Eugen Richter
1838-1906









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Politisches ABC=Buch
9. Auflage, 1898

 
 

Bauern. [S.36] Die Konservativen suchen den Bauern oder den mittleren und kleinen Landwirten gern einzureden, daß ihre politischen Ziele und wirtschaftlichen Interessen durchweg mit denen der konservativen Großgrundbesitzer übereinstimmen. In Wahrheit decken sich die bäuerlichen Interessen nur mit einer liberalen Richtung der Gesetzgebung. Der Bauernstand verdankt seine Befreiung von der Erbunterthänigkeit, den Frohndiensten, der gutsherrlichen Polizei, sowie seinen freien Besitz der liberalen Gesetzgebung, wie sich dieselbe zu Anfang dieses Jahrhunderts seit Stein und Hardenberg unter dem heftigen Widerspruch der Junker allmählich entwickelt hat. Die Herren v. d. Marwitz und Konsorten mußte deshalb König Friedrich Wilhelm lll. seiner Zeit auf die Festung Spandau schicken. Das Jahr 1848 hat erst das Jagdrecht auf fremdem Grund und Boden aufgehoben und die Ablösbarkeit der Reallasten vollständig durchgeführt.

Die Freisinnige Volkspartei hat ihre Bestrebungen zur Förderung der Landwirtschaft und insbesondere der Bauern auf dem Parteitag in Nürnberg am 14. September 1897 in nachfolgender Resolution zusammengefaßt: „Der Parteitag der Freisinnigen Volkspartei, durchdrungen von der Bedeutung der deutschen Landwirtschaft für Produktion und Konsumtion des Volkes und in Anerkennung der Schwierigkeiten bei den durch veränderte Verhältnisse mehrfach gebotenen Umgestaltungen der Betriebsweise erstrebt die energische Förderung der Landwirtschaft durch Zusammenwirken der Gesetzgebung und Verwaltung im Reich und in den Einzelstaaten und aller übrigen Kräfte des öffentlichen Lebens. Insbesondere wird sich die Freisinnige Volkspartei angelegen sein lassen: 1. Vermehrung des mittleren und kleineren bäuerlichen Besitzes, Ansiedelung von möglichst viel Arbeitskräften, Abschaffung der Fideikommisse, Ueberlassung von Domänen zur innerer Kolonisation; 2. Berechtigung zur freien Veräußerung, Vererbung, Teilung und Zusammenlegung des Grundeigentums, keine Anerbenrechte und Höferollen zum Nachteile nachgeborener Geschwister; 3. Förderung von Landesmeliorationen durch die Gesetzgebung und durch Beihilfen aus öffentlichen Mitteln, insbesondere auch für eine rationelle Wasserwirtschaft, Schutz gegen Hochwasser, Regulierung der öffentlichen Ströme und der Gebirgsflüsse; 4. Pflege, Schutz und Erhaltung des Waldes; Aufforstung der geeigneten im Staatsbesitz befindlichen Parzellen; möglichste Berücksichtigung der Interessen der Landwirtschaft bei Streuabgabe unter Mitwirkung der beteiligten landwirtschaftlichen Organe; 5. Gestaltung des Jagdrechts und der Wildschaden-[S.37]-gesetzgebung im Interesse des Schutzes der landtwirtschaftlichen Kulturen, insbesondere durch Einhegung des Hochwildes und ein einfaches Schadenersatzverfahren vor unparteiischen Behörden. Die Jagdbezirke sind nicht größer als notwendig zu bemessen und die Jagdscheingebühren möglichst niedrig zu setzen; 6. Pflege des landwirtschaftlichen Genossenschastswesens auf der Grundlage der Selbsthilfe, insbesondere zum Bezuge der landwirtschaftlichen Betriebsstoffe, sowie zur Verarbeitung und Verwertung der landwirtschaftlichen Erzeugnisse; 7. Hebung der Viehzucht und Viehhaltung, weitere Ausbildung der Seuchengesetzgebung und des Versicherungswesens gegen Seuchengefahr, Freibanken bei Kommunen mit Schlachthausbetrieb; 8. Vermehrung der landwirtschaftlichen Fachschulen und Fortbildungsschulen, Prämiirung des Versuchswesens; 9. Förderung des Wegebaues, Entwickelung des Nebenbahn- und Kleinbahnwesens, aber ohne Bevorzugung von Einzelinteressen, Herstellung neuer, auch der Landwirtschaft nutzbar zu machender Wasserstraßen, billige Tarife für die Zufuhr von Dung- und Futtermitteln und für den Absatz landwirtschaftlicher Erzeugnisse, in der Personenbeförderung Ermäßigung der Fahrpreise dritter Klasse auf die Sätze der bisherigen, künftig in Fortfall zu bringenden vierten Klasse; 10. Förderung und Erleichterung des Verkehrs auf öffentlichen Märkten und Börsen in Erzeugnissen der Landwirtschaft behufs größtmöglicher Benutzung dieser Anstalten und einer sachgemäßen Preisbildung im Handel, zur Unterstützung der letzteren rasche und zuverlässige Aufnahme und Veröffentlichung der Statistik über den Umfang von Produktion und Umsatz: 11. Zeitgemäße Regelung der Rechtsverhältnisse der in Hans- und Landwirthschaft beschäftigten Personen; 12. Beseitigung der kommunalen und staatlichen Privilegien des Großgrundbesitzes, Zusammenlegung von Gutsbezirken und Landgemeinden und, wo solche nicht ausführbar, Beseitigung jeder unberechtigten Sonderstellung der Gutsbezirke, insbesondere in der Verteilung der Schul-, Armen- und Wegebaulasten; 13. Selbstverwaltung der Landgemeinden nach dem Recht der Städte, insbesondere auch Wahrnehmung der Polizeiverwaltung durch die Gemeindevorsteher; 14. Einführung des direkten und geheimen Wahlrechts bei den Wahlen zu den Landwirtschaftskammern; 15. Beschränkung der Realsteuern aus die Schadloshaltnng des Gemeinwesens für die öffentlichen Einrichtungen zum besonderen Vorteil des Grund- und Hausbesitzes, angemessene Entschädigung für Einquartierung und Vorspannleistungen; 16. Beseitigung der Liebesgaben für die Brennereien und der Ausfuhrprämien für Zucker und damit Fortfall der Erschwerungen aus der Steuergesetzgebung für die Anlage neuer Brennereien und für die Ausdehnung der Rübenkultur, Verwendung der bisherigen Aufwendungen für Liebesgaben und Prämien zur Aufhebung der Maischraumsteuer und zur Ermäßigung der Zuckersteuer; 17. Bei der Neugestaltung der Handelsverträge und Zolltarife möglichste Berücksichtigung auch der landwirtschaftlichen Ausfuhrartikel und im Falle der Herabsetzung von Einfuhrzöllen auch gleichzeitig Entlastung der Verbrauchsgegenstände der Landwirtschaft von Zöllen und Steuern.

