhaus wiederherstellte, mit 201 gegen 170 Stimmen verworfen. Für denselben stimmten die beiden konservativen Fraktionen, gegen denselben das gesammte übrige Haus. Auch ein Antrag des national-liberalen Abg. Schmieding wurde verworfen, welcher die Justizverwaltung ermächtigen wollte, im Zeitpunkt der Annahme der Referendarien eine Aussonderung vorzunehmen. Die Zulassung sollte erfolgen nach Maßgabe deß Bedarfs, und „in der Regel“ nach der Reihenfolge der Meldungen. — Im Jahre 1897 kam ein Gesetz über die Regelung der Richtergehälter zustande ohne einen solchen Assessorenparagraphen.

Die Verhandlungen im Herrenhause am 20. Mai 1896 über den Assessorenparagraphen haben ein grelles Schlaglicht auf die Richtung geworfen, welche jener Paragraph anstrebte. In dieser Sitzung des Herrenhauses führte der Kammergerichtspräsident Drenkmann, also der Präsident des obersten preußischen Gerichtshof, aus, daß die Auswahl unter den Geprüften würde zu vollziehen sein nicht nur nach den Gesichtspunkten der Intelligenz und der Moralität, sondern auch nach der durch die gesellschaftliche Stellung der Richter gebotenen Rücksicht. Das gesellschaftliche Ansehen des Richters sei zur Zeit im Sinken begriffen. Herr Drenkmann fuhr dann weiter fort: 

„Der Grund für diese besorgliche Erscheinung ist zunächst der, daß die Söhne der besten Familien dem Richtersiande den Rücken kehren. Sie finden ja zunächst nur Aussicht auf Verwendung in abgelegenen, jedes Comsorts entbehrenden Orten. Nur sehr schwierig und spät wird ein Teil von ihnen zu Oberlandesgerichtsräten mit einem wenig auskömmlichen Gehalt befördert. Die meisten bleiben Zeit ihres Lebens Amts- oder Landrichter; nur die Hälfte erhält im Laufe der Zeit den Rang eines Rates vierter Klasse. Ist es da ein Wunder, daß die jungen Leute aus den besten Familien eine bessere und glänzendere Stellung erstreben durch Uebergang zu einer anderen Verwaltung? Dazu kommt, daß vielen von ihnen es ihre Mittel nicht erlauben, die lange Wartezeit auszuhalten. Die Folge ist, daß der Richterstand sich auch aus minderwertigen Elementen mit rekrutirt.“ 

Präsident Drenkmann wollte also nicht etwa eine Hebung des gesammten Richterstandes im Gehalt, eine Beförderung in der Rangstellung, sondern nur eine Verbesserung der Lage der Söhne „aus den besten Familien.“ Wenn künftig die Ernennung sich nicht mehr in der Hauptsache nach dem Dienstalter des Assessors zu richten brauchte, so könnten danach diejenigen, welche Gnade vor der Justizverwaltung finden, um so rascher zur etatsmäßigen Anstellung als Richter gelangen. Herr Drenkmann will die „besten Familien“ durch Bevorzugung ihrer Sprossen dem Richterstande zuführen; die Familien sollen maßgebend sein, nicht allein die Persönlichkeit des Gerichtsassessors. Aber die Familie sitzt bekanntlich nicht zu Gericht, sondern die individuelle Persönlichkeit. Intelligenz und Moralität, so führte Herr Drenkmann aus, dürften aber für die Ernennung zum Richter nicht allein entscheiden, hinzukommen müsse u. a. die durch die gesellschaftliche Stellung des Richters gebotene Sicherheit des Auftretens. Nach Herrn Drenkmann kommt es darauf an, möglichst eine besondere Kaste von Richtern zu züchten, zu deren Gunsten alle „minderwertigen Elemente“ auszuscheiden sind. Zu solchen minderwertigen Elementen rechnet Herr Drenkmann also auch diejenigen, welche nicht „ein der äußeren Stellung des Richters entsprechendes sicheres Auftreten [S.33] haben.“ Das ist offenbar eine Umschreibung für das jetzt so hoch gepriesene Erfordernis der Schneidigkeit.

Präsident Drenkmann erklärte auch noch u. a.: „Ich bin nicht der Ansicht, daß bei Annahme der Paragraphen bestimmte Gesellschaftsklassen vom Richterberufe ganz ausgeschlossen werden sollen. Ich für meine Person will auch nicht eine Konfession grundsätzlich ausschließen.“ Also „ganz“ und „grundsätzlich“ sollten bestimmte Gesellschaftsklassen und Konfessionen nicht ausgeschlossen werden. Das erinnert an den Konzessions-Schulze im Offizierkorps (s. unter „Adel“.) Es giebt gewisse Regimenter, welche sich gegen Offiziere mit bürgerlichem Namen nach Möglichkeit abschließen, dabei aber sich doch für verpflichtet halten, einen einzelnen bürgerlichen Offizier, den sogenannten Konzessions-Schulze zuzulassen.

Bezeichnend für das Verhältnis der Konservativen zu den Bauern ist es, daß trotz der gepriesenen Bauernfreundlichkeit nur in ganz vereinzelten Fällen Bauern mit Hilfe der Konservativen in den Reichstag oder Landtag gewählt werden. Die Mehrzahl der bäuerlichen Vertreter in den Parlamenten gehört anderen Parteien an. Auch die Ablehnung der Einführung von Reichstagsdiäten Seitens der Konservativen (s. „Diäten“) ist ein Mittel, die Bauern aus dem Reichstage fernzuhalten.