In sehr vielen hier angeführten Punkten bekämpfen die Konservativen und Antisemiten diese Bestrebungen. So bekämpften die Konservativen im Abgeordnetenhause die neue Landgemeindeordnung für die östlichen Provinzen, obwohl erst [S.38] durch dieselbe ein klares, gemeinverständliches Gemeinderecht für das platte Land in den östlichen Provinzen eingeführt worden ist. Entgegen den Freisinnigen bekämpften die Konservativen die Einführung der geheimen Abstimmung bei den Gemeindewahlen, obwohl erst hierdurch namentlich auf dem platten Lande die Wahlfreiheit gesichert erscheint. Im Herrenhause wollten die Konservativen sogar lebenslängliche Gemeindevorsteher einführen. (Siehe „Landgemeindeordnung“.)

Die Konservativen haben die von den Freisinnigen beantragte Einhegung des Rot- und Damwildes zum Schutz der Bauernäcker bekämpft und ebenso entschieden sich gegen eine Schadenersatzpflicht der Forstbesitzer für das aus den Forsten auf die Fluren der Landgemeinden übertretende Hochwild erklärt.

Die große Mehrzahl der Konservativen hat im Juli 1895 für die neue Erhöhung der Jagdscheingebühr auf 15 Mark gestimmt, obgleich dadurch gerade der bäuerlichen Bevölkerung die Ausübung der Jagd erschwert und durch Verminderung der Zahl der Jäger der Schutz der Aecker gegen daß Wild vermindert wird.

Die Freisinnigen sind für die Einschränkung der Polizeiwillkür, während die Konservativen die Befugnisse der Polizei nicht genug erweitern können, freilich in der Voraussetzung, daß sie selbst oder ihre Freunde und Vettern allein berufen werden, die Polizeigewalt zu handhaben.

Siehe auch „Anerbenrecht“, „Fideikommisse“, „Getreidezölle“, „Heimstätten“, „Landwirtschaft“, „Landwirtschaftskammern“, „Rentengüter“, „Viehzucht“, „Wildschaden“.

Bezeichnend für das Verhältnis der Konservativen zu den Bauern ist es, daß trotz der gepriesenen Bauernfreundlichkeit nur in ganz vereinzelten Fällen Bauern mit Hilfe der Konservativen in den Reichstag oder Landtag gewählt werden. Die Mehrzahl der bäuerlichen Vertreter in den Parlamenten gehört anderen Parteien an. Auch die Ablehnung der Einführung von Reichstagsdiäten Seitens der Konservativen (s. „Diäten“) ist ein Mittel, die Bauern aus dem Reichstage fernzuhalten.